Der einsame Tod des Mannes, der die Welt gerettet hat
Seite 2: Besuch in Frjasino
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Es dauerte noch drei Jahre, bis ich ihn im Sommer 2016 in Frjasino bei Moskau besuchte. Als das Taxi vor dem großen Wohnblock in der Uliza 60 let SSSR hielt, stand er schon, in der Hand eine Stofftasche, vor dem Eingang. Er kam gerade vom Kiosk, wo er noch Mineralwasser für uns beide eingekauft hatte.
Ich sah einen schmächtigen älteren Mann mit fahler Gesichtsfarbe, schon etwas klapprig auf den Beinen, der erkennbar schlecht sah. Wie er mir später erzählte, war eine Star-Operation nicht erfolgreich verlaufen.
Vor diesem Treffen hatte ich Angst gehabt. Ich wusste, dass seine zunehmende Bekanntheit ihm durchaus nicht immer zum Vorteil gereicht hatte. Die wenigsten seiner Besucher waren uneigennützig gewesen, von einem dänischen Regisseur waren er und seine Geschichte wie eine Goldmine zynisch ausgebeutet worden. Er war zu Recht misstrauisch.
Wir setzten uns in seine Küche und es wunderte mich nicht: Viele russische Männer, vor allem die älteren, tun sich schwer mit der Führung eines eigenen Haushalts – und das konnte man deutlich sehen. Ich fuhr alle meine Antennen so weit wie möglich aus, ignorierte die verwahrloste Küche und schaute ihm nur in seine schönen wässrig-hellblauen Augen.
Eine Stunde nahm er sich Zeit und ich erlebte auf dem abgewetzten speckigen Küchenmobiliar aus Kunstleder einen freundlichen, klugen, sensiblen und gebildeten Mann mit einer kräftigen dunklen Stimme.
Als ich ihn aus sentimentalen Gründen bat, mir ein Autogramm in mein Buch über Angst und atomare Aufrüstung zu schreiben, das ich 1982 im Vorfeld der Nato-Nachrüstung verfasst hatte, meinte er schmunzelnd: "Normalerweise sind es doch die Autoren, die Autogramme geben!"
Und er malte, aufgrund seiner schlechten Augen, vorsichtig jeden Buchstaben. Als ich später mir alles genauer anschaute, staunte ich nicht schlecht: Als Datum hatte er mir den 3. Juli 1916 notiert.
Der Retter der Welt hatte sich um ganze hundert Jahre geirrt! Der Kontrast war hinreißend: Hier irrte er sich um hundert Jahre – aber in der Nacht, als es Spitz auf Knauf stand, in der es um Sein oder Nichtsein für den gesamten Planeten ging, da hatte er schlafwandlerisch alles richtig gemacht!
Der Abschied war freundschaftlich und herzlich.
Späte Anerkennung
In den letzten zehn Jahren seines Lebens kam es dann doch noch zu einer gewissen späten Anerkennung. Er erhielt Einladungen nach New York, Westeuropa und besonders oft nach Deutschland. Und einige Preise waren nicht nur mit Ehre verbunden, sondern zum Glück auch mit – Geld!
Und doch blieb er, so scheint es mir, zugleich der einsame Mann in der verstaubten, unbenutzten Küche seiner Plattenbauwohnung, endlose 50 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum, vom Kreml entfernt.
Anlässlich einer Preisverleihung 2012 in Baden-Baden kam es am Ende eines Interviews, das die Tageszeitung Welt mit ihm führte, zu folgendem bemerkenswerten Dialog:
Herr Petrow, sind Sie ein Held?
Stanislaw Petrow: Nein, ich bin kein Held. Ich habe einfach nur meinen Job richtig gemacht.
Aber Sie haben die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahrt.
Stanislaw Petrow: Das war nichts Besonderes.
Man halte für einen Moment lang inne und mache sich klar, was dieser nüchterne Satz Petrows bedeutet: Er ist nichts weniger als das Understatement der Weltgeschichte.
Vor fünf Jahren, am 19. Mai 2017 starb Stanislaw Petrow im Alter von 77 Jahren in Frjasino.
Wie mir sein Sohn Dmitri Anfang September 2017 mitteilte, wurde er im engsten Familienkreis beigesetzt.
Es dauerte fast vier Monate, bis diese Nachricht die Welt endlich erreicht hatte.