Der Westen wird als arrogant, gierig und selbstgefällig angesehen
Ein Interview des kanadischen Premierministers Jean Chrétien zum 11.9. löst einen Streit aus
Ist der Westen daran schuld, dass er als "arrogant, selbstgefällig, gierig und grenzenlos" angesehen wird? Das meint jedenfalls der kanadische Premierminister Jean Chrétien in einem Interview mit dem kanadischen Fernsehsender CBC (Canadian Broadcasting Corp.). Das Interview war bereits im Juli aufgezeichnet worden, CBC strahlte es am 11. September aus, dem ersten Jahrestag der Terroranschläge. Jetzt tobt in Kanada ein Streit, ob Chrétien damit die Opfer der Terroranschläge verhöhnt hat.
Chrétien, Mitglied der Liberalen Partei in Kanada, war am 11. September zu den Gedenkfeiern in die USA geflogen. Am Abend war der Premierminister dann im kanadischen Fernsehen in der Dokumentation Untold Story zu sehen:
"Ich glaube, der Westen wird im Verhältnis zu der armen Welt zu reich. Und notwendigerweise werden wir als arrogant, selbstgefällig, gierig und grenzenlos angesehen. Der 11. September ist für mich eine Gelegenheit, dies noch stärker zu erkennen."
Chrétien berichtete auch von einem Besuch an der Wall Street in New York, bei dem sich einige Banker bei ihm darüber beklagt hätten, dass Kanada Wirtschaftsbeziehungen zu Kuba unterhält. "Wenn man mächtig ist, wie ihr es seid, ist es an der Zeit, nett zu sein", habe er den Bankern geantwortet. Der Premier warnte vor den Verlockungen der Macht und forderte deren Begrenzung:
"Man kann seine Macht nicht bis zu dem Punkt der Demütigung anderer ausüben. Und dies muss der Westen - nicht nur die Amerikaner, sondern die westliche Welt - erkennen."
Die Aussagen von Chretien lösten eine heftige Debatte aus. "US-Politik schuld an Terrorangriffen", fasste etwa die Times am 13. September in einer Schlagzeile die Worte des Premiers zusammen. Die Zeitung vermutet, dass Chrétien persönlich verbittert sei. Der kanadische Regierungschef habe dieses Jahr vergeblich versucht, den Westen zu einem milliardenschweren Hilfsfond für Afrika zu bewegen, um Armut, Hunger und Krankheiten zu bekämpfen.
Weniger wohlwollend interpretierte die rechte Opposition in Kanada die Äußerungen des Regierungschefs. Sie warf dem Premier vor, die Opfer des Terrors zu beschuldigen. Die Terroranschläge seien das Werk von irrationalen Fanatikern und hätten nichts mit legitimer Verbitterung zu tun. Stephen Harper von der rechtskonservativen Canadian Alliance forderte, Chrétien müsse sich bei den Vereinigten Staaten und den Familien der Opfer der Anschläge entschuldigen. John Reynolds von der Canadian Alliance, warf dem Premier vor, die Beziehungen zwischen den USA und Kanada zu gefährden.
Diplomaten in Ottawa kritisierten laut Financial Times Zeitpunkt und Tonfall der Aussagen. "Timing und Geschicklichkeit waren noch nie die Stärken von Chrétien." Die "Financial Times" sieht in den Aussagen ein Anzeichen dafür, dass der Premier in seiner restlichen Amtszeit bis 2004 nationalistischere Töne anschlagen und die Eingeständigkeit Kanadas betonen will. "Kanada will nicht als der 51. Staat der USA angesehen werden", sagte er jüngst.
Chrétien selbst verteidigte sich gegen die Vorwürfe der Rechts-Opposition. Sein Büro sagte, der Premier habe nur darauf hingewiesen, dass die entwickelten Länder die langfristigen Konsequenzen der Spaltung der Welt in arme und reiche Länder beachten müssten. Diese Spaltung werde größer, und Fanatiker benutzten sie, um Hass gegen die entwickelten Länder zu schüren. Den Vorwurf, er habe die Vereinigten Staaten für die Anschläge verantwortlich gemacht, sei eine "grobe Missdeutung" seiner Äußerungen. Im Übrigen stehe Kanada gegen den Terrorismus "Schulter an Schulter" mit den USA und helfe bei der Suche nach den Drahtziehern der Abschläge. Das zeige, dass auch der Premier wisse, wer für den 11. September verantwortlich ist.
Chrétien steht mit seinen Überlegungen zur Armut und Terrorismus nicht allein. Die Zeitung "The Globe and Mail" verweist darauf, dass laut neuesten Umfragen inzwischen 84 Prozent der Kanadier der Meinung sind, die Vereinigten Staaten hätten eine gewisse Mitverantwortung an den Anschlägen. Weltbank-Präsident James Wolfensohn erklärte sich die Terroranschläge so:
"Das Gesicht von Bin Ladin, der Terrorismus von Al-Qaida, die Trümmer von World Trade Center und Pentagon sind nur Symptome. Die Krankheit ist die Unzufriedenheit, wie sie im Islam brodelt und, allgemeiner, in der Welt der Armen."