Der Ukraine-Krieg und die Illusionen

Mörserteam der ukrainischen Armee in der Sumy Oblast

Mörserteam der ukrainischen Armee in der Sumy Oblast, 2024. Bild: Jose Hernandez Camera 51 / shutterstock.com

Diplomatie ist der einzige Ausweg. Eine Siegstrategie ist für keine Seite realistisch. Welche Wege aus der Eskalation noch möglich sind. Interview mit Wolfgang Richter, (Teil 3 und Schluss).

In den ersten beiden Teilen des Interviews mit dem renommierten Sicherheitsexperten Oberst a. D. Wolfgang Richter wurde deutlich, wie sehr der aktuelle Ukraine-Krieg von einer gefährlichen Eskalationsspirale geprägt ist.

Richter warnt eindringlich vor den geopolitischen Risiken für Europa. Als möglichen Weg zu einem Waffenstillstand rückt er die Schaffung einer entmilitarisierten Zone in den Blick. Wobei er betont, dass Sicherheitsgarantien für beide Seiten essenziell sind.

Russland sei in der Vergangenheit durchaus vertragstreu gewesen, so Richter, dies habe sich aber unter Putin geändert. Um einen Weg zum Frieden zu finden, sei es wichtig, die Handlungsmotive Russlands zu verstehen, auch wenn dies den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg keinesfalls rechtfertigen kann.

▶ Wiederholt wird die Überzeugung geäußert, dass Russland nicht gesprächsbereit sei und Verhandlungen daher nicht möglich wären, es sei denn, man würde sich auf einen Diktatfrieden Russlands einlassen. Inwiefern widersprechen Ihrer Ansicht nach die Verhandlungen von Istanbul im Frühjahr 2022 dieser Einschätzung?

Scheiterten die Verhandlungen an dem Massaker von Butscha? Wenn nicht, woran sind Sie gescheitert und teilen Sie die Ansicht von Samuel Charap und Sergei Radchenko? Die beiden Politikwissenschaftler schreiben über die Verhandlungen von Istanbul:

Nach den vergangenen zwei Jahren des Gemetzels mag das alles nur noch Schnee von gestern sein. Aber es aber es erinnert daran, dass Putin und Selenskyj bereit waren, außergewöhnliche Kompromisse einzugehen, um den Krieg zu beenden. Wenn also Kiew und Moskau an den Verhandlungstisch zurückkehren, werden sie dort Ideen vorfinden, die sich für einen dauerhaften Frieden als nützlich erweisen könnten.

"Die Verhandlungen sind nicht an Butscha gescheitert"

Wolfgang Richter: Die russisch-ukrainischen Gespräche vom März und April 2022, die es tatsächlich in Istanbul und davor auch in Weißrussland gab, zeigten, dass Putin sehr wohl bereit war zu verhandeln.

Sie zeigten auch, zusammen mit den Vertragsvorschlägen vom Dezember 2021, worum es Putin tatsächlich ging: Kein Nato-Beitritt der Ukraine, weitere russische Kontrolle über die Krim, Autonomie des Donbass. Dies war damals noch möglich, da es ja noch keine weiteren Annexionen gab.

Die Verhandlungen sind nicht an Butscha gescheitert. Das hat auch Selenskyj selbst damals, also im April und Mai, nicht gesagt, sondern er hat eher auf Mariupol verwiesen und deutlich gemacht, die Verhandlungen würden enden, wenn die Verteidiger von Mariupol vernichtet würden.

Ich stimme mit den Beschreibungen meines Kollegen Samuel Charap überein, wir nehmen an denselben Meetings teil, wir haben die gleichen Quellen. Ich habe Ähnliches geschrieben wie er und ich stimme ihm zu.

Wichtige Zwischenergebnisse

Die Verhandlungen waren zwar noch nicht zu Ende geführt; aber sie haben wichtige Zwischenergebnisse hervorgebracht, Eckpfeiler einer künftigen Lösung, auf die man sich geeinigt hat. Das ist auch von der ukrainischen Verhandlungsdelegation bestätigt worden.

Die Abstimmung betraf den Verzicht Kiews auf den Nato-Beitritt und dass die Kontrolle über die Krim de facto bei Russland verbleibt, aber nicht de jure.

Das heißt, die Ukrainer hätten dies nicht völkerrechtlich anerkennen müssen, aber es gab eine Gewaltverzichtsformulierung. Moskau hatte zu diesem Zeitpunkt den Donbass noch nicht annektiert. Er sollte eine weitgehende Autonomie erhalten, ähnlich einem Minsk 3-Abkommen. Die Details sollten direkt von den Präsidenten besprochen werden.

Der ganze Komplex war allerdings unter den Vorbehalt von Sicherheitsgarantien für beide Seiten gestellt worden. Die Hauptrolle hätten dabei die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats tragen sollen, unter Einschluss von Russland, plus einiger Mächte, die an der Vermittlung mitgewirkt hatten oder später herangezogen werden sollten.

Das Scheitern

Dazu gehörten die Türkei, Polen, Deutschland, Israel und andere. Nach der Grundsatzvereinbarung am 29. März 2022 zogen die russischen Truppen aus dem Raum Kiew ab. Die denkbare Friedenslösung ist am Widerspruch einiger Verbündeter und an der inneren Opposition in Kiew gescheitert.

Ich glaube, Kiew war damals in einer besseren Verhandlungsposition als heute. Mittlerweile hat Moskau vier weitere Gebiete annektiert, der Verhandlungsstand von März 2022 ist überholt und ein "Siegfrieden" ist nicht in Sicht. Die Ukraine wird sich nun mit wahrscheinlich weitaus schlechteren Kompromissen abfinden müssen, wenn das verwirklicht wird, was die Trump-Administration im Auge hat.

Die Angst vor einem Angriff Russlands auf Nachbarländer

▶ Häufig wird davor gewarnt, dass Russland nach einer möglichen Eroberung der Ukraine nicht Halt machen, sondern auch die baltischen Länder und Polen angreifen würde. Wie ist Ihre Einschätzung dieser Sorge?

Wolfgang Richter: Also zunächst mal gibt es keine solchen Intentionen von Regierungsseite, die nachweisbar wäre. Es gab sogar einen Ausspruch von Präsident Putin anlässlich des westlichen Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg im späten Frühjahr dieses Jahres, dass er das für eine sehr dümmliche Aussage von westlichen Politikern hält. Wie man das auch immer betrachtet, es ist in erster Linie eine westliche Interpretation, dass so eine Absicht bestünde.

Noch wichtiger ist es festzuhalten, dass es auch keine militärische Fähigkeit Russlands gibt, eine solche Absicht mit Aussicht auf Erfolg umzusetzen. Die russische Armee war innerhalb von fast drei Jahren nicht in der Lage, die Ukraine tatsächlich unter Kontrolle zu bringen, selbst wenn sie jetzt allmählich eine gewisse militärische Überlegenheit in die Waagschale legen kann.

Aber die Fortschritte sind doch sehr begrenzt, die Verluste sind ungeheuer hoch. Man fragt sich dann, mit welchen militärischen Fähigkeiten würde denn Russland ausgerechnet das stärkste Militärbündnis dieser Erde angreifen wollen? Und mit welcher Aussicht auf Erfolg?

Die Abschreckung wirkt auch hier. So wie der Westen nicht bereit ist, Bodentruppen zu entsenden, weil wir einen Krieg mit der Nuklearmacht Russland scheuen, so gilt es natürlich auch umgekehrt. Die russische Führung wird nicht so verrückt sein, einen Krieg zu beginnen, der in einen Nuklearkrieg ausarten könnte und dann eben auch Russland in Mitleidenschaft zieht.

Also hier wirkt die Abschreckung beiderseitig. Allerdings bin ich auch dafür, alles zu tun, um die Abschreckung zu erhalten. Dazu stehe ich natürlich. Trotzdem halte ich die Absicht und die Fähigkeit Russlands, die Nato anzugreifen, für unrealistisch.

▶ Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine gehen die Meinungen weit auseinander, ob der Krieg Ausdruck des russischen Imperialismus oder eine Reaktion auf die Nato-Osterweiterung sei. Am Tag des russischen Angriffs machte zum Beispiel Joe Biden deutlich: "Es ging (...) immer um nackte Aggression, um Putins Wunsch nach einem Imperium mit allen Mitteln." Der Krieg ist für ihn auch deshalb "unprovoziert".

Auch der Historiker Timothy Snyder stellte klar: "Die Nato kann nicht das Problem gewesen sein." Putin "will einfach nur die Ukraine erobern, und der Verweis auf die Nato war eine Form der rhetorischen Tarnung für sein koloniales Vorhaben."

Auf der anderen Seite erklärte der damalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Sommer 2023:

Er (Putin) wollte, dass wir dieses Versprechen unterschreiben (der russische Forderungskatalog im Dezember 2021, A. W.), die Nato niemals zu erweitern. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur in allen Verbündeten, die der Nato seit 1997 beigetreten sind, entfernen, d. h. die Hälfte der Nato, ganz Mittel- und Osteuropa, wir sollten die Nato aus diesem Teil unseres Bündnisses entfernen und eine Art B-Mitgliedschaft oder Mitgliedschaft zweiter Klasse einführen. Das haben wir abgelehnt. Also zog er in den Krieg, um die Nato, mehr Nato, an seinen Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht.

Und die Russland-Expertin Fiona Hill, Sicherheitsberaterin unter den US-Präsidenten George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump, erklärt in einem Interview: "Es war immer klar, dass die Nato-Erweiterung um die Ukraine und um Georgien eine Provokation für Putin war. Wir hätten also schon immer etwas tun müssen, um dieses Sicherheitsdilemma zu lösen – 2008, aber auch schon früher."

Wie ist Ihre Einschätzung?

Wolfgang Richter: Ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass sich Russland als Großmacht sieht, auf Augenhöhe mit den USA, in einer multipolaren Welt. Mit wenigen Polen, aber Russland wäre dann ein wichtiger Pol. Und das ist etwas anderes als schlichter Imperialismus und Revisionismus, sprich Wiederherstellung der Sowjetunion oder des Zarenreiches.

Die exklusive Fokussierung auf die USA

Und ich glaube, das eigentliche Problem, das Russland in dem Streben nach Weltmachtgeltung und strategischem Gleichgewicht hat, es seine exklusive Fokussierung auf die USA. Moskau sieht alles, was die Nato tut, immer unter dem Aspekt des nuklearen Gleichgewichts mit den USA. Dabei übersieht es oft die genuinen Sicherheitsinteressen der europäischen Nachbarn.

Umgekehrt trifft allerdings auch zu, dass Europa teilweise nicht anerkennt oder überhaupt erkennt, dass das Öffnen von Stationierungsräumen für US-Streitkräfte genau auf dieses Gleichgewicht einwirkt. Wir können dieses Dilemma nur durch Rüstungskontrolle lösen.

Der Westen und die Unterminierung der regelbasierten Ordnung

▶ Im Sommer haben Sie bei Markus Lanz appelliert, dass der kollektive Westen auch die eigene Schuld in der Vorgeschichte zum russischen Angriff untersuchen solle, wobei Sie betonen, dies könne und dürfe auf keinen Fall den Angriff rechtfertigen. Warum soll der Westen die eigenen möglichen Fehler untersuchen und welche könnten dies sein?

Wolfgang Richter: Ich meine, wir müssten die Grundlagen der sogenannten regelbasierten Ordnung in Europa untersuchen, die im Wesentlichen auf der Sicherheitsstruktur der OSZE beruhte. Sie postulierte eine umfassende Sicherheitskooperation, einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien und eine Politik der strategischen Selbstbeschränkung, die durch Rüstungskontrollverträge abgesichert werden sollte.

Es stellt sich die Frage, wie diese Ordnung erodieren konnte, wer dafür Verantwortung trägt, und mit welcher Absicht man das getan hat, möglicherweise auch fahrlässig. War dies nicht auch ein Beitrag dazu, die Situation zu verschärfen und wieder eine Konfrontation herbeizuführen, sodass wir nun erneut in eine Kriegsgefahr gekommen sind?

Das ist das, was ich gemeint habe. Und ich glaube schon, dass auch der Westen erhebliche Fehler gemacht hat, vor allem durch völkerrechtswidrige Interventionen und die Abwicklung der Rüstungskontrolle.

Allerdings hat "der Westen" dabei keineswegs als einheitlicher Block gehandelt. Wir hatten innerhalb der Nato sehr große Auffassungsunterschiede darüber, wie man zum Beispiel mit dem Beitritt der Ukraine verfahren sollte, also mit der Nato-Erweiterung bis an die russischen Grenzen und zur Krim, und ob es klug war, die Rüstungskontrolle zu blockieren.

Dazu hatten Deutschland, aber auch Frankreich und andere westeuropäische Staaten andere Auffassungen als die damalige amerikanische Administration unter George W. Bush.

Auch der völkerrechtswidrige Irakkrieg bedeutete eine Zerreißprobe, auch innerhalb der Nato. Insofern glaube ich, haben wir allen Anlass, mal zu überlegen, welchen Anteil auch Verbündete daran haben, dass die regelbasierte Ordnung unterminiert wurde. Da sollte man nicht schwarz und weiß malen und dann in selbstgerechter Attitüde nur auf eine Seite zeigen.

Die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden

▶ In Ihrem bereits erwähnten WIFIS-Artikel reflektieren Sie über die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden, die nach Äußerung des Bundeskanzlers nicht zur Eskalation beitragen soll. Sie verneinen, dass eine Fähigkeitslücke der Nato bestünde. Ebenso verneinen Sie, dass die Stationierung nicht auf die strategische Stabilität einwirke. Können Sie dies bitte erläutern?

Wolfgang Richter: Es wird ja häufig gesagt, dass diese Stationierung von sogenannten Long-Range Fires, wie die Amerikaner das bezeichnen, also schlicht Mittelstreckenraketen, nicht auf das strategische Gleichgewicht einwirke.

Das Gegenteil ist der Fall, schlicht und einfach deswegen, weil dies auch in den strategischen Stabilitätsgesprächen zwischen Russland und den USA thematisiert wird, die im Moment allerdings nur noch informell geführt werden. Es besteht auf beiden Seiten die Sorge, dass das strategische nukleare Gleichgewicht durch Störfaktoren unterminiert werden könnte.

Das gilt für die strategische Raketenabwehr ebenso wie für vorwärts, also regional dislozierte Langstreckensysteme. Sie wirken deshalb auf das strategische Gleichgewicht, weil sie auch konventionell Ziele zerstören können, die für das strategische Gleichgewicht von großer Bedeutung sind.

Dazu gehören die strategischen Frühwarnsysteme, die in Armavir im Kaukasus durch ukrainische Drohnen schon einmal angegriffen worden sind.

Auch die Häfen für die Nuklearflotte der Russen, wie Murmansk oder Raketenstellungen im europäischen Russland könnten bedroht werden. Auch die jetzt schon verfügbaren Waffen der Nato, insbesondere luft- und seegestützte Marschflugkörper, haben eine große Reichweite. Dazu zählen auch schiffsgestützte Tomahawk-Marschflugkörper auf amerikanischen, britischen und demnächst auf holländischen Schiffen.

Viele Nato-Staaten in Europa verfügen über weitreichende Marschflugkörper, die aus der Luft abgeschossen werden, und zwar von Luftstreitkräften, die denen der russischen Luftwaffe weit überlegen sind, sowohl der Zahl als auch der Qualität nach.

Ich nenne hier nur die Systeme Taurus, Storm Shadow, Scalp, JASSM/ER, die auch Staaten wie Finnland, Polen, Spanien, Italien, Griechenland und andere einsetzen können. Wir haben mit über 3000 dieser Distanzwaffen und mit der Überlegenheit der Luftwaffen und der Seestreitkräfte schon eine erhebliche Schlagkraft in diesem Bereich.

Die LRF-Stationierung in Deutschland ist auch keine "überfällige Antwort" auf die russischen Iskander-Raketen in Kaliningrad. Sie waren ja auch kein Anlass für den Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag 2019.

Mit ihrer Reichweite von knapp 500 Kilometer liegen sie außerhalb der INF-Normen, und Kaliningrad selbst ist angesichts einer sehr kleinen Ausdehnung von etwa 80 bis 100 Kilometer Breite und vielleicht bis zu 180 Kilometer Länge natürlich in allen Winkeln angreifbar und selbst schwer zu verteidigen.

Eingriff in das strategische Gleichgewicht

Und insofern, glaube ich, haben wir eine wirkliche Fähigkeitslücke nicht, wenn man das operativ versteht, also mit der Frage verbindet, ob wir die Ziele, die uns möglicherweise bedrohen, selbst angreifen und zerstören können. Das können wir auch heute schon.

Bei der LRF-Stationierung geht es aber um Ziele in der Tiefe Russlands, also im gesamten europäischen Teil Russlands bis hin zum Ural. Dies schließt Fähigkeiten ein, die auch für das strategische Gleichgewicht von Bedeutung sind.

Die Aussage, diese Stationierung wäre kein Eingriff in das strategische Gleichgewicht, weil sie ja nur konventionell bestückt sind, ist falsch. Denn diese präzisen, weitreichenden und vor allen Dingen auch eindringfähigen Waffen sind auch ohne Atomsprengkörper in der Lage, strategischen Ziele zu zerstören.

Unterschied zum Nachrüstungsbeschluss von 1979

Das unterscheidet heute solche Waffen ganz erheblich vom Nachrüstungsbeschluss von 1979, als die Abweichungen vom Zielpunkt noch in Hunderten Metern oder gar Kilometern gemessen wurden. Heute reden wir über eine Zielgenauigkeit, die weit unter 30 und in vielen Fällen deutlich unter 10 Metern liegt.

Die Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen in Deutschland betrachtet Moskau als "Kuba-Situation". Auf den sowjetischen Versuch, mit Mittelstreckenraketen von Kuba aus das amerikanische Festland zu bedrohen, haben die USA 1962 heftig reagiert, bis hin zur Vorbereitung einer nuklearen Eskalation.

Heute fühlen sich die Russen in einer solchen Situation, und wir haben noch nicht ganz erkannt, dass das Öffnen von Stationierungsräumen für solche Waffen das strategische Gleichgewicht betrifft. Das ist ein Teil der strategischen Stabilitätsgespräche.

Aus russischer Sicht sind solche vorwärts dislozierten Systeme und die strategische Raketenabwehr vorrangige Störfaktoren. Die USA sind mehr besorgt über neuartige Waffenentwicklungen der Russen, die die US-Raketenabwehr umgehen oder durchdringen sollen.

China

Vor allem wollen sie die New-Start-Grenzen erweitern, um ein trilaterales Gleichgewicht mit der aufstrebenden Nuklearmacht China herzustellen. China ist zwar noch lange nicht so weit, aber es hat sein deutlich kleineres Nuklearpotential in den vergangenen Jahren erweitert.

Darauf wollen die USA jetzt reagieren. Satellitenwaffen und Cyber-Angriffe sind weitere Themen. In dieser Lage, die ohnehin schon komplex genug ist, zusätzlich noch einen neuen Stationierungsraum für Mittelstreckenraketen zu öffnen, halte ich für ein hohes Risiko.

Auch die Aussage, dass wir in der Lage sein müssen, operativ "als Erste zu schießen", also russische Raketen zu zerstören, bevor sie abgefeuert werden, wird man in Moskau nicht als Abschreckungs-Dispositiv auffassen, sondern als die Fähigkeit zum Überraschungsangriff.

Dialogangebot nötig

Wenn Moskau glaubt, dass die Stationierung das strategische Gleichgewicht unterminiert, die für die nationale Sicherheit Russlands von großer Bedeutung ist, wird es selbst im Konfliktfall versuchen müssen, solche Gefahren präemptiv auszuschalten. Das ist, glaube ich, in der deutschen Debatte noch nicht erkannt worden, und das sollte man diskutieren.

Ich habe mich ohnehin gewundert, dass eine Entscheidung dieser Reichweite nicht öffentlich und nicht im Parlament vorher diskutiert worden ist. Das muss dringend nachgeholt werden. Und ich glaube, dass es jetzt nötig ist, ein Dialogangebot an Moskau zu machen, um einen Stationierungswettlauf abzuwenden. Das könnte entweder auf ein Moratorium hinauslaufen, oder zumindest auf eine Begrenzung.

Jedenfalls muss eine Lösung herbeigeführt werden, die eine weitere Destabilisierung der Sicherheit Europas verhindert. Die berechtigte Empörung über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sollte uns nicht den Blick für die strategischen Realitäten verstellen.

▶ Im selbigen Artikel schreiben Sie: "Anders als der Nachrüstungsbeschluss der Nato von 1979 zeigt die bilaterale Erklärung keinen Weg auf, wie die Stationierungsentscheidung durch kooperative Mitwirkung Russlands abgewendet werden kann." Warum ist dies Ihrer Ansicht nach problematisch?

Wolfgang Richter: Zunächst einmal ist Abschreckung allein immer instabil, weil eine Strategie, die nur auf Abschreckung beruht, stets vom Worst Case ausgeht, also von den schlechtesten aller möglichen Fälle. Es wird jede Aktion des Gegners als eine Gefahr sehen, auf die man wiederum reagieren muss. Und das löst instabile Rüstungswettläufe aus.

Zum Zweiten ist man in dieser Situation ständig in Alarmbereitschaft, weil man vermutet, die andere Seite werde irgendetwas tun, was die eigene Sicherheit gefährdet. und dann reagiert man darauf. Und das ist ein instabiler Zustand, der zu Fehlperzeptionen und zur Eskalation führen kann.

Das grundsätzliche Dilemma einer nur auf Abschreckung beruhenden Strategie ist übrigens in der Nato schon in den 1960er-Jahren, also nach der Kuba-Krise, erkannt worden.

Es gab deswegen den Hamel-Bericht von 1967, der sich zwar zur Abschreckung bekannt hat, aber zugleich auch auf Dialog und Rüstungskontrolle gesetzt hat, um solche Instabilitäten zu vermeiden. Über einen offenen Dialog sollen Rüstungskontrollvereinbarungen getroffen werden, die reziprok verifiziert werden, um die Vertragstreue zu sichern.

"Verteidigung und Entspannung ist Sicherheit"

Damals hieß die Formel: "Verteidigung und Entspannung ist Sicherheit". Das haben wir in der öffentlichen Debatte offenbar ebenso vergessen wie die Gefahren, die mit einem Nuklearkrieg verbunden sind. Stattdessen spielt man unbekümmert mit der Frage, wo die Nuklearschwellen liegen könnten und wieviel Risiken wir noch in Kauf nehmen könnten.

Ich glaube, ein Dialogangebot muss gemacht werden, um nicht in eine instabile Zukunft zu laufen. Und das wäre übrigens auch ein Beitrag für eine umfassende Lösung des Ukraine-Konflikts, denn wir müssen ja auch die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung im Auge behalten und dürfen uns nicht auf Dauer eine instabile Situation leisten, die eine Kriegsgefahr, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, mit sich bringt.

Ich halte es übrigens auch für falsch, wenn ich das dazu fügen darf, dass wir die Risiken der Stationierungsentscheidung nicht verteilt haben so wie 1979, als wir noch viel Wert auf die Lasten- und Risikoteilung gelegt haben. Damals haben sich vier andere Staaten bereit erklärt zu stationieren.

Heute steht Deutschland mit dieser Entscheidung alleine. Das bedeutet ein höheres Risiko, als das, was wir als logistische Drehscheibe der Nato für die Vorneverteidigung der Ostflanke in Kauf nehmen würden. Denn es macht schon einen Unterschied, ob von deutschem Boden aus Marschkolonnen in Richtung Polen und Litauen fahren, um dort die konventionelle Vorneverteidigung zu stärken oder ob wir auf deutschem Boden eine Fähigkeit zum Überraschungsschlag auch gegen strategische Ziele in Russland zulassen.

Die militärische Logik spricht dafür, dass Russland versuchen wird, diese Waffen zuerst auszuschalten, falls es zur Auffassung kommt, dass ein Konflikt unvermeidbar ist. Dies wäre die Konsequenz des leichtfertigen Satzes: "Wir müssen in der Lage sein, als erste zu schießen". Wir sollten das korrigieren.

"Die Ukraine kann keinen 'Siegfrieden' erreichen ..."

▶ Gibt es Ihres Wissens historische Vorläufer dafür, dass eine Politik erfolgreich sein kann, die in einem Krieg auf mehr Waffen setzt, ohne zugleich diplomatische Kanäle zu nutzen, um eine friedliche Beilegung des Krieges zu erreichen?

Wolfgang Richter: Wenn ein "Siegfrieden" nicht zu erreichen ist, kann der Krieg nur durch einen Waffenstillstand beendet werden. Entweder er wird verhandelt und stabilisiert oder er tritt de facto wegen der Erschöpfung beider Seiten ein. Dann wäre er allerdings instabil und könnte jederzeit wieder aufbrechen – ein ständiger Spannungsherd!

Ein Versuch, Russland eine "strategische Niederlage" zuzufügen, würde zur Eskalation führen. Dies gilt es im Interesse der europäischen Sicherheit zu vermeiden. Die Ukraine kann keinen "Siegfrieden" erreichen, bestenfalls den Zusammenhang der Verteidigung wahren. Sie leidet mehr noch als Russland unter hohen Verlusten und Personalmangel.

Wenn es aber keine erfolgversprechende "Siegstrategie" gibt, wird jede Kriegsverlängerung nur noch mehr Opfer fordern, ohne die Lage zum Positiven verändern. Dies wäre unmoralisch und politisch nicht zu verantworten. Die Beendigung des Krieges sollte mit diplomatischen Mitteln angestrebt werden. Realismus ist kein Defätismus, und Diplomatie kein Appeasement.

▶ In der bereits erwähnten Sendung mit Markus Lanz haben Sie der deutschen Politik vorgeworfen, "Wir haben eine Strategie gewählt, ohne eine Exit-Strategie zu kennen".

Wolfgang Richter: Ja, der Vorwurf gilt allerdings nicht nur der deutschen Politik, sondern dem westlichen Ansatz insgesamt. Die Doppelstrategie aus Waffenlieferungen und Sanktionen, aber ohne Diplomatie hat keinen Erfolg gebracht.

Die militärische Wirksamkeit einzelner Waffenkategorien, über die lange öffentlich debattiert wurde, wurde weit überschätzt. Es fehlte an militärischem Sachverstand. Sie sind keine game changer, sondern können nur im Verbund erfolgreich eingesetzt werden. Dies setzt Führungsüberlegenheit und ausreichende Logistik voraus.

Was man hätte voraussehen können

Nun sind die Lager der westlichen Unterstützer leer; die USA drohen als größter Unterstützer der Ukraine politisch auszufallen; die Produktionsrate der europäischen Rüstungsindustrie blieb weit hinter den Erwartungen zurück; und Waffenlieferungen stehen immer auch in Konkurrenz zum eigenen Verteidigungsbedarf.

Dies hätte man ebenso vorhersehen können, wie die Weigerung des Globalen Südens, Russland zu isolieren und an westlichen Sanktionen gegen Moskau teilzunehmen. Der Süden ist nicht an einer neuen globalen Blockspaltung interessiert, will sich schon gar nicht an der Seite der ehemaligen Kolonialmächte positionieren. Deshalb bleibt auch die Wirkung der Sanktionen hinter den Erwartungen zurück.

Insgesamt fehlte es der Strategie an realistischen Einschätzungen der militärischen Lage und der Kriegsziele Russlands, aber auch an kompetenter Vorausschau und an Alternativen. Diplomatische Lösungsoptionen fielen dem Mantra zum Opfer, mit Putin könne man nicht verhandeln und die Ukrainer kämpften für unsere Interessen.

Nun wird möglicherweise den Europäern eine Exitstrategie von dritter Seite aufgezwungen.

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▶ Welche mögliche Exit-Strategie sehen Sie heute? Wie sähe Ihrer Ansicht nach eine grundlegende Lösung des Ukrainekrieges aus, die nicht in einen möglicherweise jahrzehntelangen "Kalten Krieg 2.0" einmündet, der jederzeit wieder zu einem heißen Krieg eskalieren könnte?

Wolfgang Richter: Zunächst geht es darum, die Dimensionen des Krieges zu erfassen, um ihn beenden zu können. Im Ukrainekrieg geht es im Kern weder um die Wiedererrichtung der Sowjetunion noch um einige beliebige Territorialgewinne für Moskau.

Allerdings will es aus strategischen und historisch-kulturellen Gründen die Kontrolle über die Krim und den Donbass sichern. In erster Linie aber geht es aber um das strategische Gleichgewicht zwischen Russland und den USA, um die europäische Sicherheitsordnung und um einen Interessen- und Fähigkeitsausgleich zwischen der Nato und Russland.

Seit dreißig Jahren artikuliert Moskau sein Sicherheitsinteresse daran, dass die Nato mit ihrer Militärinfrastruktur nicht zu nahe an die russischen Grenzen heranrückt. Im Vordergrund steht dabei das Interesse, die Öffnung von Stationierungsräumen für Langstreckenwaffen oder von potentiellen Aufmarschgebieten gegen das russische Kernland zu verhindern.

Die Frage der künftigen europäischen Sicherheitsordnung und des friedlichen Interessenausgleichs zwischen der Nato und Russland ist der zentrale Ansatzpunkt, um den Ukrainekrieg zu beenden und Stabilität für ganz Europa zu erzielen. Dies kann natürlich nicht Kiew allein bewältigen. Hier müssen sich neben Russland und den USA auch Deutschland und andere europäische Mächte mit diplomatischen Initiativen einbringen.

▶ Herzlichen Dank für das Interview, Herr Richter.

Oberst a. D. Wolfgang Richter ist seit 2023 Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP)

Von 2009 bis 2022 war er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Forschungsfelder: europäische Rüstungskontrolle; OSZE-Sicherheitskooperation und ungelöste Konflikte im OSZE-Raum.

Von 2005 bis 2009 war er bei der OSZE Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland.