Der deutsche Riss: Das Land, die Medien, die Mediennutzung

Christiane Voges

Bild: DesignRage / Shutterstock.com

Bundestagswahl zeigt eine tiefe politische Kluft zwischen Ost und West – in den Medien bleibt der Westen der Maßstab. Analyse und Kommentar.

Niemand hat die Absicht, eine Spaltung zu errichten. Außer vielleicht einen pro-demokratischen oder eben antifaschistischen Schutzwall. Walter Ulbricht würde im Grabe rotieren.

Und nun zu etwas völlig Anderem: Geht der Spalt-Pilz weiter um in Deutschland? Wirkt er gar noch heftiger?

Etliche politische Akteurinnen und Akteure werfen sich gegenseitig vor, das Land zu spalten. Während man für die eigene Partei natürlich reklamiert, nur das Beste für Land, Volk oder Nation, für Staat und Wirtschaft zu wollen. "Wir", die Guten, kämpfen für das Gemeinwohl, "die dort drüben", die Bösen, jedenfalls nicht und können dann mehr oder weniger als Vaterlandsverräter beschimpft werden.

Bemerkenswert, wie die jüngste Bundestagswahl die parteipolitische Fragmentierung, ja Spaltung hierzulande zeigt und zementiert.

Machtverhältnisse am West-Maßstab ausgerichtet

Exakt alle vier etablierten West-Parteien, also Union, SPD, Grüne und FDP, sind im Westen etwa doppelt so stark wie im Osten. Und genau das Spiegelbild dazu ergibt sich mit Blick auf die drei Parteien, die (mehr oder weniger) als Ost-Gruppierungen gelten: AfD, Linke und BSW sind im Osten ungefähr zweimal stärker als im Westen.

Teil des gesamtdeutschen Problems: Die Machtverhältnisse werden trotz (oder auch wegen) dieser deutlichen Unterschiede ganz klar am West-Maßstab ausgerichtet. Denn dort leben weit mehr Menschen als im Osten.

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Die Strukturen

Das mag man für Zufall halten, aber es dürfte weit mehr auf relativ stabile soziale Strukturen rückführbar und damit erklärbar sein. Im Osten fehlt es vielerorts weiterhin an Kapital im weitesten Sinne, an wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und symbolischem.

Dort leben gerade nicht die Erbinnen und Erben der sogenannten sozialen Marktwirtschaft. Auf dem einstigen Gebiet der DDR schaut man anders als im Westen sowohl auf Russland als auch auf die EU und die Nato.

In den neuen Bundesländern wird eher "Gleichheit" als Orientierungs-Wert verstanden, denn "Freiheit".

Niemand hat die Absicht, eine Spaltung zu errichten?

Maß und Mitte, alles eine Frage des (West-)Maßstabes: Alle vier westlichen Parteien werden von sich selbst und dementsprechend auch leitmedial als "Parteien der Mitte" gelabelt – und wie es der Zufall so will, gelten die drei anderen, also die östlichen Parteien, als populistisch, extremistisch oder gar radikal.

In vielen etablierten Medien werden auch daher die drei eher "östlichen" Parteien weiterhin bestenfalls stiefmütterlich behandelt – mit gelegentlichen Ausnahmen, als z.B. vor Monaten das BSW in der Tendenz hochgeschrieben wurde, um womöglich Linke und AfD zu schwächen, oder dieser Tage, als die Linke kurz vor der Bundestagswahl auf einmal hochgejazzt wurde, um dem BSW zu schaden.

Die Themen auf der Tagesordnung

Zur Tagesordnung: Welche Themen setzten Leitmedien auf die Agenda und verstärkten sie? Exemplarisch hier das ZDF am Wahlabend, mit den angeblich wichtigsten Themen der Menschen hierzulande, die natürlich in der Frage als solcher schon vorgegeben waren:

1. Migration,
2. Wirtschaft,
3. Klima,
4. Kosten/Löhne
5. Rente/Alterssicherung

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Noch wenige Wochen vor der Wahl waren die Themengebiete "Krieg/Frieden" und "Soziales" sehr weit oben bei der Auflistung der "wichtigsten Probleme", vor allem bei Ostdeutschen.

Spaltungen

Jetzt taucht gerade das Thema "Krieg/Frieden" mit der wichtigen Dimension "Ukraine-Krieg" gar nicht mehr auf.

Zufall oder nicht – alle vier "West"-Parteien und damit potentielle Regierungs-Parteien (dort kann jeder mit jedem) waren und sind sich insbesondere in dieser Frage sehr weitgehend einig: Aufrüstung müsse sein, Waffen müssten geliefert werden, der Krieg müsse fortgesetzt werden, bis … ja, bis wann eigentlich?

Aber das Thema verschwinden lassen, das heißt zugleich, diese Frage weder stellen noch sie gar beantworten zu müssen.

"Soziales"

Das Thema "Soziales" ließ sich offenbar anders "herunterbrechen": Indem einfach zwei Bestandteile dessen, zwei Seiten derselben Medaille, nämlich Kosten/Löhne sowie Rente/Altersvorsorge, getrennt wurden und somit die Arbeitenden wenn, dann auf "Löhne/Gehälter" setzten, während die Senioren ggf. "Rente/Altersvorsorge" ankreuzten.

Schon taucht "Soziales" nur noch auf den Rängen vier und fünf auf. Zumindest auf dem Mainzer Lerchenberg, tief im Westen der alten Bundesrepublik.

Strukturelle Grünen-Neigung

Am Wahlabend hieß es vielfach in wichtigen Medien zunächst, die Grünen wären "weitgehend relativ stabil" geblieben. Auch die erste Prognose von ARD/infratest dimap sah diese Partei noch bei 13,7 Prozent (am Ende waren es 11,6 Prozent).

Bei keiner anderen Partei war die Abweichung zwischen Prognose und Ergebnis auch nur annähernd so groß. Anscheinend kommt in den Leitmedien aber niemand auf die Idee, dass die entsprechenden Befragungen eine eingebaute Tendenz haben könnten, weil offenbar bestimmte Leute erst gar nicht (mehr) mit solchen Medien und deren Umfragesinstituten reden (wollen).

Im Verlaufe des Abends wurde dann nachrichtlich von "geringen Verlusten" geredet, als ob man die Wortwahl der Grünen-Pressestelle übernommen hätte. Fakt ist: Wenn von 14,7 Prozent (Grüne BTW 2021) drei Prozentpunkte verloren gehen, sind das mehr als ein Fünftel der Stimmenanteile.

Langer Rede, kurzer Sinn: Die strukturelle Grünen-Neigung in vielen wichtigen Redaktionen wirkt. Und zwar spaltend: Spätestens, als dem geschlagenen grünen Spitzenpersonal (den Viertplatzierten!) in ZDF (Habeck) und ARD (Baerbock) ausführlichst und relativ mitfühlend erneut eine große Bühne geboten wurde, dürften im Osten auch die letzten treuen Beitragszahlenden abgeschaltet haben.

Die dritte Spaltung

Und damit zur dritten Spaltung: Jene bei der Mediennutzung: Kein Wunder, dass im Osten des weiterhin geteilten Landes vor allem andere Medien als ARD, ZDF, Spiegel, Zeit etc. herangezogen werden, um sich zu informieren, sich zur Meinungsbildung anregen zu lassen, Kritik und Kontrolle ausüben zu können, sich unterhalten zu lassen – kurz: sich gesellschaftlich wenigstens in Ansätzen repräsentiert und artikuliert zu sehen.

Ähnlich wie ihrerzeit für die von den großen Medien bestenfalls ignorierten, wenn nicht geächteten linken Sozialdemokraten Jeremy Corbyn (GB) und Bernie Sanders (USA) ist es für AfD, Linke und BSW sowie für ihre Mitglieder, Anhänger und Wählerschaften existentiell wichtig, dass es ergänzende Medien gibt zum Mainstream.

Klar, privatkapitalistische Plattformen, sogenannte "Social Media", eine weitere Ironie der Geschichte. Aber ohne X, Facebook, Instagram und TikTok hätten Alice Weidel, Heidi Reichinnek oder Sahra Wagenknecht kaum eine Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden.

Und was wird ihnen dann von den Höhen der Macht zugerufen? Ihr spaltet das Land! Was (nicht) zu beweisen war.

Wie schrieb Kurt Tucholsky im Jahre 1922?

"Im Übrigen gilt ja hier (in Deutschland, d.A.) derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht."