Der Stoff, aus dem Konflikte sind

Wie und warum das muslimische Kopftuch polarisiert

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Es sind nur drei Verse, die sich im Koran zur Bekleidung der muslimischen Frau äußern, und die sind vage formuliert. Doch streiten konservative und erst recht fundamentalistische Islamströmungen für den Hidschab, also das Kopftuch oder den Schleier, als sei das angeblich gottgebene Schleiergebot die sechste Säule des Islams. Was es mit dem „Kopftuchstreit“ in seinen unterschiedlichen Varianten auf sich hat, wie sich der islamische Feminismus vom westlichen unterscheidet und warum das alles eine gesamtgesellschaftliche Themensetzung ist, das zeigt mit wissenschaftlicher Präzision und vielfachen Aha-Effekten ein Buch von Sabine Berghahn und Petra Rostock.

Wenn man etlichen mehr oder minder selbsternannten Zukunftsforschern wie etwa Matthias Horx oder John Naisbitt glauben darf, so gibt es seit geraumer Zeit den "Megatrend Frauen". Soll heißen, dass Frauen nach und nach nicht nur alle Bastionen der Männer erobern, sondern dass das Thema Frau darüber hinaus auch die wissenschaftlichen, politischen und literarischen Bühnen beherrscht. Sosehr plakative Aussagen dieser Art meist mehr vernebeln als erhellen – in gewisser Weise trifft dieser „Trend“ aber doch auf „die“ muslimische Frau zu.

Denn in der Debatte um die Demokratiefähigkeit des Islams und die Integrationswilligkeit von Muslimen in den Ländern der westlichen Welt spielt neben dem Rechtsverständnis des Islams vor allem das muslimische Frauenbild eine entscheidende Rolle. Die Akzeptanz der durch die griechisch-römische Antike, das Christentum und die Aufklärung geprägten europäischen Werte seitens der Zuwanderer und die Offenheit der europäischen Mehrheitsgesellschaften gegenüber „dem Anderen“ sind zu so etwas wie dem Lackmustest der Integration geworden.

Beim Stichwort „muslimische Frau“ taucht bei den meisten Menschen in Europa reflexartig das Kopftuch als Assoziation auf – „die Flagge des islamischen Kreuzzuges, der die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren“ will, wie einst Alice Schwarzer wetterte. Zu dieser Assoziation gesellen sich meist weitere wie Unterdrückung, Ehrenmord oder Genitalverstümmelung.

Dementsprechend sind Kopftuch und Schleier im westlichen Kulturkreis zu Negativsymbolen geworden, wortwörtlich zum „Stoff, aus dem Konflikte sind“, wie die Berliner Wissenschaftlerinnen Sabine Berghahn und Petra Rostock ihr Buch nennen, das im Transcript Verlag erschienen ist. In diesem Buch haben die beiden Wissenschaftlerinnen neben ihren eigenen Beiträgen eine Fülle von Untersuchungen weiterer Autorinnen und Autoren zusammengetragen, die das Thema „Hidschab“ aus rechts-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive erklären. Unter anderem wird der juristische und politische „Kopftuchstreit“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz dokumentiert. Ebenso werden die historischen Vorgänger der jetzigen Auseinandersetzung benannt und auf zeitgemäße Koranexegesen verwiesen. Besonders erfreulich ist es, dass auch ausführlich auf den islamischen Feminismus und seine Differenz zum westlichen eingegangen wird, ein Thema, das im Islamdiskurs oft vernachlässigt wird. Auf diese Weise ist es gelungen, die unterschiedlichen Aspekte der Problematik aufzuzeigen und Werte und Prinzipien der Auseinandersetzung auszuleuchten. Wobei der Schwerpunkt eher auf dem Bemühen um Verständnis für die „Kopftuchbefürworterinnen“ liegt.

Die Kleidung als Metapher

Die Problematisierung der muslimischen Frauenbekleidung nahm ihren Anfang im Rahmen französischer und britischer Kolonialpolitik im Nahen Osten, als dem „Hidschab“ zunehmend eine Stellvertreterfunktion erwuchs.

Als beispielsweise Frankreich 1830 begann, Algerien zu besetzen, trachtete es danach, dieses Land „französisch“ zu machen. Dafür musste die Kolonialmacht die alten algerischen Strukturen zerschlagen. Und dabei spielten die Frauen eine Hauptrolle. So wie es Frantz Fanon, französischer Schriftsteller und Psychiater, der 1953 nach Algerien ging und dort als Chefarzt arbeitete, 1959 in seinem Buch „Im fünften Jahr der algerischen Revolution“ schrieb:

"Wenn wir die Struktur der algerischen Gesellschaft zerstören wollen, ihre Fähigkeit zum Widerstand, müssen wir als erstes die Frauen erobern, wir müssen uns daran machen, sie hinter dem Schleier zu finden, wo sie sich verstecken und in den Häusern, wo die Männer sie außer Sicht halten."

Konsequenterweise versuchte Frankreich daher, die Frauen zu emanzipieren, indem etwa Hilfsorganisationen zur Unterstützung der algerischen Frauen gegründet, Schulangebote für Frauen und Mädchen erarbeitet und Radiosendungen zum Thema Frauenrechte ausgestrahlt wurden. Bei all diesen Maßnahmen wurden die Frauen ermutigt, das äußere Symbol der Unterdrückung, den Schleier, abzulegen. Vielfach fanden öffentliche Entschleierungsaktionen statt. Doch so sehr viele Algerierinnen die emanzipatorischen Wege auch begrüßten, so waren diese Maßnahmen dennoch quasi vergiftet.

Denn umgekehrt bemächtigte sich gleichzeitig auch der antikoloniale algerische Widerstand des Geschlechterdiskurses, indem er die algerische Frau flugs zur Hüterin der arabisch-islamischen Werte erklärte und zum Symbol der religiösen und kulturellen Identität erhob. Folglich sahen viele algerische Männer eine unverschleierte algerische Frau als Kollaborateurin an. Die „Entschleierung“ galt als Kapitulation vor den europäischen Kolonisatoren. Damit befanden sich die algerischen Frauen in einem echten Dilemma.

Die 1939 geborene algerische Soziologin und Feministin Marie-Aimée Hélie-Lucas, die aktiv am Unabhängigkeitskampf teilgenommen hatte, kommentierte in den 1980er Jahren das Dilemma nachträglich so:

"Wie konnten wir also das Problem des Schleiers als Unterdrücker der Frauen aufgreifen, ohne sowohl die Nation als auch die Revolution zu verraten? Viele junge Frauen, sogar solche, die in liberalen Familien aufgewachsen waren, trugen freiwillig den Schleier als Demonstration ihrer Zugehörigkeit zum unterdrückten algerischen Volk ... Wir erkannten nicht die Konsequenzen solch einer ideologischen Verwirrung. Auch wir hatten Angst, das Volk, die Revolution und die Nation zu verraten. An keinem Punkt sahen wir, dass auf unserer geistigen Verwirrung eine Machtstruktur errichtet wurde, die sich auf die Kontrolle des Privatlebens und der Frauen stützte ..."

Marie-Aimée Hélie-Lucas: “Women, Nationalism, and Religion in the Algerian Liberation Struggle”, 1987

Im Rahmen der Kolonialpolitik war der Hijab also endgültig zum Symbol der Unterdrückung der Frau und der Rückständigkeit einer Gesellschaft geworden – oder, wie die in Berlin lebende Juristin Cengiz Baskammaz es in dem vorliegenden Buch nennt, zum Nachweis „der ontologischen Differenz und Unterlegenheit islamischer Gesellschaften“ „Die postkoloniale Konstruktion des Kopftuchs“, S. 369).

Die Problematik dieser historischen Situation wirkt wie ein verzerrtes Spiegelbild unserer Gegenwart. So wie „der Westen“ einst im Rahmen des kolonialen Diskurses begonnen hatte, den Schleier als Metapher der Unterdrückung zu etablieren, so wurde er im Gegenzug für die muslimische Seite urplötzlich zum Symbol der Identität und des Widerstandes. Diese wechselseitige Symbolträchtigkeit ist ihm bis heute weitgehend erhalten geblieben. Vielen muslimischen Frauen ist das Kopftuch, gerade in westlichen Ländern, weniger ein religiöses Bedürfnis als vielmehr ein Identitätsmerkmal, oft sogar ein bewusstes Abgrenzungssignal. Die Angst, die eigene Identität, das „eigene Gesicht“ und die tradierte Kultur zu verlieren und von der Mehrheitsgesellschaft oder „dem Westen“ vereinnahmt zu werden, ist bei vielen präsent. Ob zu Recht oder nicht, sei dahin gestellt. Auf jeden Fall offenbaren sich hier Konfliktlinien der europäischen Zuwanderungsdebatten.

Eine typische Erscheinung dieser Generation sind die so genannten Neo-Muslimas. So bezeichnet die Soziologin Sigrid Nökel in ihrem Buch „Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam“ die jungen Frauen mit muslimischem Hintergrund, die sich wieder stärker der Religion und der islamischen Kleiderordnung zuwenden, sich dabei aber gleichzeitig erfolgreich ins höhere Bildungswesen integrieren und beruflichen Ehrgeiz entwickeln. Diese Frauen definieren sich über Bikulturalität und Religion und betonen dies bewusst. Eine 32-jährige Akademikerin, die sich seit dem 15. Lebensjahr „bedeckt“, also Kopftuch trägt, drückte es so aus:

„Ich stellte irgendwann fest: Ich kann keine Deutsche sein, ich bin keine Türkin. Ich bin aber Muslima.“

Zwei Begründungen werden vorrangig für das Kopftuchtragen und die islamische Kleidung genannt:

  1. der Schutz vor Belästigungen von Männern
  2. die bewusste Unterscheidung und Abgrenzung von nicht frommen Frauen und Nicht-Musliminnen

Verknüpft man die drei Koranstellen (Suren 24:31, 33 .53 und 33:59), die sich zur Kleidung der Frau und zur Geschlechtertrennung äußern, und die beiden meist genannten Gründe für das Tragen des Kopftuches, so ergibt sich ein ziemlich klares Szenario. Zum einen geht es um den Schutz der Frauen vor zudringlichen Männern und zum anderen um eine Abgrenzung von Andersdenkenden. Und genau das sind die beiden Punkte, die in den Gesellschaften Deutschlands und Europas so stark polarisieren. Und zwar polarisiert das Was – was soll die Frau bedecken – sogar weniger als das Warum – warum soll die Frau sich be- oder verdecken.

Und dieses Warum weist direkt auf das Verständnis der Geschlechterrollen und das der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Islam hin. Die Begründung des Schleiergebotes reduziert jede Frau auf ein Wesen, "das Reize auslöst", macht sie so also zum Objekt männlicher Wünsche, Ansprüche und Hormone, wie die Islamwissenschaftlerin Claudia Knieps es 2005 in einem Aufsatz („Konfliktstoff Kopftuch“) formulierte. Es weist darüber hinaus darauf hin, dass unter Gleichberechtigung im Islam, zumindest in seiner traditionellen Prägung, etwas anderes verstanden wird als im westlichen Kulturkreis. Es wird nämlich, selbst unter muslimischen Feministinnen, ganz überwiegend ein Gesellschaftsmodell mit komplementären Geschlechterrollen vertreten, deren Gleichwertigkeit in der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten gesehen wird. Die Islamwissenschaftlerin Silvia Horsch formuliert es so:

„Die Rechte und Pflichten sind unterschiedlich, aber es besteht Gleichberechtigung darin, dass sie (die Pflichten) gerecht verteilt sind.“

Quelle

Umgekehrt werfen, wie Birgit Rommelspacher darlegt, viele muslimische Feministinnen ihren westlichen Kolleginnen vor, dass diese die Emanzipation nicht mehr an der Ungleichverteilung von Arbeit, Einkommen und Status zwischen Männern und Frauen, sondern am Abstand zwischen westlichen und muslimischen Frauen bemessen würden. Diese konträren Standpunkte aber tangieren gesamtgesellschaftliche und politische Machtfragen.

Vielleicht ist genau das dann auch der tiefere Grund dafür, dass im Kopftuchdisput von islamischen Verbänden in Deutschland so heftig gestritten wird, als sei das Schleiergebot die sechste Säule des Islams (Knieps). Tatsächlich aber ist die Meinung, die Kopftuchpflicht gehe eindeutig aus dem Koran hervor, nur eine von mehreren Auslegungen im innerislamischen Spektrum. Was bei der Fokussierung auf das Kopftuch in seiner Stellvertreterfunktion vielfach ausgeblendet wird.

Denn die Muslima, die gar kein Kopftuch tragen, werden in der Öffentlichkeit allgemein überhaupt nicht als solche wahrgenommen. Das aber sind in Deutschland immerhin rund 70 Prozent, also mehr als zwei Drittel, wie die vom Innenministerium im Juni 2009 vorgestellte Untersuchung zeigte. Unter diesen Gegnerinnen eines allgemein verbindlichen Schleiergebotes, das sich bei zeitgemäßer Exegese in der Tat nicht zwingend aus dem Koran ableiten lässt, sind sowohl gläubige Muslima als auch säkular eingestellte Frauen.

Exakt auf den Punkt brachte es Necla Kelek schon 2005 in ihrem Buch „Die fremde Braut“:

Vom Schleier ist im Koran die Rede, das stimmt. Aber anders als das tägliche Beten oder Fasten, die zeitlose Gebote zur Ehre Allahs sind, gilt dies nicht für die Bekleidungsvorschriften. Sie verdanken sich einem bestimmten historischen Kontext. Sie wurden einst als Maßnahme eingeführt, um Frauen vor sexueller Gewalt und Männer vor Ehrverlust zu schützen.

Statt die Täter zu bestrafen, wurden die Opfer verschleiert. Der Schleier wurde also nicht, wie von den Strenggläubigen behauptet, als ein Zeichen des Glaubens eingeführt, sondern um die Frauen vor der Zudringlichkeit der Männer zu schützen. Weil Männer durch die teuflische Aura der Frau in ständige Versuchung geführt werden und sich nicht beherrschen können, müssen die Frauen durch den Schleier „unsichtbar“ gemacht und aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Eine geniale Doppelstrategie.

Aber wie kommt eine Demokratie dazu, den Schleier oder das Kopftuch zu akzeptieren? Hier brauchen wir den Schleier nicht als Schutz vor Gewalt. Dafür gibt es Gesetze. Und die zwingen nicht das Opfer zur Freiheitseinschränkung, sondern den potenziellen Täter bei Androhung von Strafe zur Selbstbeherrschung.

Diese Position Keleks betont einmal mehr die Symbol- oder sogar Platzhalterfunktion des „Hidschab“. Letztendlich geht es dabei um einen durch die Integrationsfrage bedingten gesamtgesellschaftlichen, also soziologischen und politischen Diskurs, es geht um Wertekonsens, Geschlechterverhältnis und Grundgesetzkompatibilität – und um die beiderseitige Angst vor dem Identitätsverlust.

Einige inhaltliche Ungenauigkeiten und ein paar Flüchtigkeitsfehler – etwa die falsche Abkürzung für den Zentralrat der Muslime in Deutschland: ZDM statt richtig ZMD – tun dem Informationswert dieser facettenreichen Argumentations- und Materialsammlung von Sabine Berghahn und Petra Rostock zum Thema „Kopftuchdebatte“ keinen Abbruch. Sie fordern lediglich dazu auf, das Buch auch inhaltlich mit aufmerksamer Distanz zu lesen.

Sabine Berghahn, Petra Rostock (Hg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind - Debatten um das Kopftuch, transcript Verlag Bielefeld, 2009, €29,80, ISBN 978-3-89942-959-6

Ein vielfältiges Informations- und damit auch Argumentationsangebot bietet auch das Internetportal Qantara, das von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Welle, dem Goethe-Institut und dem Institut für Auslandsbeziehungen verantwortet wird.