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Der doppelte Lauterbach

Ändert schon mal seine Meinung: Karl Lauterbach. Bild: Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0

Der Bundesgesundheitsminister hat mal wieder eine neue Wahrheit verkündet, dieses Mal zur Lockdownpolitik. Ein Kommentar

Grundsätzlich ist es gut und richtig, wenn Politiker nicht dogmatisch sind, sondern ihre Positionen gemäß der Fakten- und Erkenntnislage angleichen. Aber wie ist der jüngste Positionswechsel von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zu Effizient und Effektivität von Lockdowns zu bewerten?

Noch vor wenigen Monaten, da war die dominierende Omikron-Variante des Sars-CoV-2 schon auf dem Vormarsch, hatte der damals gerade vereidigte Minister einen "harten Lockdown" in Aussicht gestellt. Manche mögen das damals in der Debatte um die Legitimität der Restriktionen als Drohung empfunden haben.

Dabei gehörten Lockdowns von Beginn an zu der umstrittensten, weil freiheitsfeindlichsten Maßnahme, die in Einheit mit anderen Einschränkungen der Freizügigkeit die skurrilsten Blüten getrieben haben: Rentner, die von Parkbänken verscheucht wurden; Angler, die die Ufer räumen mussten; Großeltern, die Bußgeldbescheide erhielten, weil sie nachts einen Enkel zu viel auf den Rücksitzen ihres Pkw nach Hause fuhren. Und schließlich Alte, die zu Hause saßen oder in Altenheimen vereinsamt starben.

All das wischte Gesundheitsminister Lauterbach nun von Tisch, weil man mit Lockdowns "kaum etwas erreichen kann" und sie "zu keinem guten Ende führen".

Sicher, er bezog sich in einer ARD-Talkshow auf die Lage in China, wo die kommunistische Führung die Isolation besonders repressiv durchsetzt. Er gab seinem Urteil auf Nachfrage von Gastgeberin Sandra Maischberger aber auch für Deutschland Geltung. Und das ist ein Problem, mal wieder.

Denn zum einen gründet sich der Sinneswandel des Bundesministers nicht auf neue Erkenntnisse, die er idealiter transparent darlegte. Tatsächlich hatten Experten schon vor geraumer Zeit auf die Unwirksamkeit der Lockdowns hingewiesen und zuletzt – diesen Aspekt berührten weder Talkgast Lauterbach noch Talkmasterin Maischberger – vor den Kollateralschäden gewarnt.

Im Sommer vergangenen Jahren bereits wiesen Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie auf einen Anstieg teilweise kritischer Atemwegsinfektionen hin. Das Kürzel RSV, das für das Respiratorische Synzytial-Virus steht, versetzte Eltern und vorschulische Einrichtungen in Angst und Schrecken. Zugleich zeichnete sich deutlich ab, dass die Lockdown-Maßnahmen die erhoffte Wirkung verfehlt haben.

Pandemiepolitik muss ständig und transparent neu bewertet werden

Tobias Tenenbaum, der Vorsitzende der genannten Fachgesellschaft, wies auf junge Patientinnen und Patienten hin, "die mit Fieber, vermehrtem Husten oder auch verstärkter Atemnot in die Klinik kommen. Und wenn die dann relativ krank sind, müssen sie stationär aufgenommen werden und benötigen teils eben auch Sauerstoff." Einige bräuchten unter Umständen sogar eine Atemunterstützung und "auch mal eine Beatmung."

Dennoch hielten die Unions-SPD-Regierung und später die Ampel-Koalition noch monatelang an der Lockdown-Strategie fest. Wer sie infrage stellte, setzte sich dem Verdacht aus, der sogenannten Querdenker-Bewegung nahezustehen, Verschwörungstheoretiker zu sein, ein "Schwurbler", womöglich sogar ein Rechter.

Wenn Bundesminister Lauterbach nun plötzlich im Querdenker-Jargon "Einsperrmaßnahmen" kritisiert, nachdem er gegen alle Kritik einen "harten Lockdown" ins Spiel gebracht hatte, belegt das gar nicht mal unbedingt fachliche Defizite, wohl aber politisches und kommunikatives Unvermögen.

Denn die Corona-Politik folgte von Beginn an vermeintlichen Wahrheiten, die auf Biegen und Brechen verteidigt wurden – bis sie von ihren Vertretern in Bundes- und Landespolitik fallengelassen wurden.

Wer sie bis dahin hinterfragte, setzte sich der Gefahr der politischen Isolation aus. Querdenker, Epidemiologen, rechter Ideologe, Virologe – es gab keine Unterschiede mehr im Feindbild einer Pandemiepolitik, deren Vertreter das Beharren auf offensichtlich überholte Instrumente und Parameter mit politischer Stärke oder gar Größe verwechselten.

Sollte sich das Pandemiegeschehen zum Herbst hin wieder verschärfen, muss diese Erkenntnis beherzigt werden: Es gibt in einer Pandemie selten die eine Wahrheit. Und Maßnahmen, die zum Zeitpunkt ihrer Etablierung oft unweigerlich einen experimentellen Charakter haben, müssen im Sinne eines effektiven Katastrophenmanagements stets offen debattiert und neu bewertet werden.

Der Bundesgesundheitsminister hätte Größe bewiesen, wenn er dies bei seinem jüngsten Kurswechsel eingestanden hätte und auf die zugegangen wäre, die schon früher für eine flexiblere Krisenpolitik geworben und das Beharren auf eine Lockdown-Politik kritisiert haben.


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