"Der absolute Glaube, moralisch stets im Recht zu sein"

Seite 3: Ukraine-Krieg: Aufseiten der westlichen Eindimensionalität

Könnten Sie sich vorstellen, dass sich ideologische Tendenzen der 68er und Frankfurter bei der Beurteilung des Russland-Ukraine-Krieges niederschlagen?

Michael Wengraf: Spontan springt in diesem Zusammenhang der bereits angesprochene Verlust antiimperialistischen Denkens ins Auge und damit eben der Wandel linker Politik insgesamt. Die mächtigsten Länder des globalen Südens enthielten sich bei der UN-Abstimmung über den Ukraine-Krieg der Stimme oder blieben ihr fern.

Das heißt, sie weigerten sich, Russland explizit zu verurteilen, ergriffen nicht Partei für die Nato. Diese Staaten waren mit dem Einmarsch sicherlich keinesfalls glücklich, sprachen aber dem – von den USA angeführten – Imperialismus jedes moralische Recht ab, darüber zu urteilen. Putin und Russland werden nicht nur in Asien, sondern auch in Teilen Afrikas sowie der arabischen Halbinsel geschätzt, weil sie einen Gegenpol zur postkolonialen monopolkapitalistischen Diktatur darstellen. Dafür fehlt in der Linken Europas nach 1968 jedes Gespür.

Aus diesem Blickwinkel ergibt sich eine zweigeteilte Welt: Einerseits die alten Mächte USA und Europa, die mit der NATO-Osterweiterung den Bogen überspannt haben. Andererseits die befreiten Länder des Südens, die sich nicht mehr nach Belieben vor den Kriegstreiber-Karren der Imperialisten spannen lassen. Sie haben aufgrund ihrer Erfahrungen Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse Russlands und sehen die Ereignisse differenziert.

Diese Fähigkeit scheint den Intellektuellen und Linken in Europa und den USA hingegen vollständig abhandengekommen zu sein. Noch nie standen sie so einhellig und derart bedenkenlos enthusiasmiert aufseiten ihrer neoliberalen Herren. Niemals noch waren sie in solch einer Perfektion Teil der westlichen Eindimensionalität.

Die Frankfurter wiesen den Weg: Klatschte Horkheimer dazu, dass Amis in Vietnam die Freiheit verteidigten, so applaudieren Grüne, Sozis und gewendete Linke dem "Opfer" Selenskyj, wenn er heute dasselbe mithilfe faschistischer Banden in der Ukraine macht.