Der Zug nach Westen
Nach der größten historischen EU-Erweiterung klopft auch die Türkei kräftig an das Portal der Europäischen Union
Nach der NATO ist nun die EU so weit: Die größte Erweiterung der EU seit ihrem Bestehen ist beschlossene Sache des Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen. Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, Slowenien, Malta und Zypern werden der EU am 1.Mai 2004 beitreten.
Doch mindestens ebenso wurde der Beitritt der Türkei zu einem Thema, das nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland die Europadebatte hoch kochen lässt. Stoiber hat bereits erklärt, hier nächstes Jahr aufzuklären - und was das vor dem Hintergrund der Zuwanderungsdebatte heißt, setzt keine Fantasie voraus.
Um was geht es? Die Europäische Union bietet der Türkei für Ende 2004 Beitrittsverhandlungen an. Immerhin wollten Frankreich und Deutschland die Beitrittsverhandlungen erst im Juli 2005 beginnen. Bis dahin solle die Türkei alle Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllen. Die Türkei solle sich rechtsstaatlich, demokratisch und wirtschaftlich noch weiter umrüsten, um kompatibel mit EU-Standards zu werden.
Der türkische Ministerpräsident Abdullah Gül will allerdings den ungewissen Beitrittstermin nicht akzeptieren und verlangt eine feste Zusage. In der Türkei selbst ist die Westanbindung indes ein kontroverses Thema, dessen Erörterung möglicherweise in eine andere Richtung umklappen könnte als in die, die Ministerpräsident Gül so angelegen ist. Die Türkei mokiert sich über die angebliche Atmosphäre des Vorurteils. Reformen in der Türkei würden nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Die Todesstrafe sei abgeschafft, die Meinungsfreiheit aufgewertet und die Kurdenproblematik entschärft worden. Auch die Zypern-Frage soll bis zum 28. Februar 2003 diplomatisch bereinigt werden.
Türkei im Kern amerikanischer geostrategischer Interessen
Der angekündigte türkische Widerstand ist zwar eine Drohgebärde mit unklarem Potenzial. Aber die Türkei steht in ihrem offiziellen Beitrittswunsch nicht ohne starke Freunde da. Tony Blair will sich nun weiter für die türkische Mitgliedschaft einsetzen, weil der welthistorische Strang, an dem er und US-Präsident Bush zu ziehen glauben, derselbe ist. Bush höchstselbst drängte und drängt gegenüber der EU in Kopenhagen auf den Beitritt der Türkei.
Bushs globale Ambitionen liegen auf der Hand. Die Türkei ist ein geostrategisch eminent wichtiger Bündnispartner im immer währenden Antiterrorkampf, der mit der EU-Mitgliedschaft belohnt werden sollte. Wenn dieses zwar laizistische, aber islamische Land endgültig in den Westen - und das ist längst keine geografische Richtungsangabe mehr - eingemeindet wird, wird vor allem das Schreckgespenst eines Kampfs der Kulturen unwahrscheinlicher. Das türkische Militär steht zwar gegenwärtig noch kraftvoll gegen eine muslimische Fundamentalisierung, aber der Demokratisierungsprozess ist längst nicht abgeschlossen und die Frage ungewiss, welche Bedeutung nationalistische und religiöse Tendenzen in der Türkei zukünftig gewinnen könnten.
Ob dieser Beitritt für Europa wirtschaftlich sinnvoll ist, dürfte dabei die geringste Sorge des US-Präsidenten sein. Ideal für Bushs Hegemonialdoktrin des amerikanischen Internationalismus wäre ein geografisch großzügig bemessenes Europa, das politisch und militärisch auf Linie ist, ohne sich ökonomisch als ernst zu nehmendes Gegengewicht zu den USA zu entwickeln. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das amerikanische Interesse auf eine "möglichst weit gehende Identität der Mitgliedschaften in EU und NATO" zielt, "um die Steuerung beider Verbände durch Washington wesentlich zu vereinfachen."
Die EU muss sich gegen die amerikanische Globaluniformierung wehren
Aber Bushs militärische Weltfriedenspolitik kann schon deshalb keine Rolle spielen, weil allein die EU-Mitgliedstaaten die politischen wie ökonomischen Folgen eines Türkeibeitritts zu tragen haben. Die türkische Mitgliedschaft, die zu einer langfristigen Umstrukturierung, wenn nicht Neubewertung der EU führt, kann nicht von vorübergehenden Kriegskonstellationen, einer überhitzten Bündnispolitik und amerikanischen Hegemonialinteressen bestimmt werden. Die EU muss sich gegen die amerikanische Globaluniformierung wehren, wirtschaftliche Prosperität und Stabilität in Europa ohne klare Maßgaben einer hypertrophen Militärpolitikstrategie zu opfern, die gegenwärtig den Irak, morgen den Iran und übermorgen den Rest der amerikanischen Feinde fokussiert.
Eine bisher leider nicht von den USA offerierte Kompromisslösung bestünde indes noch darin, dass Amerika eine Bürgschafts- oder Schadensübernahmeerklärung für den Fall abgibt, dass der Türkeibeitritt zu einer ökonomischen Schwächung der EU führt. Denn wenn schon politische, militärische und wirtschaftliche Interessen im Zeichen kommender Kriege zum schwer genießbaren Brei des amerikanischen Internationalismus verrührt werden, sollten die selbst ernannten Kriegsherren der Welt auch die Kosten tragen, die kriegsunwilligen Ländern und ihren Gesellschaften durch diesen Sog entstehen.
Das Zentrum für Türkeistudien in Essen will bereits herausgefunden haben, dass die Türkei der größte Nettoempfänger der EU wäre. Auch wenn die Türkei im Jahre 2001 im Rahmen einer fiktiven Berechnung 8,2 Milliarden Euro erhalten hätte, lässt sich für die Zukunft zum wenigsten von sicheren Belastungsdimensionen ausgehen. Ohnehin wären auch hier wie im Fall von osteuropäischen Ländern Freizügigkeitsbeschränkungen von Arbeitnehmern zu erwägen, um zumindest die Beitrittswirkungen für die nationalen Arbeitsmärkte abzufedern.
Doch längerfristig ist eine EU-Mitgliedschaft mit einer Restriktion der Freizügigkeit von Arbeitnehmern kaum zu vereinbaren. Die Integration der in Deutschland lebenden Türken könnte hier weitere Hindernisse erfahren, die das politische Klima verschärfen und gesellschaftlichen Polarisierungen Vorschub leisten. Wie unklar diese Frage ist, machen allerdings Stimmen deutlich, die sich gerade vom Beitritt der Türkei eine Entlastung des Spannungsverhältnisses zu Deutschland versprechen.
Die Türken vor Brüssel: Diskussion über die Identität Europas ist verfehlt
Außenminister Fischers Feststellung, die Bedeutung der Erweiterung sei "in Geld gar nicht auszudrücken", muss vor diesen Hintergrund als ambivalente Aussage erscheinen. Nun erscheint es zwar vermessen in Anbetracht der sich vollziehenden Beitritte noch die Interessenidentität dieses politischen und ökonomischen Molochs EU plausibel zu konturieren, aber zumindest die politische Handlungsfähigkeit der EU nach außen muss ebenso Priorität besitzen wie die Verstärkung der binnendemokratischen Strukturen der EU. Mangelnde Transparenz europäischer Entscheidungsstrukturen ist eine alte Hypothek, die durch die jetzt vollzogene Erweiterung noch mehr überschuldet werden könnte. Gerade die Widersprüche der bundesrepublikanischen Politik wie auch der anderer Mitgliedstaaten sind nicht zuletzt ein Folgeprodukt der EU-Politik.
Die kulturelle Identität Europas ist ein Kapital, auf das man sich zum wenigsten verlassen kann, um die Hypotheken der Europäischen Union abzutragen. Insofern ist die Europa-Diskussion mit der jetzt vollzogenen Erweiterung und den Beitrittshoffnungen der Türkei längst aus ihrem identitätsstiftenden Traditionszusammenhang herausgetreten, der schon zuvor mehr eine Beschwörung als eine historische Gewissheit war.
Die Türken stehen diesmal vor Brüssel, nicht vor Wien und Untergangsvisionen des Abendlands können nicht das Leitmotiv des europäischen Integrationsprozesses sein. Entscheidend ist allein eine politisch ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse, die in gegenwärtigen Zeiten eine Gleichung mit vielen Unbekannten ist. Bushs Weltkomplexitätsreduktion kann jedenfalls nicht die europäische Lösung sein.
Wenn einer Umfrage zufolge die Mehrheit der Bundesbürger die türkische Mitgliedschaft befürwortet, könnte damit auch die Hoffnung verbunden werden, dass die politisch-strategischen Potenzen der Türkei für europäische Interessen genutzt werden. Insofern sollte Bushs Kalkulation nur mit umgekehrten Vorzeichen aufgehen, zumal sich die türkische Kriegslust in ähnlich überschaubaren Grenzen zu bewegen scheint wie die des Restes von Europa mit Ausnahme von Blairs Großbritannien.