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Der "Stille Weltkrieg" und die linke Schockstarre

Hintergründe zu den Ursachen des IS-Terrors und Überlegungen zu linken Reaktionen - Teil II

Die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten erscheinen nur bei oberflächlicher Betrachtung als regionaler Konflikt. Wie ich in Teil 1 "Der Terror der IS: Ideologie, Akteure und Faktoren" [1] dargestellt habe, existiert in Wirklichkeit eine Vielzahl regionaler und internationaler Kräfte, die das Geschehen von außen und innen zu bestimmen versuchen. Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Auseinandersetzungen in Syrien, Irak und Rojava tatsächlich als "stiller Weltkrieg" mit regionalem Schwerpunkt. Doch auch wenn die hauptsächliche Wucht des Krieges die Bevölkerung im Nahen Osten trifft, hinterlassen seine Auswirkungen weltweit ihre Spuren, auch in Europa und Deutschland, wie der Aufstieg des Islamismus zeigt. Es ist entscheidend, dass die Linke die beteiligten Akteure und Interessen nicht nur kennt, sondern dass sie sich in diesen Auseinandersetzungen bewusst verhält, wenn sie sich nicht in einer Front mit falschen Freunden wiederfinden will.

Im Folgenden werde ich mich vor allem mit der Haltung der Linken zu Islamismus und Rassismus beschäftigen, wobei ich sowohl den deutschen als auch migrantischen Rassismus behandeln werde. Ich habe diesen Schwerpunkt gesetzt, weil ich den Eindruck habe, dass sich die deutsche Linke zu diesen Themen überwiegend nicht verhält, mit zweierlei Maß misst oder in Widersprüchen verwickelt, die auf blinde Flecken in der Theorie zurückzuführen sind und auf ideologische Verdrängung. Anregungen zu einem freiheitlichen und solidarischen Widerstand gegen die Macht- und Wirtschaftsinteressen der hiesigen Eliten enthält der Text weniger - nicht, weil diese Diskussionen nicht ebenfalls wichtig wären, sondern weil Auseinandersetzungen hierüber bereits stattfinden.

Bevor es aber möglich ist, die Haltung der deutschen Linken zum Islamismus zu bestimmten, halte ich es für sinnvoll, den politischen Islam in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zunächst genauer ins Auge zu fassen.

Der moderate, politische und radikale Islam und ihre Haltung zum IS

Der Islam ist eine Religion, die von verschiedenen muslimischen Gruppen unterschiedlich interpretiert und praktiziert wird. In der islamischen Gesellschaft gibt es zahlreiche unterschiedliche Gruppierungen und Sekten, die sich ideologisch jedoch alle auf dieselben Quellen beziehen: den Koran, die Sunna und Hadithen. Wie kann es sein, dass ein Sufist (friedlicher mystischer Islam), ein Alevit und ein Salafist an den gleichen Gott (Allah) glauben?

Es gibt einen nur schwer zu lösender Grundwiderspruch zwischen einer Ideologie oder Religion mit Absolutheitsanspruch und dem Versuch, eine freiheitliche und solidarische Gesellschaft aufzubauen, in der viele Lebensweisen und Weltanschauungen Platz haben. Das unvollendete Projekt der Aufklärung zeichnete sich deshalb unter anderem dadurch aus, den Menschen als selbstbestimmtes Wesen vom Zwang religiöser Dogmen zu befreien. Bei der Bestimmung politischer Fragen und Institutionen sollte deshalb die Orientierung an religiösen Dogmen außen vor bleiben. Religion und der Aufbau der gesellschaftlichen Organisation müssen bewusst voneinander getrennt werden.

Ein in diesem Sinne aufgeklärtes religiöses Selbstverständnis bedeutet also, den Absolutheitsanspruch des Glaubens gegenüber Andersdenkenden (und Andersgläubigen) zurückzustellen und die Existenz anderer Glaubensrichtungen als ebenfalls legitim anzuerkennen. Für aufgeklärte Religionen, die dieses Prinzip verinnerlicht haben, kann und sollte auch in einer freien Gesellschaft durchaus Platz sein. Freiheitliche Bewegungen müssen diese Forderung aber an sämtliche Religionen richten und die reaktionären Inhalte von Religionen kritisieren.

Es ist also klar, dass auch Muslime mittelalterliche Ideen und Handlungen strikt ablehnen müssen. Muslime sollten sich primär für einen zeitgenössischen Islam aussprechen und nicht dafür, dass Ungläubige zum Islam konvertieren. Tun sie das? Diejenigen Muslime, die friedlich leben und an einen Gott glauben, der alle Menschen gleich behandelt und Nächstenliebe und Toleranz als Werte in den Mittelpunkt stellen, tun dies. Sie lehnen die radikale Auslegung des Islam ab, distanzieren sich von dem Terror und politisieren ihren Glauben nicht. Wie die Gruppe Antikapitalistischer Muslime in der Türkei, die sich sowohl gegen den moderaten als auch den radikalen politischen Islam ausspricht. Oder die jungen muslimischen Menschen, die über soziale Medien ihre Ablehnung gegenüber den Taten der radikalen Muslime kundtun. Aber sie sind eine Minderheit. Ihre positive Auslegung des Islam hat nur sehr begrenzten Einfluss und sie sind und waren immer Opfer des dominanten, orthodoxen sunnitischen und schiitischen Islam. Die Mehrheit der Muslime vertritt diesen moderaten oder radikalen politischen Islam.

Moderater politischer Islam

Die Vertreter des moderaten politischen Islam sind in vielen Staaten an der Macht und in der ganzen Welt durch Moscheen, Vereine, Schulen oder Hilfsorganisationen vertreten. Sie missbrauchen diese formal demokratischen Strukturen um ihre Ideologie zu verbreiten.

Dabei ist es eine typische Strategie des moderaten politischen Islam, sich als friedlich zu erklären und zu betonen, dass es im Islam keinen Zwang gebe und man eine tolerante Religion praktiziere, die alle anderen Religionen und Minderheiten respektiere. Ein Beispiel für dieses Verhalten waren die Demonstrationen am 19. September, an denen sich mehrere islamische Vereine beteiligten, um sich einerseits von ISIS abzugrenzen, andererseits Islamophobie und Angriffe auf Moscheen zu kritisieren. Es bleibt jedoch der begründete Verdacht, dass die Distanzierung vom IS unter dem Druck öffentlicher Kritik nur pro forma stattfand, denn für viele Vereine war es ein einmaliges Abweichen von ihrer sonstigen Haltung.

In der Praxis ist der moderate politische Islam häufig die Basis der Fundamentalisten. Er betreibt eine Opferpolitik, innerhalb derer er sich zum Verfolgten aller nicht muslimischen Gruppen (Christen, Juden, Buddhisten, Atheisten usw.) stilisiert, die ihn vernichten wollten. Mit dieser Politik gelingt es den moderaten Islamisten, große Mengen zu mobilisieren und rassistische und fundamentalistische Taten propagandistisch zu rechtfertigen. Der IS-Terror wird von ihnen so als Widerstand gegen Unterdrückung und Islamfeindlichkeit erklärt und positiv dargestellt. Ohne diese Politik und Basis könnten der Salafismus oder andere fundamentalistische Ideen nie überleben. Die vielen Salafisten, die für den Gotteskrieg in Krisenregionen der ganzen Welt reisen, fallen nicht vom Himmel. Sie haben sich in der Umwelt des moderaten Islam organisiert und von sogenannten friedlichen Muslimen Unterstützung bekommen.

Diese Auslegung des Islam, die auch den Nährboden für die radikaleren Formen stellt, beinhaltet viele diskriminierende Aspekte: Antisemitismus, Antiziganismus, Sexismus, Homophobie und anti-kurdischen Rassismus, Rassismus gegenüber schwarzen Afrikanern und Berbern. Diese Tatsache wurde und wird von der muslimischen Welt jedoch weder thematisiert noch findet eine selbstkritische Auseinandersetzung damit statt. Im Gegenteil legitimierte auch der sogenannte moderate Islam Unterdrückung, Diskriminierung, sowie Massaker und Plünderungen gegen nicht-muslimische und friedliche muslimische Gruppen.

Man darf nicht übersehen, dass der Terror, den wir heute im Irak und in Syrien sehen, nicht nur von ausländischen Salafisten verübt wird, sondern auch von einer Mehrheit der irakischen und syrischen Sunniten. Sie beteiligen sich an dem Genozid der salafistischen Terroristen, sie greifen Minderheiten an, die nicht muslimisch sind oder deren Islamverständnis sie in den Augen der Salafisten zu Ungläubigen macht, wie z.B. Schiiten und sunnitische Kurden. In vielen Städten im Irak gibt es heute Sklavenmärkte, auf denen tausende ezidische, schiitische und christliche Frauen und Mädchen von der sunnitischen Bevölkerung gekauft werden. Das macht deutlich, dass wir es nicht nur mit einem Problem von wenigen Fundamentalisten zu tun haben, sondern mit großen Teilen der muslimischen Gesellschaft.

Die Eziden und Christen, die die Massaker überlebt haben, wollen nicht mehr in das Land zurückkehren, in dem sie seit Tausenden von Jahren gelebt haben und das für sie heilig ist. Sie wurden von ihren eigenen Nachbarn angegriffen und sehen für sich und im Zusammenleben mit der sunnitisch-arabischen Bevölkerung in diesem Gebiet keine Zukunft und Sicherheit mehr. Und diese Geschichten erleben wir nicht nur in Syrien und dem Irak. In allen muslimischen Gesellschaften kann man Diskriminierungen wie diese sehen.

Als Kurden in Solidarität mit Kobanê in der Türkei auf die Straße gegangen sind, wurden sie von fundamentalistischen und auch nationalistischen Menschen, aber auch von Menschen, die wir als einfache Bürger bezeichnen würden, mit Messern, Äxten, Schwertern und Schusswaffen bedroht und gejagt. Diese haben - oftmals zusammen mit Polizisten - Parolen wie "Es lebe ISIS" gerufen und töteten in zwei Tagen über 40 Kurden. Auch in der Bundesrepublik gab es solche Vorfälle, bei denen Islamisten prokurdische Demonstrationen und kurdische bzw. ezidische Geschäfte und Vereine angriffen. Ihre Botschaft war: Wir werden euch nochmal massakrieren.

Es fällt auf, dass Millionen von Muslimen, die wegen einer dummen, rassistischen Karikatur Mohammeds auf die Straße gingen, sich gegenüber den aktuellen Massakern still verhalten oder darin einen legitimen Aufstand gegen US-amerikanischen Imperialismus oder schiitische Unterdrückung sehen. Auch in Deutschland haben viele muslimische Gruppen, die sich hier zu Recht von antimuslimischem Rassismus betroffen und diskriminiert fühlen, diesen Terror nicht offen und vehement angeprangert.

Eine der wenigen Kampagnen gegen den IS-Terror wurde von jungen Muslimen über Facebook und YouTube unter dem Motto "#not in my name" initiiert. Sie wurde von unterschiedlichen Vertretern des moderaten Islam kritisiert. Auf die Frage, wieso sie sich nicht offen gegen den IS-Terror positionieren, antworten diese häufig, dass dieser sie nicht betreffe und sie sich nicht damit auseinandersetzen müssten. Sie beziehen sich in ihrer Argumentation dabei auf die Deutschen, die sich ebenfalls nicht mit den Taten während der NS-Diktatur auseinandersetzten, oder die katholische Kirche, die sich nicht vehement gegen den Missbrauch an Kindern in ihren eigenen Reihen stelle. Mit dieser schlauen Argumentation, die auf die sehr realen Unterlassungen anderer verweist, offenbaren die moderaten Islamisten zugleich aber ihre wirkliche Position und unterbinden jede weitere Kritik.

Die Methode ist dabei keineswegs fremd. So dient der breite gesellschaftliche Rassismus in Deutschland dem Terror der Nazis zugleich als Basis und als Rechtfertigung. Auch in ihrer eigenen Variante des Opferdiskurses finden die sogenannte Mitte, moderate und äußerste Rechte zusammen. Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass es sich bei diesen Argumentationsformen keineswegs um Spezialitäten des Islamismus handelt. Es handelt sich vielmehr um typische Merkmale reaktionärer Diskurse. Wenn ich sie hier fast ausschließlich am Beispiel des Islamismus aufzeige, tue ich das nicht in der Absicht, den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, den christlichen Fundamentalismus oder andere reaktionäre Ideologien zu verbergen, sondern um Widersprüche und Probleme der Linken im Umgang mit dem Islamismus sichtbar zu machen und zu thematisieren.

Noch ein Beispiel um den Antisemitismus und antikurdischen Rassismus in muslimischen Ländern zu verdeutlichen: Wenn Israel Palästinenser angreift, demonstrieren Muslime auf der ganzen Welt zu Recht gegen den Terror des israelischen Staates. Geht es aber um islamistischen Terror, wie zum Beispiel Selbstmordanschläge auf die jüdische Bevölkerung oder aktuell den Terror des IS, bleiben sie still. Dann spielen dieselben Menschen drei Affen oder unterstützen den Terror.

Wie kann das sein? Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Der Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die Besatzungsmacht des israelischen Staates wird von vielen Muslimen für ihre antisemitische Ideologie instrumentalisiert. Was diese Menschen auf die Straßen treibt, ist der Hass gegen Juden und nicht die Solidarität mit dem unterdrückten palästinensischen Volk. Das zeigt sich auch an den Parolen, die bei diesen Anlässen gerufen werden.

Man muss wissen, dass Antisemitismus in der muslimischen Gesellschaft noch offener präsent ist als in der westlichen Welt. Bis jetzt wird dies unter Muslimen nicht thematisiert. Ebenso wie der antikurdische Rassismus, der in der muslimischen Welt bis heute nicht kritisiert oder als Unterdrückung benannt wird. Als 1989 in Halabdscha durch Saddam Hussein 5.000 Kurden bei einem Giftgasangriff ermordet wurden, gab es keine Reaktion seitens der muslimischen Welt. Selbst die Vertreter der Palästinenser, die von Kurden aktiv unterstützt wurden, sahen Massaker wie in Halabdscha als interne Angelegenheiten des Iraks oder der Türkei. Sehr schmerzhaft war die Unterstützung der antikurdischen Massaker durch palästinensische Flüchtlinge im Irak, die Ende der 1980er Jahre in irakischen Gefängnissen junge kurdische Frauen vergewaltigten und mit ihrem Blut "Freiheit für Palästina" auf die Wände der Gefängnisse schrieben. Die Frauen, die überlebt haben, wurden später als Sexsklavinnen nach Ägypten verkauft.

Dieser Hass gegen Kurden existiert nicht nur in den Ländern, die Kurdistan besetzt halten und die dort lebenden Kurden unterdrücken. Antikurdischen Rassismus gibt es in nordafrikanischen arabischen Ländern, in muslimischen Staaten und bei Gruppen im Kaukasus, in Europa, Asien und an vielen anderen Orten. Er funktioniert wie viele Formen der Diskriminierung: Viele Muslime haben einen tiefen Hass gegen Kurden verinnerlicht, ohne Kurden zu kennen oder Erfahrungen mit ihnen gemacht zu haben - wie in jedem Rassismus und im Antisemitismus werden kollektive Vorurteile unabhängig von deren tatsächlicher Lebensweise und Weltsicht auf andere Menschen projiziert. Dieser Hass wurde dann mit der Verbreitung des Islam auch an anderen Orten eingeführt.1 [2]

Obwohl die Mehrheit der Kurden Muslime sind und in der islamischen Geschichte zahlreiche bekannte kurdische Gelehrte und andere wichtige Figuren existieren, wie Abu Muslim Horasani, der den Aufstand gegen die Umayyaden anführte, oder Saladin, der die von den europäisch-christlichen Kreuzzüglern besetzten Gebiete zurückeroberte, ist der Hass gegen Kurden nicht geringer geworden. Vielmehr haben arabische und türkische Muslime bis vor kurzer Zeit versucht, solche wichtigen Personen und Ereignisse zu arabisieren oder zu türkisieren.

In diesem Versuch, kurdische Einflüsse aus der Geschichte des Islam zu entfernen, offenbart sich ebenfalls der antikurdische Rassismus. Auch die Hartnäckigkeit, mit der die kurdische Bevölkerung entmenschlicht wird, indem sie z.B. als primitiv und unzivilisiert dargestellt werden, als "Sklaven der Juden", als eine Mischung von Tier und Mensch oder gar als "Kinder des Teufels", unterstreicht den aggressiven Charakter des antikurdischen Rassismus. Solche Beispiele finden sich vor allem in der mündlichen Tradition, vereinzelt aber auch in der islamischen Literatur.

Insgesamt zeigt sich also, dass ebenso wie in anderen diskriminierenden Ideologien hinter der Klage über die eigene Unterdrückung kein Wille zur Bekämpfung jeder Unterdrückung steht. Die Erfahrung von Diskriminierung oder Unterdrückung verleiht aber keinem das Recht, selbst andere zu diskriminieren oder zu unterdrücken. Im Gegenteil: Eine ernsthafte Ablehnung von Diskriminierung und Unterdrückung muss sich als Prinzip gegen all ihre Formen stellen und den Zusammenschluss mit anderen Unterdrückten suchen - ansonsten wird das Argument der Ungleichbehandlung nur instrumentalisiert, um der eigenen Gruppe Raum für ihre Machtpolitik zu verschaffen und ihre Herrschaft über andere zu etablieren.

Welche Konsequenzen hat dies für linke Politik und Solidarität in der BRD?

Die geschilderten Zusammenhänge sind auch für eine linke und antirassistische solidarische Perspektive wichtig. Insbesondere Gruppen, die sich links, demokratisch, libertär, antirassistisch nennen, gegen Rassismus kämpfen und Migranten - darunter auch diskriminierte Muslime - unterstützen, sollten sich mit diesen Tatsachen auseinandersetzen und sich fragen, mit wem und für was sie eigentlich kämpfen. Kämpfe gegen Rassismus dürfen nicht gleichzeitig (indirekt und unbewusst) einen anderen Rassismus befördern.

Eine Kritik an Diskriminierungsformen unter Migranten und Muslimen wurde innerhalb der Linken bisher kaum bis gar nicht formuliert. So bleibt die Benennung des realen Problems ein Thema der Rechten, wo es zu Zwecken des Rassismus und der Islamophobie instrumentalisiert wird. Das Problem diskriminierender Ideologien im Islam wurde sowohl in der Wissenschaft als auch in linken, politischen Gruppen hingegen entweder ignoriert oder nur oberflächlich bearbeitet - oder mit einem antideutschen Rassismusreflex abgelehnt.

Die Menschen werden in dieser Debatte, deren (unbewusste) Absicht es ist, sich nicht mit den Widersprüchen innerhalb antirassistischer Arbeit auseinandersetzen zu müssen, außerdem durch bestimmte Definitionen und Theorien über Rassismus verwirrt. So beispielsweise der Missbrauch der Critical Whiteness-Theorie durch Gruppen, die eine Definition vertreten, die Rassismus lediglich als weiß-europäisches (westliches) Phänomen wahrnimmt und so andere Formen des Rassismus unsichtbar macht und ihre Opfer im Stich lässt. Solche Theorien und einseitigen Diskurse führen dazu, dass die linken Gruppen sich nur auf westlichen Rassismus konzentrieren (soziale Probleme nach einem Schwarz-Weiß-Muster bewerten und Rassismus reproduzieren).

Mit derartigen Theorien wird auch häufig in der Jugendarbeit und den sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen Debatten die Diskriminierung im Islam umstandslos mit der qualitativ durchaus anders gelagerten Diskriminierung in Europa aufgewogen und damit weggeredet. So bezüglich Unterdrückung der Frauen in der muslimischen Welt, die mit der fortbestehenden Unterdrückung von Frauen in der EU verglichen wird. Damit wird die Unterdrückung von Frauen in den muslimischen Ländern bagatellisiert und so legitimiert. Das ist keine Solidarität mit unterdrückten Frauen, sondern eine Unterstützung des Sexismus.

Ebenso verharmlosend ist es, den Rassismus innerhalb und zwischen migrantischen Gruppen zu vernachlässigen und als Nationalismus oder eine weniger schwere Form von Diskriminierung zu definieren. So geschehen in Diskussionen über rassistische Angriffe der türkischen Grauen Wölfe oder über die Situation von Schwarzen inner- und außerhalb der arabischen Länder. Nach diesem Muster ist es in der politischen Arbeit, die sich antirassistisch mit der in der deutschen Bevölkerung wachsenden Islamophobie auseinandersetzt, verpönt, auch über menschenverachtende Ideologie im Islam zu reden. Tatsächlich lässt sich aber das eine Phänomen ohne das andere nicht behandeln und oft auch nicht begreifen, da beide Formen der Diskriminierung sich gegenseitig verstärken, während sie in der menschenverachtenden Ideologie zugleich ein gemeinsames Fundament haben.

Diese Verhamlosung und Auslassung spiegelt sich auch im Verhalten der Linken gegenüber antisemitischen, antiziganistischen, homophoben und anderen Diskriminierungspraxen in migrantischen und muslimischen Gemeinden wider. Diskriminierungen in migrantischen Zusammenhängen zu ignorieren, heißt diese zu tolerieren. Es stellt sich die Frage, ob dieser unkritische Umgang linker Gruppen mit rassistischen, faschistischen und sexistischen Haltungen unter Migranten aus einer guten Absicht heraus erfolgte oder selbst Äußerung einer postkolonialen, westlichen Haltung ist. Auf jeden Fall spielen Ängste eine Rolle, aufgrund kritischer Fragen selbst als rassistisch stigmatisiert zu werden oder rechten Gruppen zuzuspielen.

Mit dieser Doppelmoral verhalten sich heutige linke Gruppen und akademischer Institutionen wie jene Wissenschaft, die es bis Mitte der 1980er Jahre ablehnte, die Existenz von Rassismus in Deutschland anzuerkennen und das Thema lediglich als "Fremdenfeindlichkeit" erklärt und definiert hat.

Diese Fragen müssen innerhalb der Linken thematisiert werden. Eine Selbstreflektion und eine neue Strategie gegen Rassismus aller Arten ist notwendiger als je zuvor. Probleme wie religiöser Fundamentalismus und muslimische Rassismen oder Rassismus in migrantischen Communities müssen in den (sozialen) Medien und in der Bildungsarbeit stärker thematisiert und diskutiert werden. Denn es ist wichtig, nicht nur rechtsextremen und nationalistischen Tendenzen entgegen zu treten, sondern ebenso salafistischen Ideologen und migrantischen rassistischen Gruppen.

Linke Gruppen müssen auch in der politischen und öffentlichen Diskussion klar Stellung beziehen. Tun sie dies nicht, so überlassen sie die Kritik denjenigen Politikern und rechten Gruppierungen, wie Pro Deutschland, AfD, Pegida oder Hogesa, die diese Themen für ihre Zwecke und ihre rassistische Politik instrumentalisieren. Und eine Stärkung des radikalen Islam in westlichen Ländern stärkt auch rechtsextreme Tendenzen sowie umgekehrt. Denn der Anstieg radikal islamischer Gruppen veranlasst die westlichen Gesellschaften dazu, alle Muslime in die gleiche Schublade zu stecken und noch mehr zu diskriminieren.

Wenn Fundamentalisten auch in der EU ihre Phantasien realisieren und "Ungläubige" angreifen, Menschen köpfen oder Bombenanschläge durchführen - was heutzutage keine Überraschung wäre -, wer kann dann noch garantieren, dass Menschen mit Migrantionshintergrund über ihre Diskriminierungserfahrungen in den westlichen Gesellschaften laut reden können? Und wer kann dann rassistische Angriffe sowie rechte Mobilisierungen verhindern? Die staatlichen Institutionen und Strukturen? Das glaube ich nicht. Wenn linke Gruppen und Personen, die sich mit Migranten solidarisieren, nicht selbst Opfer einer solchen Entwicklung werden wollen, müssen sie ihre heutigen Positionen und Perspektiven verändern und eine klare Strategie gegen diese Realität ausarbeiten.

Es ist wichtig, dass die Linke wieder beginnt, jegliche Form von Unterdrückung und Diskriminierung zu thematisieren und ihr die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Zusammenlebens in Vielfalt, Freiheit und Gleichheit unter Anerkennung Andersdenkender entgegenzusetzen.

Das emanzipative Projekt in Rojava

Der Widerstand der Kurden gegen den IS-Terror und ihre politische Strategie, die sie den "Dritten Weg" nennen, gibt Menschen in diesem Sinne neue Hoffnung. Sie stärken mit ihrem Widerstand auch die Hoffnung, die zu Beginn des arabischen Frühlings die Menschen bewegt hat. Mit den Strukturen, die in Rojava und Baschur (Nordirak) geschaffen wurden, versuchen sie für sich und andere Minderheiten, die unterdrückt wurden, ein demokratisches Gebiet zu schaffen. Diese neuen jungen Gesellschaften beweisen, dass die Kurden sich besser selbst regieren können und bereit sind, Macht mit anderen Minderheiten zu teilen. Anders als ihre Nachbarn, die kurdische und andere Minderheiten stets fremdbestimmt und unterdrückt haben. Frauenrechte, die Rechte von Minderheiten, basisdemokratische Entscheidungsprozesse (Rojava) und Umweltschutz wurden als gesellschaftliche Grundlagen festgeschrieben.

Der Kampf der Kurden gegen den IS-Terror ist jedoch nicht nur für Kurden und Minderheiten in der Region, die von Massakern bedroht sind, von großer Bedeutung und zugleich ein Kampf gegen die Islamisierung des Gebietes und für seine Demokratisierung. Der Widerstand der Kurden hat für alle Menschen auf der Welt eine große Bedeutung. Denn nur wenn der IS durch die kurdischen Kämpfer gestoppt werden kann, gibt es die Chance auf eine neue demokratische Struktur in der Region. Sollten die Kurden den Kampf verlieren und andere Staaten wie die USA, die Türkei, NATO etc. militärisch mit Bodentruppen eingreifen, ist ein neues Afghanistan zu befürchten und die bereits aufgebauten demokratischen Strukturen werden im Bürgerkrieg untergehen.

Wenn dieser Kampf verloren geht, wird vielleicht nicht die Welt untergehen, aber sie wird noch grauenvoller werden, wenn der IS-Terror massiv zunimmt und alle Menschen bedroht, erkämpfte Frauenrechte wieder abgeschafft werden, und die vielen Minderheiten, die vor dem islamistischen Terror in den kurdischen Autonomiegebieten Zuflucht gefunden haben, heimatlos und ausgelöscht werden. Deshalb ist der Kampf der Kurden derzeit so wichtig, denn das Gesellschaftsmodell, wie es dort bereits gelebt wird, ist ein Gewinn für die ganze Menschheit und ein wichtiger Orientierungspunkt für linke Bewegungen weltweit.

Das emanzipative Projekt in Rojava wird von den meisten Staaten jedoch als Gefahr wahrgenommen und unter Druck gesetzt. Viele Linke in Deutschland, der EU und weltweit haben allerdings in den letzten Wochen ihre Solidarität mit dem kurdischen Widerstand auf den Straßen zum Ausdruck gebracht, wie z.B. bei den großen Demonstrationen in Solidarität mit Kobanê am 1. November. Selbst in Afghanistan gab es an sieben verschiedenen Orten Demonstrationen. Hier wird deutlich, dass die aktuellen Entwicklungen in Rojava insbesondere auch den Menschen neue Hoffnung geben können, die selbst von islamistischen Systemen unterdrückt waren oder sind. Sie sind Ausdruck und Hoffnung für eine ehrliche internationale Front gegen den Terror.

Die Zusammenarbeit und Solidarität der zahlreichen Bündnisse an unterschiedlichen Orten weltweit muss eine langfristige gemeinsame Perspektive entwickeln. Dabei dürfen die linken Gruppen nicht dieselben Fehler im Umgang mit den Migranten wiederholen, die oben geschildert wurden. Sie müssen gegenüber falschen Praktiken und dominanten kurdischen Gruppen und/oder Parteien kritisch sein und diese Kritik benennen.

Die Entwicklung kann auch für die Linke ein Ausgangspunkt sein, wenn sie sich mit ihrer engen, dogmatischen Gruppenperspektive auseinandersetzt und versucht, mehr Menschen zu mobilisieren. Auf diese Weise könnte sie zu einem wichtigen Akteur werden. Statt einer reinen Anti-Haltung zum Bestehenden, die in ihren Aktivitäten immer an die Reaktionären gebunden bleibt, welche die eigentliche Politik machen, könnte sie versuchen, eine Alternative zu verkörpern. Erst dann kann sie neue gesellschaftliche Strukturen aufbauen und so selbst zu einem gesellschaftlichen Akteur werden.

Serdescht Qalender lebt seit einigen Jahren in Deutschland. Davor hat er im Nahen Osten aktiv Politik gemacht und sich an sozialen Bewegungen beteiligt.


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