Der erste 11. September
Vor 30 Jahren wurde in Chile eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt und eine Militärdiktatur eingesetzt
Am 11. September 1973 putschte eine rechte Clique chilenischer Militärs gegen den drei Jahre zuvor demokratisch gewählten Präsidenten des südamerikanischen Landes. Mit Salvador Allende Gossens starb an jenem Vormittag nicht nur der Präsident Chiles, sondern auch die Hoffnung auf seinen Dritten Weg zum Sozialismus (Der Putsch in Chile: Die mit Hilfe der US-Regierung in Blut getauchte "Demokratisierung" ließ einen verklärten Mythos der Linken entstehen).
Allende hatte gegen innere und äußere Widerstände inmitten des Kalten Krieges versucht, unter Wahrung der bürgerlichen Verfassungsrechte die Gesellschaft zu verändern. Seine moralischen Maßstäbe dabei waren hoch:
Wenn diese Regierung von der Rechten einmal gestürzt werden sollte, so würden sie damit beweisen, dass sie die Regeln brechen, die von ihnen selber geschaffen wurden.
Die faschistischen Militärs zeigten sich von der Anklage Allendes unbeeindruckt. Nachdem der Leichnam des Präsidenten verscharrt war und bereits tausende Kritiker in Konzentrationslagern interniert wurden, trat Augusto Pinochet, der Chef der Militärjunta, vor die Mikrophone:
Demokratie muss hin und wieder in Blut gebadet werden, damit sie wirklich eine Demokratie sein kann.
Der gelernte Arzt Allende, dessen Vorfahren schon im Unabhängigkeitskampf gegen die spanischen Kolonialherren aktiv waren, hatte es vollbracht, sechs Parteien auf die Zusammenarbeit einzuschwören. Mit einem Bündnisabkommen zur Volkseinheit (Unidad Popular) erklärten sich kurz vor Weihnachten 1969 die Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei, die Radikale Partei, die Bewegung der Einheitlichen Volksunion, die Unabhängige Volksaktion und die Sozialdemokratische Partei vor den 1970 bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zur Kooperation bereit.
Diese Leistung war beachtlich, weil die Linke in Lateinamerika zum damaligen Zeitpunkt in ein Moskautreues Lager und in sozialrevolutionäre Strömungen nach dem Vorbild Ernesto Guevaras Befreiungskampf gespalten war. Allende aber schaffte es, die verschiedenen taktischen und strategischen Interessen zu vereinen: Anfang November 1970 zog er als erster demokratisch gewählter marxistischer Präsident in einen westlichen Regierungssitz ein.
Damit übernahm er ein wirtschaftlich daniederliegendes Land. Chile war mit seinem Kupferbergbau stark von US-amerikanischen Firmen abhängig: Vier Milliarden Dollar Auslandsschulden drückten auf die Staatskasse, 300.000 Arbeitslose und über 500.000 Obdachlose waren das soziale Erbe der Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei.
Die sozialen Gegensätze in Chile Anfang der siebziger Jahre waren enorm. Gegen die 1,5 Millionen unterernährten Kinder startet der Sozialist sein Programm für "Einen halben Liter Milch für jedes Kind". Im Landesdurchschnitt beträgt die Kindersterblichkeit zehn Prozent, auf dem Land sogar bis zu 30 Prozent. Neben den Ernährungsprogrammen gehören zur Politik der Volkseinheit umfassende Bildungsprogramme. José Cademártori, der unter Allende Wirtschaftsminister war, zeigte sich auf einer Konferenz zum 30. Jahrestag in Berlin sicher, dass sich die Menschen über die siebzehn Jahre Diktatur hinaus an diese Sozialpolitik erinnern.
Bis zum Amtsantritt der Regierung Allendes am 4. November 1970 konnten ausländische Unternehmen den größten Teil ihres Gewinnes aus Chile herausschaffen. Der US-amerikanische Telekommunikationskonzern ITT hatte dem Land sogar einen Vertrag aufgezwungen, der es ihm erlaubte, seinen Gewinn in Form von Gold aus dem Andenland herauszuholen. Zu einer Hauptlinie in Allendes Politik gehörte es, diese Kräfteverhältnisse zu ändern: Als er die Regierung übernahm, befanden sich über 46 Prozent des Aktienkapitals der 30 größten Industrieunternehmen Chiles im Besitz ausländischer Konzerne. Aus dem lukrativsten Wirtschaftszweig, dem Bergbau, flossen täglich 1,5 Millionen US-Dollar ins Ausland ab.
Die ausländischen Konzerne sahen ihre Profite durch die sozialen Reformen und gesellschaftlichen Umwälzungen gefährdet, die von der Volkseinheit eingeleitet wurden. Ihnen waren die Lohnerhöhungen ebenso zuwider wie die Arbeitsrechte auf Mitbestimmung und die Nationalisierung der Betriebe. Deshalb zählten sie zu den Interessenten und Drahtziehern des blutigen Putsches.
Heute ist von alledem nur noch wenig zu hören.
Wenn wir im Jahr 2003 außerhalb Chiles auf die Straße gehen und die Menschen nach dem 11. September befragen, dann denken neun von zehn an die Anschläge vor zwei Jahren in den USA.
Fransisco Villa, einer der bekanntesten Liedermacher Chiles
Die Kommunikationsmedien hätten es ermöglicht, die Anschläge live auf jeden Bildschirm der Welt zu bringen. Dabei sei viel mit Emotionen gespielt worden, die solche Bilder natürlich auslösten, weil man sich des Schmerzes bewusst wird, der in den betroffenen Familien zurückbliebe. "Andere Bilder und anderer Schmerz aber wird den Menschen vorenthalten", beklagte Villa im Gespräch. Diese kulturelle und mediale Hegemonie sei so einfach und zugleich so effektiv, dass es den USA nicht nur gelungen sei, den chilenischen 11. September "und ihre Verantwortung dafür" aus dem Bewusstsein der Welt geradezu auszulöschen, sie transportierten zugleich ihre politische Nachricht des Gegenschlages in alle Welt:
Bis 2001 waren die USA am 11. September vor allem Täter, danach machten sie sich zu Opfern.