Der erste Liberale
"Was ist Wahrheit?", Christus und Pilatus. Bild (1890): Nikolai Ge / gemeinfrei
Pontius Pilatus, eine der am meisten verleumdeten historischen Personen der Weltgeschichte, praktiziert jene Diskursbereitschaft und Toleranz, auf die moderne Gesellschaften mit Recht stolz sind
But what is truth? Is truth unchanging law? / We both have truths – are mine the same as yours?
Pontius Pilatus in "Jesus Christ Superstar" (1970)
Pontius Pilatus ist eine der am meisten verleumdeten historischen Personen der Weltgeschichte. Ähnlich wie ein paar andere Gestalten, die eine differenziertere Betrachtung verdienen, wie Nero, Richard III. oder zurzeit gerade Wladimir Putin, hat er in unseren Breitengraden nur wenige Verteidiger oder Menschen, die für ihn Verständnis haben, und Fans gibt es so gut wie gar keine.
Der Einzige, der hier gegen den Strom schwimmt, ist der Philosoph Friedrich Nietzsche. In einer berühmten Passage seines Spätwerks "Der Antichrist" schreibt Nietzsche:
Habe ich noch zu sagen, daß im ganzen Neuen Testament bloß eine einzige Figur vorkommt, die man ehren muß? Pilatus, der römische Statthalter. ... Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Mißbrauch mit dem Wort 'Wahrheit' getrieben wird, hat das Neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Wert hat – das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: 'Was ist Wahrheit!'"
Friedrich Nietzsche
Hat Pontius Pilatus recht?
Was hat Nietzsche gemeint? Hat Pontius Pilatus recht? War er gar ein anständiger, ehrenwerter Mann? Das Christentum zeichnet Pontius Pilatus normalerweise, wenn nicht als bösen, korrupten Menschen, dann zumindest als eine schwache, traurige Figur, als jemanden, der wider seine besseren Instinkte gehandelt, dem Druck der lokalen Autoritäten und der aufgeheizten Massen nachgegeben und Jesus zum Tode verurteilt hat.
Wenn man an die Göttlichkeit Christi glauben kann, dann ist dieses Pilatus-Bild so ziemlich das Günstigste, das man sich von ihm machen kann.
Aber was ist, wenn man das nicht tut? Wenn man, wie inzwischen über die Hälfte aller Deutschen, nicht glaubt, und wie der überwiegende Teil der Menschheit mit der christlichen Heilsgeschichte bestenfalls eine menschengemachte Mythologie unter vielen sehen kann, die ein paar historische Figuren auftreten lässt, wie den unter Kaiser Tiberius ernannten Präfekten von Judäa [1], der dort übrigens ungewöhnlich lange – mindestens die zehn Jahre zwischen 26 und 36 n.Chr. – amtierte, was dafür spricht, dass seine Tätigkeit in der notorisch unruhigen Provinz einigermaßen erfolgreich war.
"Seht, welch' ein Mensch!" oder: Die Perspektive des Pilatus
Was also, wenn man seine möglicherweise vorhandenen religiösen Überzeugungen beiseite lässt und versucht, die ganze Geschichte einmal aus der Perspektive von Pilatus zu sehen? Dann ist dieser Jesus Christus nicht der "Sohn Gottes". Er ist nur ein seltsamer, in bürgerlichen Kreisen unbeliebter, bettelarmer, schlecht riechender, zottelbärtiger und auch sonst unzivilisierter Provinzler, der mit seinen seltsamen esoterischen Geschichten Blasphemie übt und die Leute aufwiegelt; und der, soweit man das beurteilen kann, offenbar behauptet, der "König der Juden" zu sein – was den Tatbestand des Hochverrats erfüllte.
Seine jüdischen Landsleute beschuldigen ihn der Gotteslästerung und schreien nach seinem Blut. Aber es ist auch klar, dass hier eine Priesterkaste urteilt, die ganz im Dienst der konservativen Händlerklasse steht und vor allem daran interessiert, das Volk ruhig zu halten und ihre Geschäfte zu machen.
Es ist ebenso klar, dass hier auch ein Kampf der Autoritäten ausgetragen wird: Zwischen der traditionellen Priesterkaste und den zahlreichen neuen Sekten, die sie herausfordern. Einen solchen Konflikt kann man sich als römischer Präfekt durchaus zunutze machen – "divide et impera", teile und herrsche, lautet seit jeher eines der wichtigsten Prinzipien römischer Machtausübung.
Als römischer Statthalter hat man also kühl abzuwägen, zwischen der Möglichkeit, den lokalen Oligarchen das Blutopfer zu geben, das sie möchten, und damit ihre Ansprüche ein wenig still zu stellen, und der Möglichkeit, sie in die Schranken zu weisen, indem man einen Konkurrenten schützt und stärkt.
"Wollt ihr Jesus oder Barabbas?" oder: Die Lust der Massen
Soweit Pilatus im folgenden Verfahren erkennen konnte, hat der im Verhör überaus wortkarge Charismatiker nichts Wichtiges und nach römischem Gesetz Unrechtes getan. Aber die lokale Bevölkerung und ihre Führer sind entschlossen, an diesem Provokateur ein Exempel zu statuieren. Mit seinem hohen Ton, den schönen wohlfeilen Reden und dem unübersehbaren Talent, das nichtsnutzige Pack der Tagelöhner, Hilfsarbeiter und des Rotlichtmilieus mitzureißen, geht er ihnen ungemein auf die Nerven.
Sie drohen Pilatus einen Aufstand anzuzetteln, wenn er am Leben bleibt. Ihn zu verschonen oder ihn zu töten, ist unter den gegebenen Umständen gleichermaßen legal, und obwohl Pilatus erstere Möglichkeit gerechter erscheint, ist Gerechtigkeit ja nicht alles. Es erscheint wichtiger, weiteren Streit und Blutvergießen zu verhindern und die Leute durch ein Bauernopfer zu beschwichtigen. Ganz wohl fühlt sich Pilatus mit dieser pragmatischen Entscheidung nicht wohl.
Darum gibt er den lokalen Behörden jede Chance, ihre Meinung noch zu ändern, und signalisiert durchaus, dass man dem Volk auch durch die Hinrichtung des Mörders und Berufskriminellen Barabbas ein unterhaltsames Spektakel bereiten könnte. Aber sie erweisen sich als stur wie immer, und so ließ Pilatus die Hinrichtung zu, wobei er nochmal öffentlich sehr klarstellte, dass es nicht seine Entscheidung sei, sondern ihre.
"Ich wasche meine Hände in Unschuld" oder: Die Stärke des Souveräns
Indem er also seine Hände in Unschuld wusch, zeigte Pilatus Stärke. Es ist die Stärke des Souveräns, der über dem (lokalen) Gesetz steht, der über seine Geltung oder Außerkraftsetzung entscheidet, das auch hier könnte, dies aber aus Staatsraison unterlässt. Es ist nichts Schwaches daran, etwas Unangenehmes zum Wohle der Allgemeinheit zu tun und in seinem Handeln die wahrscheinlichen Folgen des Missfallens des Volkes zu berücksichtigen.
Genau dies bestätigt auch ein durchaus zugunsten Christus parteiischer Berichterstatter, der Evangelist Markus, der die ganze Sache kommentiert: "Und so ließ Pilatus, der das Volk zufriedenstellen wollte, Barabbas frei und übergab Jesus, nachdem er ihn gegeißelt hatte, um ihn zu kreuzigen."
In den Berichten anderer ist Pilatus weniger ein "williger Vollstrecker", als einer, der sich dem Druck beugt. Dies aber nur, wenn man fälschlicherweise annimmt, dass Duldung immer Unterwerfung oder gar passive Zustimmung bedeutet. Es kann sich auch um herrschaftliche Gleichgültigkeit handeln, besonders wenn die Person, die sie an den Tag legt, viel mehr Macht hat als diejenigen, denen sie sie zeigt.
An dieser Stelle kommt nun wieder Nietzsche ins Spiel.
"Was ist Wahrheit?" Oder: Sklavenmoral und Wutbürger
Friedrich Nietzsche prangerte beim Christentum vor allem dessen "Sklavenmoral" an, eine Wendung des Ressentiments der Schwachen gegen die Starken, eine Rache der Niedrigen an den Hohen, die widernatürlich alles Sklavische – Schwäche, Sanftmut, Nachsicht, Gleichgültigkeit gegenüber der Welt – zum "Guten" und alles Herrische – Macht, Stolz, Liebe zum Leben – zum "Bösen" erklärte (vgl. hierzu "Genealogie der Moral", besonders I.Abhandlung, §10).
Pilatus, als römischer Statthalter, ist die Verkörperung der Macht und Vornehmheit. Er möchte zwar nicht, dass Jesus hingerichtet wird, aber es stört ihn auch nicht sonderlich. Er sieht keinen Grund, Jesus hinzurichten, er respektiert ihn sogar. Er ist erstaunt und vielleicht sogar ausreichend angewidert vom unvernünftigen, bigotten Hass des Pöbels, um auf seine eigenen besseren Instinkte zurückzugreifen, aber letztlich findet er, dass es ihn auch nichts angeht, was die Einheimischen einander antun.
Andere Länder, andere Sitten. Er erwartet sowieso nicht, dass sich diese Barbaren und verrückten Monotheisten sonderlich vernünftig verhalten – das tun sie schließlich sonst auch nicht. Deshalb lässt er geschehen, was sie von ihm verlangen. Wenn ihm das Schicksal Jesu wirklich am Herzen gelegen hätte, hätte er darauf bestanden, ihn zu verschonen, und den Mob der Wutbürger krakelen lassen.
Natürlich hatte Pilatus alle Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Er hatte nur nicht den Willen dazu. Verdient er deshalb unsere Achtung? Im Sinne Nietzsches unbedingt, denn für ihn verkörpern die Zivilisierten, Starken das Gute, vor allem wenn sie sich nicht durch Mitleid schwächen lassen, sondern sich von allem Schwachen fernhalten.
Pontius Pilatus' Frage nach der Wahrheit ist natürlich Ausdruck von Skeptizismus und agnostischer Überlegenheit über jene primitive Vorstellung, dass es nur einen, absolut herrschenden Gott geben könnte und nicht einen vielstimmig-diversen Götterhimmel.
Die dahinter stehende Haltung ist aber vor allem eine erzliberale Toleranz gegenüber weltanschaulichen Disputen, die doch eher in den Bereich persönlicher Händel fallen, und die radikal-republikanische, laizistische Überzeugung, einer weltanschaulichen Neutralität von Staat und Verwaltung interpretieren.
Wahr ist, was funktioniert
Das ist überaus modern. In der Gegenwart sind die Idee der Wahrheit und der dahinter liegenden Wahrheitsansprüche philosophisch "kleingeschrieben" (Richard Rorty). Trotz einer gewissen modischen Konjunktur des Begriffs durch das politisch relevant gewordene Thema der "Fake News" und der "Alternativen Wahrheiten" ist es wissenschaftlicher Konsens, dass sich ein wissenschaftlich haltbarer Begriff von Wahrheit nicht denken lässt. Wahr ist, was funktioniert.
Das heißt: Man weiß, wie man ein bemanntes Raumschiff zum Mond schießt und wieder auf die Erde zurückkommen lässt. Man weiß aber auch, dass die dahinterliegenden Theorien eben bloße Theorien sind. Also zum Teil unbewiesene, vielleicht unbeweisbare, jedenfalls noch nicht bewiesene Annahmen sind, und dass das dahinterliegende Weltbild modellbasiert und überaus reduktionistisch ist und zahlreiche entscheidende Fragen offenlässt.
Das bedeutet nicht, dass diese Theorien unwahr sind. Es bedeutet nur, dass das Kriterium Wahrheit hier nicht greift. Und es bedeutet das Wissen, dass selbst manches, was bewiesen werden kann, für das es also einen wissenschaftlichen Beweis gibt, deswegen keineswegs "wahr" ist.
Darauf zielt Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrheit, die sich durch sein komplettes Werk zieht. Nietzsche ist kein Gegner der Wissenschaft. Im Gegenteil interessierte und informierte er sich sehr genau über die modernsten Wissenschaften seiner Zeit, insbesondere über die ersten Ansätze zu Psychologie und Psychoanalyse modernen Sinnes, sowie auf die während seiner Lebensspanne modische naturwissenschaftliche Theorie, die Evolutionstheorie und deren Übertragung von der Biologie auf den Bereich des Sozialen und der Kultur.
Gerade diese Wissenschaften führten Nietzsche zu einer grundsätzlichen neuen Weltsicht. Sie basiert auf dem Grundgedanken, alles Existierende, also auch Mythen und Narrative – zu denen er Religionen aller Art ebenso rechnet, wie Weltanschauungen, Werte oder Ideale (wie, in heutigen Begriffen ausgedrückt: Gerechtigkeit, Diversität, Inklusion) – pragmatisch und nicht idealistisch zu betrachten. Das bedeutet, dass alles Existierende auf seinen Nutzen für die Natur, in diesem Fall die Natur des Menschen hin befragt wird. Und befragt werden muss.
Es geht also selbst bei dem Begriff bzw. dem Kriterium der Wahrheit, das bereits eine Art Grundlage des erkenntnistheoretischen Gerüsts darstellt, letzten Endes darum zu fragen, ob Wahrheit nützlich oder schädlich ist? Oder wozu sie nützt? "An sich" ist Wahrheit für Nietzsche, ganz unabhängig von der Frage, ob sie überhaupt "existiert" und ob wir sie finden und bestimmen können, völlig ohne Wert. Sollte es eine erkannte Wahrheit geben, die den Menschen, bzw. der Gattung Mensch, bzw. dem "Leben" schadet, wäre diese Wahrheit nach Nietzsches Ansicht sogar zu bekämpfen.
Aber dies ist alles ist mit Nietzsche gedacht sowieso nur ein theoretisches Modell. Denn Wahrheit im Sinne Nietzsches ist überhaupt nicht an sich, also losgelöst von subjektiven Perspektiven und vor allem losgelöst von Interessen zu denken. Wahrheit ist denkbar nur als Funktion eines triebgestützten Systems von Bedürfnissen. Also als Funktion des einzelnen Menschen oder seiner Gesellschaft oder einer wie immer formierten, zum Beispiel religiös organisierten Gemeinschaft.
Umgekehrt können Irrtümer, also Unwahrheiten, nützlich sein. Wir kleiden sie dann nicht in enttäuschende, pessimistische Begriffe, sondern nennen sie zum Beispiel "Ideen" und "Utopien" (in Wissenschaft und Politik), "Illusionen", "Fiktionen" und "Narrative" (in Ästhetik und Kunst). Ihre Funktion besteht in Komplexitätsreduktion und Leitfunktion, also darin, den Blick auf die Welt zu vereinfachen und zu lenken, also darin, dem menschlichen Leben Kraft und Energie zu geben.
Man kann die Frage des Pilatus durchaus als Ausdruck einer solchen nietzscheanischen Auffassung von Wahrheit verstehen. Auch Pilatus stellt die rigiden Ansprüche einer religiös geprägten Moral oder einer mit Immanuel Kant begründeten Sittenlehre und die entsprechenden traditionalistischen, alteuropäischen (Niklas Luhmann) Wissenschafts- und Erkennstnistheorien infrage. Seine Frage "Was ist Wahrheit?" macht uns in Fragen von Prinzipien und Moral elastisch und anpassungsfähig.
Paradoxien und Widersprüche zwischen Werten sind keine tragischen Verstrickungen und Probleme mehr, die unbedingt gelöst werden müssen. Man muss sie aushalten. Insofern ist Pilatus überaus modern, als dass er das bereits vor fast 2000 Jahren erkennt: "Was ist Wahrheit?" heißt eigentlich: Wahrheit ist in vielen konkreten menschlichen Zusammenhängen unwichtig.
Im Gegenteil: Menschen, die fortwährend durch die Gegend laufen und allen anderen erzählen, dass gerade sie und nur sie die Wahrheit mit Löffeln gefressen und für sich gepachtet haben, und Dinge von sich geben, wie "Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme", zugleich dass ihr Reich nicht von dieser Welt ist, solche Menschen sind mindestens asozial. Wir alle kennen diese "Dreiviertel-Verrückten".
Pilatus banalisiert die Tragik der Existenz dagegen, indem er die Wahrheit banalisiert. Er ist ein Ironiker im Sinne von Richard Rorty.
Verachtung für religiösen Fundamentalismus
Man muss jedoch nicht unbedingt überzeugter Nietzscheaner sein, um in der olympischen Heiterkeit des Pilatus, seiner kolonialen Gelassenheit und seiner souveränen Verachtung für religiösen Fundamentalismus, die Traditionen und Überlieferungen lokaler Kulturen und die Empörungsbereitschaft der niederen Stände gewisse Tugenden und ein fortgeschrittenes modernes Bewusstsein zu erkennen.
Stellen wir uns im Gegensatz dazu eine Mutter vor, der sich in die Streitereien ihrer Kinder einmischt und Partei ergreift – würde sie nicht damit aus der Rolle fallen, den Respekt der Kinder verlieren und ihre Position nachhaltig schädigen? Ein kaiserlicher Statthalter hat eine noch viel höhere, unbestreitbare, durch Recht und Macht gestützte Autorität: Indem er es unterlässt, persönlichen Vorlieben für Einheimische kraft seiner Autorität Lauf zu lassen, stärkt er diese Position und vermeidet es, sein Amt zu einem persönlichen Vehikel zu degradieren.
Er handelt vernünftig, akzeptiert die rechtsstaatlich gesetzten Grenzen der Macht ebenso wie die Privilegien, die er genießt, und bestätigt sie gerade damit und erweist sich damit ihrer würdig. Und dies – einer hohen Position würdig zu sein – ist die ursprüngliche Bedeutung der von Nietzsche gegen die Sklavenmoral ins Feld geführten "Vornehmheit" ("Jenseits von Gut und Böse"; Neuntes Hauptstück).
In diesem Licht müssen wir die berühmte Frage des Pilatus "Was ist Wahrheit?" verstehen. Der Evangelist Johannes schildert sie eher als eine flapsige, spöttische Bemerkung, geäußert aus überlegener, höherer Position denn als eine echte Frage:
"Dazu bin ich geboren und dazu bin ich in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der in der Wahrheit ist, hört meine Stimme. Pilatus spricht zu ihm: Was ist Wahrheit?"
Verständigungsprobleme oder: Πόντιος Πιλάτος & ܝܶܫܘܽܥ ܡܫܺܝܚܳܐ
Wie haben sich die beiden eigentlich verständigt? Pilatus sprach Latein und Griechisch, aber nicht aramäisch, die Sprache von Christus. Und Christus war ungebildet. Er sprach nicht Griechisch oder Latein. Das macht klar, dass das angebliche Treffen zwischen Pilatus und Christus höchstwahrscheinlich eine nachträgliche Konstruktion von interessierter Seite war.
Umso interessanter, dass hier, von christlich-interessierter Seite der zentrale Satz der Pilatus-Geschichte steht: "Was ist Wahrheit?" Dieser Ausdruck, die komplette Relativierung von Wahrheit und allen Geltungsansprüchen, steht deshalb problemlos in der Bibel – obwohl ihn, erinnern wir uns, Nietzsche das "einzige Wort, das Wert hat, das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist" nennt –, weil er schon für früheste Christen, also für philosophisch ungebildete, des Lesens unkundige, jederzeit zum Selbstmord ("Marthyrium") bereite Unterklassen, komplett unbegreiflich war, und nur als Machtzynismus verstanden werden konnte, nicht als Äußerung eines aufgeklärten Geistes.
Christen und andere gläubige Anhänger einer Religion konnten und können genau genommen bis heute nicht denken, dass die Wahrheit relativ ist, und dass jemand sich für Wahrheit gar nicht interessieren könnte. Dass jemand tolerant gegenüber widersprüchlichen Ansichten sein könnte.
"Ich finde keine Schuld an ihm" oder: Gegen den Moralismus
Pilatus war zwar kein Postmodernist, sondern ein Römer, trotzdem bleibt es unklar, ob er seine Frage nur als rhetorischen Spott oder resignativ gemeint hatte – das wäre überaus zeitgemäß – oder als eine echte philosophische Frage, die wörtlich gemeint ist – das wäre fast schon frühe Neuzeit – oder vielleicht am ehesten im Sinne des 20.Jahrhunderts.
Als Frage nach der Unterscheidung zwischen "der Wahrheit" und "Wahrheit", zwischen dem, was tatsächlich wahr ist, und den Kriterien, die wir verwenden, um es zu identifizieren, eine Unterscheidung, die Jesus seiner Meinung nach verwischt hatte, die aber in bestimmten philosophischen Schulen seit dem Linguistic Turn [2] (Richard Rorty [3]) als zentral gilt.
Nachdem er seinen Standpunkt durch die ohne Erwartung einer Antwort gestellte Frage dargelegt hatte, hielt er es zweifellos nicht für nötig, die Diskussion fortzusetzen, nicht zuletzt, weil Jesus, wenn man sich in Pilatus' Position versetzt, wie ein beliebiger Fanatiker geklungen haben muss.
Angesichts dieser Tatsache gibt es keinen Grund, ihn für leichtfertig zu halten. Im Gegenteil: Indem er die Frage, ob Jesus die Wahrheit sagt, zugunsten der pragmatischeren, abstrakteren Frage, wie man das herausfinden könnte, übergeht, beweist er erneut seine vornehme Souveränität, und erhebt sich über den banalen Streit der Einheimischen.
Wenn er hinausgeht und dem Wutbürger-Mob deutlich sagt: "Ich finde keine Schuld an ihm", dann bedeutet das natürlich nicht, dass Jesus aus seiner Sicht recht hat, sondern nur, dass Meinungsäußerungen allein kein Verbrechen sind. Derartige Passagen kann man direkt auf heutige Debatten über die Grenzen der Meinungsfreiheit und den Umgang mit Querdenkern übertragen.
Der Querdenker von Galiläa
Irrtum und Esoterik, auch der Glaube an Verschwörungstheorien sind weder verboten, noch ein asoziales Verhalten. Sie sind auch kein Straftatbestand. Bestraft wird man für gesetzeswidrige Handlungen, und die hat der Querdenker Jesus Christus nicht begangen, jedenfalls nicht nach römischem Recht, sondern nur nach den überholten Traditionen der Einheimischen – die einem Präfekten des Imperiums herzlich egal sind.
Dies ist die Antwort auf den von Christen und anderen Sklavenmoralisten gern zu hörenden Einwand, dass Pilatus, wenn er seines Amtes wirklich würdig gewesen wäre, es genutzt hätte, um Gerechtigkeit walten zu lassen.
Wer das behauptet, hat nichts verstanden! Denn die Frage, was ist Wahrheit? Ließe sich selbstverständlich genauso umformulieren in die pragmatisch praktische Frage: Was ist Gerechtigkeit? Auch diese wurde in über 2000 Jahren Moralphilosophie noch nie zureichend beantwortet. Es ist noch nicht mal klar, ob das Ziel menschlichen Handelns überhaupt in Gerechtigkeit liegt, und nicht vielmehr in der Herstellung von Gleichheit oder der von Freiheit oder in der menschlichen Solidarität und Fairness.
Pilatus setzt sich dafür ein, dass Jesus verschont wird. Er beschränkt seinen Einsatz lediglich auf die Sphäre seiner Autorität, auf die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, im Gegensatz zu den Beziehungen zwischen den Regierten selbst. Es geht hier also auch darum, dass Pilatus einen Sinn für die Grenzen und die Begrenzung der Macht hat.
Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Einheimischen seine Autorität respektieren. Sie liegt nicht darin, ihnen seine Vorstellungen von Gerechtigkeit aufzuzwingen.
Wäre denn das wiederum gerecht? Das ist ein weiterer aktueller Kern der Frage des Pilatus. Christen; Islamisten, amerikanische Neokonservative und deutsche Nationalisten und manche Linke haben absolute Prinzipien, die sie auch auf alle anderen übertragen wollen.
Liberale Skepsis
Im Gegensatz dazu besteht die römische Tradition in einem liberalen Skeptizismus, wie er sich im Denken von Cicero und Seneca ausdrückt. Beide argumentierten, dass abstrakte Prinzipien zu unsicher seien, um das Handeln zu leiten, zu fremd und ungewohnt, um in den neu eroberten Provinzen mit ihren fremdartigen, auf Römer oft bizarr wirkenden Kulturen Zuneigung zu gewinnen. Gewohnheiten, die sich bewährt haben und vertraut sind, seien eine weitaus sicherere Sache. Und Gewohnheiten variieren natürlich von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit, was darauf hinführt, dass unterschiedliche politische Vorgehensweisen für unterschiedliche Völker geeignet sind.
Es spricht viel dafür, dass dies ein Grund für Pilatus' Politik der wohlwollenden Vernachlässigung gewesen ist, einer toleranten Nachsicht des "leben und leben lassen", die eine grundsätzliche Zufriedenheit mit der Welt und die optimistische Bereitschaft zur Toleranz bezeugt, und auf der bis in die Gegenwart anhaltende Erfolg des römischen Herrschafts- und Gesellschaftsmodells und des Römischen Rechts beruht.
Pilatus ist Rationalist. Er überprüft, fragt nach und bildet sich sein eigenes Urteil. Dieser moderne liberale Skeptizismus trägt auch dazu bei, die mögliche Empörung zu lindern, die manche von uns modernen (oder modischen) Postimperialisten angesichts der Gleichgültigkeit von Pilatus gegenüber lokalen Empfindlichkeiten empfinden mögen. Denn wenn er ein Imperialist war, dann war er ein Imperialist der bestmöglichen Art - einer, der sich nur dort einmischte, wo es unumgänglich war.
Pontius Pilatus hat aus der leidigen Angelegenheit um den Aufrührer Jesus Christus das Beste gemacht.
Von "Hosianna" zu "Kreuziget ihn!"
Was die Pilatus-Figur für uns ebenfalls interessant macht, ist, dass die Geschichte des Pilatus zugleich eine über die Schaulust und die Spektakelgesellschaft ist. Die Passionsgeschichte ist damit auch eine Geschichte der Passion des Pontius Pilatus.
Es geht darin eben nicht um billige Mitleidspädagogik, die sich auf den armen Christus bezieht, und es geht auch nicht um Belehrung und Bekehrung oder darum, wie Menschen angeblich handeln müssen. Sondern diese Geschichte zeigt das Scheitern der Vernunft an der Emotionalisierung und Hysterisierung des breiten Publikums.
Sie zeigt auch, wie man weiterleben kann, wenn die Vernunft gescheitert ist. Pontius Pilatus will den unwichtigen Sektierer Christus begnadigen - wenn auch nur aus Gleichgültigkeit. Das funktioniert aber nicht, weil die erhitzte, aufgepeitschte Masse Blut sehen will.
Die Passionsgeschichte zeigt die gefährliche Ambivalenz des "Volkes" und erzählt von der Wankelmütigkeit dieser Masse, von Menschen, die beim Einzug Jesu in Jerusalem noch begeistert in Ekstase geraten und sich die Kleider vom Leib reißen, um sie auf den Boden zu werfen und als roten Teppich für den umjubelten angeblichen Gottessohn auszubreiten. Nur fünf Tage später hat sich der Wind gedreht. Aus "Hosianna" wurde "Kreuziget ihn!"
Jesus wie Pilatus sind Opfer der Massen- und Spektakelgesellschaft. Denn eigentlich sieht Pilatus keinen Grund, Jesus zu verurteilen. Er hält ihn für einen esoterischen Spinner, aber nicht für gefährlich. Mit Aufrührern kann Rom umgehen. Barabbas hingegen ist ein Berufsverbrecher und Mörder. Aber er lieferte für die breite Masse offenbar die bessere Show.
Hätte es damals schon soziale Netzwerke gegeben, hätten sich die Leute ähnlich auf die Seite von Barabbas geschlagen, wie heute verurteilte Serienmörder oder kranke Schlächter wie Charlie Manson Liebesbriefe ins Gefängnis bekommen.
Pontius Pilatus in der Filmgeschichte
Die Kunstgeschichte bildet dies weitaus besser ab, als die Kulturgeschichte. Unvergesslich und noch immer eine der besten Quellen für alles, das mit der Christus-Geschichte zusammenhängt, also auch für die österliche Passionsgeschichte ist der bahnbrechende Film der Monty Pythons: "Das Leben des Brian".
Unrettbar modern formuliert er alles, was an Religiosität und fundamentalistischen Überzeugungen für einen liberalen Geist grotesk, bizarr, lächerlich und gefährlich erscheinen muss.
Wobei die Darstellung des Pontius Pilatus hier weitaus unterkomplexer [4] ist (und sich auf Spötteleien über die Sprachbehinderung der Figur beschränkt) als der grundsätzliche Kommentar zum Relais zur Religion in diesem Film, die Darstellung sektiererische Umtriebe und des mörderischen Wahns der alten Religionen innewohnt.
Eine klassischere, aber mephistophelisch überhöhte Darstellung des Pontius Pilatus findet sich indem Hippie-Musical Jesus Christ Superstar (1970) [5].
Die tollste und ausführlichste Darstellung des Pontius Pilatus stammt aus dem Jahr 1962, aus einem Französisch italienischen Sandalenfilm, der in Deutschland unter dem angemessen reißerischen Titel "Pontius Pilatus - Statthalter des Grauens" herausgebracht wurde.
Die Titelrolle übernimmt kein Geringerer als der französische Star – "Die Schöne und das Biest", "Fantomas" – und Cocteau-Muse Jean Marais. Glücklicherweise ist der Film zurzeit mit deutscher Synchronisation komplett auf YouTube verfügbar [6].
Im Rückblick berichtet Pilatus dort vor dem Kaiser Tiberius über die Ereignisse seines Lebens. So erhält man historische Versatzstücke, Legenden und mögliche Ereignisse schön zusammengeordnet. Pilatus ist ein ehrgeiziger Beamter, der aus der Provinz Hispania zum Präfekten von Judäa befördert wird, der lästigsten und widerspenstigsten der römischen Provinzen.
Er festigt Roms Macht, muss mit Unruhen umgehen, stellt die Trinkwasserversorgung der Massen sicher. Doch hier zum Beispiel ist das tumbe Volk undankbar und rebelliert, weil der Verlauf des Aquädukts gegen eines seiner unsinnigen Stammesgesetze verstößt. Pilatus muss sie beschwichtigen, Eiferer versuchen, ihn zu ermorden, nichts klappt, bis auf die sichere Ankunft seiner Frau und seines Sohnes.
Schließlich liefert man ihm einen "Gotteslästerer" aus. Pilatus wittert eine Falle, sieht kein Unrecht in dem Mann. Alles in allem ein sehr interessanter Film.
Der Vorrang der Demokratie über die Philosophie
Darum müsste unser Verhältnis zu dieser historischen Figur, über die wir weitaus mehr und besser informiert sind als über Jesus Christus – über den neuesten Stand der historische Forschung informiert hier verlässlich eine relativ neue britische Dokumentation [7]. Wer kein Englisch versteht, dem muss hier der ZDF-"Faktencheck mit Petra Gerster" genügen [8] –, etwas ganz anderes sein.
Denn Pontius Pilatus war nicht weniger als der erste Liberale.
Er war ein modern denkender, pragmatischer Politiker. Seine Geschichte ist eine Geschichte über genau die Konflikte, denen Handelnde bis heute ausgesetzt sind. Pilatus verdient vielleicht nicht unser Mitleid, aber unsere Neugier und unser Verständnis.
Pontius Pilatus ist ein Liberaler, weil er für die Freiheit von Denken und Meinung, also auch für Redefreiheit eintritt. Weil er in Moral und Wertefragen die Tugend der Gleichgültigkeit an den Tag legt. Er ist ein Liberaler, weil er auch gegenüber dem Überzeugungstäter Jesus Christus Dialogbereitschaft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden praktiziert. Weil er bereits vor 2000 Jahren die moderne rechtsstaatliche Überzeugung praktiziert, dass ein Mensch nur durch seine Taten zum Verbrecher wird, nicht durch Weltanschauungen und Meinungen.
Schließlich weil er als einer der Ersten in der Menschheitsgeschichte die moderne Auffassung formuliert, dass Wahrheit ist eine Konstruktion ist. Dass Wahrheit im Auge des Betrachters liegt.
Pontius Pilatus praktiziert genau jene Diskursbereitschaft, Toleranz und weltanschaulichen Skeptizismus, auf die moderne Gesellschaften mit Recht stolz sind. Auch im fundamentalistischen Aufwiegler Jesus sah er eher einen Spinner als einen Verbrecher.
Doch indem er zugleich die letzte Entscheidung über dessen Verurteilung der Volksmasse anheimstellte, gab er ein erstes Beispiel für den "Vorrang der Demokratie über die Philosophie", die der US-Philosoph Richard Rorty für eine wesentliche Errungenschaft unseres Zeitalters ansieht.
Zum Weiterlesen:
Alexander Demandt: "Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte". Böhlau Verlag, Köln 1999. 290 Seiten (vergriffen)
Alexander Demandt: "Pontius Pilatus"; Beck Verlag, München 2012. 128 Seiten
Jens Herzer: "Pontius Pilatus. Henker und Heiliger"; EVA, Leipzig 2020; 280 Seiten
Richard Rorty: "Kontingenz, Ironie und Solidarität"; Suhrkamp, Frankfurt 1991
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Links in diesem Artikel:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Pontius_Pilate
[2] https://press.uchicago.edu/ucp/books/book/chicago/L/bo3625825.html
[3] https://books.google.de/books?id=LTOaM0X6e6cC&hl=de
[4] https://www.youtube.com/watch?v=zRuk0dyGRtg
[5] https://www.youtube.com/watch?v=3MlZOjw7H1U
[6] https://www.youtube.com/watch?v=HEVf41iOmpk
[7] https://www.youtube.com/watch?v=fppoqtIu2ug
[8] https://www.youtube.com/watch?v=vDZlTBiagww
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