Der Zeitgeist in der Suchmaschine
Unser alltäglicher "Google-Hupf" und seine Spuren
Zeitmaschinen gibt es schon länger, spätestens seit H. G. Wells, aber eine Zeitgeistmaschine existiert erst seit 1998: Google. Trend-Gurus und ihre Trend-Büros gehören demnächst der Vergangenheit an. Eine weitere Ironie des Netzes, das heute bereits verabschiedet, was doch für morgen bestimmt war. Google macht die ohnehin so anfechtbare Zunft der Seher tendenziell arbeitslos, weil die Suchmaschine der Suchmaschinen sich nicht auf Nostradamus oder Horoskop, Kassandra oder Kaffeesatz, sondern auf Suchanfragen verlässt. Was die Welt umtreibt, was mega-in oder mega-out ist, bildet sich in Googles Zeitgeistfeature ab.
Das komplexe Wunder von Google ist der Vokal "o", der bekanntlich erstaunlich dehnbar ist, wenn die Welt auf der Suche nach sich selbst ist. Google führt sich auf ein Wortspiel mit dem mathematischen Begriff "googol" zurück, eine 1 mit 100 Nullen. Rechnet man Googles Partnerschaften mit Yahoo und anderen dazu, wird pro Tag ca. 150 Millionen mal gegoogelt - Tendenz selbstverständlich steigend.
Nach Google-Mitgründer Larry Page besteht der Anspruch der perfekten Suchmaschine darin, dass sie genau versteht, was der Suchende will und ihn exakt bedient. Doch das ist nur die längst nicht erreichte Sonnenseite der blitzschnell generierten Suchantworten der digitalen Wissensgesellschaft. Die vielen Fragen der Wissbegierigen sind selbst Antworten - Antworten auf die Frage nach den Interessen, Wünschen und Begierden der Netzgesellschaft.
Millionen Suchanfragen können nicht irren
Google sinnt bereits über die Kommerzialisierung dieser kostbaren Suchanfragendaten nach. Denn wer weiß, was andere wissen wollen, kann sich beschwerliche und täuschungsanfällige Meinungsumfragen ersparen. Google hat direkteren Kontakt zum Zeitgeist als klassische Verbreitungsmedien, deren Informationen erst die Filter der Redaktionen, die Favoriten der Redakteure, die öffentlich konstruierten Aufmerksamkeitsschwellen passieren müssen. Trendmeldungen oder Zeitgeistaufnahmen von Spaß-, Erlebnis-, Freizeit-, Bluffgesellschaften sind oft nicht mehr als journalistische Eintagsfliegen, die ebenso schnell konstruiert wie demontiert werden. Medien unterliegen ohnehin dem Dauerverdacht, die Trends zu produzieren, von denen sie berichten.
Das Megatool Google scheint dagegen so jungfräulich wie positivistisch nur auf das zu verweisen, was nachgefragt wird. Millionen Suchanfragen können nicht irren, weil nicht die ominöse Wahrheit an sich zählt, sondern die Weltkonstruktion in den Köpfen der Suchenden. Was Reklameforscher oft nur mit zweifelhaften psychologischen Verfahren mühselig ermitteln, produziert Google auf Grund der schieren Masse seiner suchenden Kunden als Nebenprodukt seines Hauptberufs.
Googles intimer Kontakt zu Wissenslüsten, Volkesstimmen, heimlichen und unheimlichen Anfragen folgt einem simplen psychologischen Mechanismus, der ohnehin das Selbstverständnis der scheinbar anonymen Netzgesellschaft prägt. Das Erfolgsgeheimnis einer Suchmaschine ist nicht lediglich ihre Sammelwut, sondern ihre vermeintliche Diskretion. Was ich meinem Beichtvater, Psychoanalytiker oder Ehegatten nicht anvertraue, Google wird weder schamrot noch moralinsauer, wenn wir den Algorithmus auf die glibbrige Reise schicken: "Viagra", "Penis enlargement" oder was sie sonst schon immer und immer wieder über "Sex, Drugs und Plutonium" wissen wollten.
Was ermittelt die Zeitgeistmaschine?
"What was hot and what was not in the year 2001? Our Year-End Google Zeitgeist feature provides a glimpse at what captivated the world over the past 12 months, based on the most popular search terms on the world's most popular search engine. With more than 150 million queries per day, Google offers a unique window into what is happening in the world on any given day, as well as a fascinating retrospective on the peaks and valleys of popular culture. From "Harry Potter" to "Osama Bin Laden" and "Florida Supreme Court" to "Napster," the Google Year-End Zeitgeist reveals the collective focus of the online mind, highlighting the main events that drew the attention of a global audience."
Doch sollte das ungehemmte Data-Mining des Google Zeitgeist-Features nicht datenschutzrechtlich besser verriegelt werden? Noch ist die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen zwar nicht betroffen, wenn Anfragen nicht auf konkrete User zurückgeführt werden, sondern sich lediglich zu Stimmungsbildern der vernetzten Weltbevölkerung komplettieren. Google gibt aus Gründen des Datenschutzes keine Suchanfragen nach Datum und IP-Adressen heraus und rühmt sich seiner "privacy policy", die Daten strikt vor fremdem Appetit zu schützen. Aber wie lange sind solche sensiblen Daten wirklich sicher? Wann könnte der Staat, zumal der immer während gegen den Terror kämpfende, seine Gelüste auf fremde Privatheit mit dem Druck auf solche Bescheidwisser wie Google verfolgen, um mehr über seine google-süchtigen Bürger zu erfahren als nur Trends, Stimmungen und Tendenzen?
Google ist längst ein bestehendes Total Awareness System
Google lobt sein inzwischen vielfach angefochtenes Page-Rank-System als direktdemokratische Einrichtung. Die Position einer Website in der Anfrage orientiert sich an der Zahl der Seiten, die mit der gesuchten Seite "verlinkt" sind: "Democracy on the web works," heißt das bei Google im Ton jener ersten Euphorie des Netzes, die seine vorgebliche Unabhängigkeit von der schnöden Ausgangswelt prägte. Doch hinter dieser Hierarchie der plebiszitär ausgespuckten Daten stecken zugleich die Gefahren für die Demokratie - diesseits wie jenseits des Netzes.
Google ist längst ein bestehendes "Total Awareness System" Weltweites Schnüffelsystem), das die DARPA (Das Orakel der DARPA) mit einem etwas anderen demokratischen Ethos gegenwärtig konstruiert. Googles vordergründiger Enthusiasmus über die gratis gespendete Webdemokratie wäre erst begründet, wenn die potenziell individualisierbaren "queries" erst gar nicht gespeichert bzw. umgehend gelöscht würden, um nicht aus flüchtigen Datenschatten später veritable Persönlichkeitsprofile zu schneidern. So aber gibt es Hintertüren zu den anonymen Nutzern und vielleicht gibt es auch zukünftig einen Tarif, um diese Türen staatlichen oder privaten Datenschnüfflern weit zu öffnen.
"You can make money without doing evil" behauptet das Unternehmen zwar reichlich blauäugig im Blick auf das eigene babylonische Sammelmonster, das im Gegensatz zu seinen historischen Vorläufern erheblich einsturzsicherer ist. Google-Kritiker wie Mr. Anti-Google Daniel Brandt sehen im Homeland Security Act und Patriot Act indes Ermächtigungsgrundlagen, die die Datenweitergabe durch Google eröffnen. Nach Brandt gibt es keine Rechtfertigung für den Umstand, dass Cookies mit IP-Daten, die zudem Datum und Aufenthaltsdauer des Besuches beinhalten, bis zum Jahre 2038 gespeichert werden. Die "privacy policy" von Google ist vor allem deshalb so problematisch, weil Google zwar den Zeitgeist erkennen mag, aber die Frage, wer in den nächsten Jahrzehnten mit welchem Interessen auf diese Daten zugreifen wird, weder für das eigene Unternehmen noch gar für paranoide Staatsagenturen zu beantworten vermag.
Globaler Trendverstärker
Doch der gespeicherte Zeitgeist in der Suchmaschine löst nicht nur datenschutzrechtliche Kopfschmerzen aus. Auch die Gefahr kultureller Austrocknung durch den statistisch abgesicherten Meinungsglobalismus könnte in einem Ausmaß möglich werden, der die viel gescholtenen Manipulationstechniken von Massenmedien noch übertrifft. Denn es gibt keine unschuldige Beobachtung des Zeitgeistes, ohne ihn im Feed-back der statistisch verbuchten Hits und Flops erst richtig aufzuladen.
Wenn Googles Zeitgeist-Recherche nur oft genug rückgekoppelt wird, könnte deutlich werden, dass faktische Monopolisten wie diese Suchmaschine Trends noch stärker globalisieren, als es Bestsellerlisten und In-Out-Listen je vermochten. Trendwissen dieser Art ist keine harmlose Bestandsaufnahme, die eine Gesellschaft folgenlos reflektiert, sondern ein kapitales Instrument, um Angebot und Nachfrage in den Griff zu kriegen. Googles weltweite Aufgabenerfüllung fügt sich nahtlos in Produktvermarktungsstrategien ein, die wie etwa beim Film-Merchandising keine Länder- oder Kulturgrenzen mehr kennen. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil die Sponsoren-Links den politisch korrekten Proporz des Page-Rank-Systems bereits mächtig aufweichen und kommerzielle Interessen in den Vordergrund schieben. Ständig wird der Suchende mit gewerblichen Angeboten belästigt, die mit ihrer primitiven semantischen Abgleichung im Trüben des Konsumentenbewusstseins fischen - eine Praxis, zu der auch Content-Seiten wie jetzt etwa CNN im Rahmen ihrer internen Suchmaschinen demnächst übergehen wollen.
Auch wenn der Begriff "global brain" eine etwas zu fixe Metapher der Medientheorie für die gegenwärtige Vernetzung virtueller Zeitgenossen ist, präsentiert Google zumindest eine zwar noch unscharfe, aber sich stetig vervollkommnende Tomografie des Aufmerksamkeitsbewusstseins der Netzgesellschaft. Mit der wachsenden Zahl von netizens wird sich die Tiefenschärfe dieses Bewusstseins noch erheblich verbessern, bis sich vielleicht eines Tages der ganze Netzverkehr als hochdifferenzierte Konsumententopografie darstellt.
Wenn der alltägliche Griff zu Google erst so selbstverständlich geworden ist wie der Griff zur Fernbedienung oder zur Kaffeemaschine, schließlich zum diskreten Servo-Mechanismus unserer immer Antwort spendenden Smart-Räume wird, werden Google oder seine Nachfolger erheblich mehr über uns wissen, als wir über die google-isierte Welt. Während wir noch suchen, hat Google längst gefunden, was die Welt im Innersten zusammenhält und entzweit: uns.