Der Westen und die Despoten: Der Wert kluger Kompromisse
Der Westen muss abwägen zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was möglich ist - sagt der "Economist".
Zu den deprimierendsten Erfahrungen unserer Gegenwart gehört das Erleben der Selbstgewissheit vieler Akteure in der Stunde ihres Scheiterns. Keine Andeutung des Zweifels ist ihrem Gesicht zu lesen, in ihren Reden zu hören.
Sondern sie wissen immer genau, was zu tun ist und packen die Gewissheiten in klare Aussagen.
Das Scheitern der "wertegeleiteten" Außenpolitik
"How to deal with despots", wie man mit Despoten umgeht, schreibt der Economist jetzt im Leitartikel seiner Sommer Doppelausgabe, selbstredend wird das ohne Fragezeichen gesetzt, als Gebrauchsanleitung für seine politisch handelnden Leser.
Rund 15 Jahre, von 1991 bis 2006, sei die westliche Außenpolitik einem wertegeleiteten, sicheren Fundament gefolgt: "Die liberalen Werte – Demokratie, offene Märkte, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit – hatten sich gerade gegen den Kommunismus durchgesetzt." Ein "Moralkodex" aus Demokratie, offenen Märkten, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit – "die unbestrittene Formel für Frieden, Wohlstand und Fortschritt" – hätte den Kommunismus besiegt und sei von der ersten und einzigen globalen "Hypermacht", den USA, gegen Terroristen und Tyrannen durchgesetzt worden.
Nach weiteren 15 Jahren habe, so das britische Magazin, die westliche Außenpolitik ihren Kurs verloren und sei auf allen Ebenen, der der Werte, der der Macht und der des historischen Bewusstseins, erodiert. Die US-amerikanischen Kriege im Irak und Afghanistan hätten gezeigt:
"Man kann Menschen nicht zu Liberalen machen, indem man auf sie schießt."
Als Beispiel nennt die Zeitschrift den Fall des saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman (MBS). Der Umgang mit ihm verdeutliche: "Das moralische Kalkül entpuppt sich als heikel. Ist es ethisch vertretbar, MBS zu meiden oder mit ihm zu kooperieren?"
Das Beispiel des saudischen Kronprinzen zeigt vor allem die Schwäche der USA: Abhängig vom saudischen Öl, zugleich müde von den Kämpfen und Kriegen, die ein globaler Hegemon ausfechten muss, um seine Stellung auch nur zu halten.
Saudi-Arabien, China, Russland
"MBS ist nicht allein", so der Economist. China habe eine "volksnahe" Republik gebildet, die Frieden, wirtschaftlichen Fortschritt, Wohlstand und einen Teil der Menschenrechte über das Wahlrecht und die Meinungsfreiheit stellt – und damit die Mehrheit einer Bevölkerung hinter sich hat.
Dies wisse darum, dass auch Demokratie nicht umsonst ist, dass sie in instabilen Staaten schnell in Anarchie umkippen kann und manchem Nachteile und vielen keine Vorteile gegenüber anderen Staatsformen bringt.
Russland hat mit seinem harten Kurs gegen die Nato und dem Angriff auf die Ukraine große Teile der eigenen Bevölkerung hinter sich. Und die Aufforderungen des reichen Westens an die Demokratien des globalen Südens, doch dem antirussischen Bündnis und der Sanktionspolitik beizutreten, laufen ins Leere.
Man habe dort, konstatiert kühl auch der Economist, Führungen, welche "die Geduld mit predigenden, heuchlerischen Westlern verloren haben, die selber sehr bereitwillig in andere Länder einmarschieren, wann immer es ihnen gerade passt".
Raus aus dem moralischen Elfenbeinturm
Dann folgt der Ratschlag der Redaktion:
Der Economist hat seinen Glauben an die Institutionen, die aus der Aufklärung hervorgegangen sind, nicht verloren. Liberale Werte sind universell. Doch die Strategie des Westens zur Förderung seiner Weltsicht ist ins Stocken geraten, und Amerika und seine Verbündeten müssen klarer sehen. Sie müssen abwägen zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was möglich ist. Gleichzeitig müssen sie an den Prinzipien festhalten, die sie vor dem Zynismus von Herrn Putins trostloser, wahrheitsfreier Zone bewahren. Das klingt nach einem perfekten Ratschlag. Kann er funktionieren?"
The Economist
Der beste Weg für den Westen, um den Vorwurf der Heuchelei zu widerlegen, bestehe darin, sich nicht auf wohlfeile moralische Positionen festzulegen, die er doch nicht erfüllen kann. Joe Bidens Versprechen, Saudi-Arabien wie einen "Paria" zu behandeln, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Der Westen müsse aufhören, sich selbst zu überschätzen. 1991 erwirtschafteten die G7 66 Prozent der Weltproduktion, heute sind es nur noch 44 Prozent.
Rückblickend war es unhistorische Anmaßung, zu glauben, "dass Diktaturen durch Bataillone von Menschenrechtsanwälten und Marktwirtschaftlern von ihren Pathologien geheilt werden könnten". Politische Führer sollten ihrem Handeln besser die wahrscheinlichen Ergebnisse als die wünschenswerten zugrundelegen.
Sprechen sei gut und besser, als auf dem moralischen Elfenbeinturm mit gerümpfter Nase Schweigegelübde zu praktizieren.
"Biden hat zu Recht mit MBS gesprochen. Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, hat recht, mit Herrn Putin zu sprechen. Jeder muss mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping sprechen."
Ideale und ihre Folgen - die Kunst des Kompromisses
Außenpolitik ist wie alle Politik mit Kompromissen verbunden. "Leider erschwert Bidens vereinfachender Versuch, die Welt in Demokratien und Autokratien zu unterteilen, kluge Kompromisse", so der Economist.
Der Westen habe erkannt, "dass der Versuch, Despoten wie MBS einfach seine Werte aufzuzwingen, letztlich zum Scheitern verurteilt ist. Stattdessen sollte er Druck mit Überzeugungsarbeit und Klartext mit Geduld verbinden. Das mag nicht so erfreulich sein wie empörte Anprangerungen und Aufrufe zu Boykotten und symbolischen Sanktionen. Aber es ist wahrscheinlicher, dass es etwas Gutes bewirkt".