Der Überlebenskampf der Kernenergie

Atomkraft - und die Alternativen (Teil I)

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Deutschland hat den Atomausstieg beschlossen. Seit einigen Jahren verkauft sich die Atomindustrie deshalb als eine Energiequelle ohne Alternative, denn wie soll man die fehlenden rund 30% der deutschen Stromversorgung bis 2025 ersetzen? Öl wird hierzulande kaum zur Befeuerung von Kraftwerken verwendet, Kohlekraftwerke kommen wegen der CO2-Emissionen nicht in Frage. Eben wegen der vergleichsweise geringen lokalen Emissionen vermarktet sich die Atomindustrie als umweltfreundlich - solange nichts schief geht, versteht sich.

Die World Nuclear Association wirbt gleich im Logo mit dem Motto "Energy for a Sustainable Future". Dass die Atomenergie billig sei, argumentiert wohl niemand mehr. Meistens endet das Argument der Atomlobby hier. Wenn überhaupt von erneuerbaren Energien die Rede ist, dann heißt es, keine von ihnen könne die Atomkraft ersetzen, wie dies in der Dezember-Ausgabe der Technology Review lautete: "So ist überhaupt noch nicht klar, wodurch die wegfallende Kernenergie ersetzt werden soll." Aber wenn die Gesamtheit aller erneuerbaren Energien die AKW zu ersetzen vermöchte, wer wollte denn noch die Atomkraft?

Umfragen haben ergeben, dass besonders junge Frauen nichts mit Atomstrom am Hut haben. Deshalb spricht die Atomindustrie diese Zielgruppe seit einigen Jahren intensiver an. Der Unique Selling Point: Atomstrom ist umweltfreundlich. Bild: Nuclear Energy Institute

Totgesagte Leben bekanntlich länger. So ist es auch um die Atomkraft bestellt. Nach den Unfällen in Three Mile Island und Tschernobyl galt die Atomkraft als schmutzige Energie, mehr noch: als lebensbedrohlich (die Unfälle von Majak/Tscheljabinsk wurden in der UdSSR geheimgehalten und sind heute noch relativ unbekannt). Europäische Länder und die USA legten Pläne für den Ausbau der Atomkraft vorerst ad acta.

Seit 1993 ist kein neues AKW in den USA in Betrieb genommen und seit 1979 (das Jahr von Three Mile Island) keines mehr bestellt worden. In Europa werden in den nächsten Jahrzehnten wohl mehr AKWs außer Betrieb genommen als gebaut. Seit rund 10 Jahren ist die Zahl der AKWs weltweit relativ konstant bei rund 440 geblieben. Der Streit um das AKW im tschechischen Temelin hat außerdem gezeigt, dass die europäische Bevölkerung dieser Technik immer noch nicht ganz traut. Aber immerhin: Finnland hat den Bau eines fünften AKWs beschlossen. Finnland ist außerdem das einzige Land außer den USA, das ein Endlager schon geplant hat (Endlich ein Endlager).

Der deutsche Atomausstieg ist jedoch kein Alleingang. Schweden, Österreich, Belgien, die Niederlande und Italien haben den Atomausstieg auch beschlossen. Andere Länder müssen den Ausstieg gar nicht erst beschließen, denn er kommt von alleine: Großbritannien etwa wird 2025 nur noch ein AKW am Netz haben, wenn alle britischen AKWs planmäßig abgeschaltet werden. Laut der EU-Studie DILEMMA Report von 1999 wird der Anteil der Atomkraft in der EU von 23% im Jahre 1995 auf 9% bis 2025 sinken (im "Business as usual"-Szenario). Bis 2035 würde der Anteil sogar auf 1% sinken.

Der Fall Großbritanniens ist besonders interessant. Dort haben die Privatisierung und Deregulierung der Stromwirtschaft am frühsten eingesetzt, und dort wurde am ehesten klar, dass sich die Atomkraft in einer freien Markwirtschaft nicht rechnet. Obwohl die Atomkraft seit Jahrzehnten massiv subventioniert wird, kann das EVU British Energy nicht mehr zum Marktpreis Strom erzeugen und muss mit Steuergeldern gerettet werden, da das Unternehmen jährlich rund 1 Million Euro Verluste macht. Der freie Markt hat nämlich gezeigt, dass es Überkapazitäten auf dem britischen Strommarkt gibt.

In den letzten Jahrzehnten hält sich die Förderung fossiler Energien in Grenzen, da diese seit gut einem Jahrhundert gefördert werden. Aber selbst die Fusion, die trotz 50-jähriger Forschung erst gegen 2050 kommerziell werden soll, bekam mehr Unterstützung als alle Erneuerbaren Energien (EE), die bis 2020 20% des Strombedarfs in der EU stellen sollen. Wo wären wir jetzt, wenn die EE so viel Förderung wie die Atomkraft bekommen hätten? (Quelle: Energiehandbuch)

Das Problem sind die sogenannten "stranded costs", d.h. hohe Kosten entstehen für ein AKW am Anfang. Ein AKW rentiert sich erst, wenn es lange läuft, weshalb viele für eine Verlängerung der Laufzeiten von AKWs plädieren. Wird jedoch ein AKW aus irgendeinem Grund früh abgeschaltet, sind die Kosten nicht mehr einzuholen. Der MIT-Bericht The Future of Nuclear Power vom Juni 2003 sagt dazu lapidar: "Today, nuclear power is not an economically competitive choice." Die EU-Studie "Dilemma Report" kam zum selben Ergebnis: "Nuclear power is not generally perceived to have fulfilled the great expectations of its early days. It is marginally economic at best at present in most countries in Europe."

Auch in Kalifornien, wo die Deregulierung früh angefangen hat, waren die stranded costs bei AKWs ein großes Problem. In der Regel haben die Steuerzahler die AKWs einfach aufgekauft, damit die Liberalisierung vorankommen konnte. In Sacramento/Kalifornien hat z.B. das Energieversorgungsunternehmen SMUD beschlossen, ein 800-MW AKW (Rancho Seco) stillzulegen. Die Kosten des AKWs hatten das Energieversorgungsunternehmen (EVU) nämlich fast bankrott gemacht. SMUD musste $660 Millionen an stranded costs berappen; das AKW hatte 1974 $342 Millionen gekostet, aber die Stilllegungskosten sind enorm. Nichtsdestotrotz hat sich die Investition in die Stilllegung schnell rentiert, denn SMUD ersetzte das AKW durch Sparmaßnahmen, Windenergie und Solarstrom. Ein Teil der Lösung klingt erstaunlich einfach: SMUD pflanzte Bäume, um Schatten zu spenden, damit die Kalifornier nicht so viel Strom mit Klimaanlagen verschwenden.

Auch in Deutschland scheint es Überkapazitäten zu geben, jedenfalls wenn man dem Betreiber des im November abgeschalteten AKW in Stade glaubt: "Wir hätten das Kernkraftwerk Stade auch ohne die Vereinbarung mit der Bundesregierung stillgelegt", sagte E.ON-Sprecherin Petra Uhlmann gegenüber der Presse.

Keine guten Aussichten also. Und doch liest man, dass das Jahr 2002 ein Rekordjahr für die Atomwirtschaft war: Die Produktion war so hoch wie noch nie.

Die Erfolgsgeschichte der Atomkraft: Die Linie zeigt den Anteil der Atomkraft in der gesamten Stromproduktion. Seit gut 15 Jahren liegt er relativ konstant bei 17%. Aber die Balken erzählen eine andere Geschichte: Die Produktion steigt kontinuierlich. Das liegt daran, dass die AKW mit einer immer höheren Auslastung betrieben werden. Vor allem decken sie die Grundlast, außer in Ländern wie Frankreich, Belgien, oder Litauen, wo sie zwischen 60-80% des Strombedarfs decken und deshalb den Lastschwankungen angepasst betrieben werden müssen. (Quelle: WNA)

In den letzten Jahren hat sich die Atomwirtschaft außerdem die Sorge um CO2-Emissionen zunutze gemacht. Christian Wilson, Pressesprecher des Deutschen Atomforums in Berlin, erklärte neulich:

Mit jeder Kilowattstunde Atomstrom vermeiden wir ein Kilogramm CO2 in der Atmosphäre gegenüber anderen, weniger umweltfreundlichen Erzeugungsmethoden.

Die Botschaft kommt bei den Entscheidungsträgern an, z.B. bei Frau de Palacio, Vize-Präsidentin der EU-Kommission, die behauptete:

Europa kann auf Atomkraft nicht verzichten, nicht nur aus strategischen Gründen, sondern auch wegen der vereinbarten Kyoto-Ziele.

Und der obgenannte MIT-Bericht sieht es genauso:

We believe the nuclear option should be retained, precisely because it is an important carbon-free source of power that can potentially make a significant contribution to future electricity supply.

Wie viel weniger Kohlendioxid fällt bei der Kernenergie an?

Bei der genauen Ermittlung der Emissionen gibt es viele Parameter zu beachten: Geht es nur um CO2 oder alle Treibhausgase? Wurde nur die Stromerzeugung selbst untersucht oder flossen die Emissionen beim Bau des Kraftwerks und bei der Bereitstellung des Energieträgers (z.B. Kohlebergbau) mit in die Berechnung?

Außerdem sind nicht alle Kraftwerke gleich. Gerade für Kohle (Braunkohle ist z.B. "schmutziger" als Steinkohle) können die Emissionen erheblich von Fall zu Fall abweichen. Trotzdem ist es unbestritten, dass der Atomstrom es in Sachen Emissionen mit allen anderen Energien aufnehmen kann, wie die folgende Grafik von Terry Surles (California Energy Commission) zeigt:

Gelegentlich sieht man höhere Werte für Atomstrom, z.B. 39.1 Gramm CO2/kWh aus einer Studie fürs Schweizer Energieministerium im Jahre 1993; in jener Studie wurden dennoch der Abbau des Kraftwerks und die Lagerung von Atommüll nicht mit berücksichtigt. Nichtsdestotrotz würde der Atomstrom selbst bei einem Wert von 60 Gramm pro kWh sehr gut im Vergleich zu Kohle, Erdgas und selbst Photovoltaik abscheiden. Zum Vergleich: hier die Zahlen von Günther Haupt, Siemens AG, die den Betrieb, die Bereitstellung des Brennstoffs und den Anlagenbau berücksichtigen.

Quelle: Günther Haupt, Siemens AG Power Generation

Beim Atomstrom entstehen CO2-Emissionen neben dem Bau des Kraftwerks vor allem beim Uranabbau. Aus der Graphik wird außerdem klar, dass CO2-Emissionen bei den Erneuerbaren Energien lediglich bei der Herstellung der Anlagen entstehen. Bei einem vollständigen Umstieg auf Erneuerbaren Energien würden jedoch die CO2-Emissionen für den Bau von PV-Anlagen gegen null tendieren. Oben wird also angenommen, der Strom zur Herstellung von solchen PV-Anlagen käme zu großen Teilen aus AKWs, Kohlekraftwerken und Gasturbinen. Dass dies nicht sein muss, beweist die Freiburger Solar-Fabrik: eine Null-Emissions-Fabrik, die ihren Strom aus den eigenen Photovoltaikmodulen sowie einer Biomasseanlage bezieht. Dort fallen also nur die Emissionen für das bezogene Material an.

Die Botschaft höre ich wohl...

Es ist trotzdem nicht von der Hand zu weisen, dass der Atomstrom wenig Emissionen verursacht, selbst im Vergleich zu Erneuerbaren Energien. Aber angesichts der ungelösten Probleme mit der Endlagerung des Atommülls und der Gefahr von Unfällen ist es offenbar schwierig, die Menschen davon zu überzeugen, dass der emissionsfreie Atomstrom sauber ist.

Bei der Umfrage Eurobarometer 169 vom Dezember 2002 stellte sich zum Beispiel heraus, dass die EU-Bürger nicht klar zwischen Atommüll (schlecht für die Umwelt) und den CO2-freien Emissionen des Atomstroms (gut für die Umwelt) unterscheiden können. Auf die Frage, welche Ursachen von Umweltprobleme sie am meisten beunruhigen, erklärten 50% der befragten EU-Bürger, dass Nuklearkatastrophen - und nicht etwa der Klimawechsel - für sie an erster Stelle stehen. So bleibt der allgemeine Eindruck, die Atomkraft sei einfach schlecht.

Fast die Hälfte der befragten EU-Bürger glaubten 2002, dass der Betrieb von AKW den Klimawechsel vorantreibt, obwohl dieser mit den Treibhausgasen in Verbindung steht, die ja ein AKW nun mal nicht ausstößt. Jenseits aller Ideologie muss man den Nein-Stimmen hier recht geben.

In den USA sieht es offenbar nicht anders aus, wenn man den MIT-Bericht glauben kann:

In the United States, people do not connect concern about global warming with carbon-free nuclear power. There is no difference in support for building more nuclear power plants between those who are very concerned about global warming and those who are not.

Die neue Werbekampagne der Atomindustrie hat also viel vor sich, wenn die Atomkraft als die einzige saubere Energie im großen Stil verkauft werden soll, wie dies die World Nuclear Association tun möchte. Gleich auf deren Webseite steht unmissverständlich:

"Renewables" like solar, wind and biomass can help. But only nuclear power offers clean, environmentally friendly energy on a massive scale.

Womit wir beim letzten Argument der Atomlobby angekommen wären: Es gebe keine Alternative zum Atomstrom, denn fossile Energie seien schmutzig, und Erneuerbare Energien würden immer eine Nische bleiben. So wird der Atomausstieg Deutschlands als unrealistisch kritisiert. Aber wie wir im zweiten Teil dieses Artikels sehen werden, können wir Entwarnung geben. Die Kernenergie kann durch Erneuerbare Energien ersetzt werden.

Craig Morris ist Fachübersetzer in den Bereichen Energie, Technik und Finanzen bei Petite Planète.