Der erste globale Gedenktag?
Berlin am 11. September
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gab es kaum jemanden, der sich nicht dazu verhielt. Die Reaktionen war so vielfältig wie die Tribute zum ersten Jahrestag. Berlin machte hier keine Ausnahme.
Erstaunlich ist, wie viel hochkarätige Veranstaltungen angesetzt waren für den 11.09. Der Berliner Kulturbetrieb rüstete an diesem hoch, wie sonst vielleicht nur am Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Was keineswegs überraschte, aber dennoch nicht sonderlich inspirierte: Man nahm den Tag als Gelegenheit, um sich ein weiteres Mal seiner selbst zu vergewissern. Gefeiert wurden Werte, die in einer multikulturellen Gesellschaft von politisch korrekten Denkern vertreten werden. Und so ging es auch bei einem ganztägigen Symposion im Rahmen des internationalen Literaturfestival Berlin nicht zuletzt um Liberalität und Toleranz. Ein anderes Thema trug den Titel "Was heißt Kampf gegen Terrorismus und Staatsterrorismus?"
Am eindringlichsten reflektierte Rainer Büren über diese Frage, indem er uns in den prunk-überladenen Räumen des Bertolt-Brecht-Theaters daran erinnerte, dass der September, wie kaum ein anderer Monat, vollgespickt ist mit Schlüsselereignissen der modernen Geschichte. Der ehemalige Spezialbeauftragte der NATO relativierte den 11.09. mit der indirekten Frage danach, ob und wie wir uns an ihn in 30 Jahren erinnern werden. Damit führte er uns zwar unsere medien-gestützte Amnesie vor Augen. Doch hängt die Bedeutung eines solchen Tages nicht auch enorm von dem kulturellen Kontext ab? Anspruch auf den Titel des ersten globalen Gedenktages, scheint der 11.09. angesichts der abweichenden Sichtweisen in Nahost zum Beispiel nicht zu haben.
Um 18 Uhr ging es weiter mit einer Lesung von Feridun Zaimoglu. Anlässlich seines neuen Romans "German Amok" (KiWi, 2002) war man im Kulturkaufhaus Dussmann zusammengekommen. Obwohl sich dieses Buch weniger explizit mit den Ereignissen auseinandersetzt, passte es gut ins Tagesprogramm. Der Erfinder der Kanak Spraak reproduzierte wortgewaltig eine Atmosphäre, die die "Entsichert"-Autoren (vgl.Krieg als Massenkultur) im Angesicht des symbolischen Eindringens des Krieges in die Eingeweide der Gesellschaft ausgemacht haben. Mode-, Pop-, Alltagskontemplationen: Ethno-Clans, Papier-Pussys und Mütter, die ihre Babys als Schlagstock einsetzen, beherrschen das Panorama.
Weiter ging es um 19 Uhr mit einer Diskussionsrunde mit dem Motto "Die neuen Kriege", das gleichzeitig auch der Titel des neuen, just bei Rowohlt erschienenen Buches von Herfried Münkler ist. Vorgestellt wurde es an diesem Abend gemeinsam mit einem Redakteur der taz (Stefan Reinecke) und der ZEIT (Richard Herzinger). Münkler, der als Staatstheoretiker bereits mit Studien zu "Machiavelli" (1982) auf sich aufmerksam gemacht hat, denkt in "Die neuen Kriege" jenen Ansatz weiter, den Mary Kaldor 1999 in "New & Old Wars" entwickelt hat. Dementsprechend lauten Münklers auf den Kriegsbegriff bezogene Grundthesen: Entstaatlichung, Entmilitarisierung und Asymmetrisierung.
Er beobachtet eine Rückkehr hinter die Anfänge der Verstaatlichung des Kriegswesens. Ins Blickfeld rücken Warlords, Clans, Söldner, die ein Zeichen dafür sind, dass der Einstieg in den Krieg längst nicht mehr nur von wohlhabenden Staaten vollzogen werden kann, sondern auch von privaten Akteuren, die Waffen und anderes Kriegsmaterial kostengünstig erstehen können. Ökonomische Gründe für den Kriegseinsatz, gehen für Münkler Hand in Hand mit der Tatsache, das Krieg günstig geworden ist. So komme es zu asymmetrischen Konstellationen, in denen etwa Kindersoldaten mit Steinschleudern gegen Panzer antreten. Kriegerische Gewalt folge in erster Linie strategischen Überlegungen, die die Mechanismen der Massenmedien längst als Waffe einkalkuliert haben. Unter Entmilitarisierung, vielleicht Münklers provokanteste These, versteht er den Trend dazu, dass bestimmte Formen der Gewaltanwendung, die einst untergeordnete taktische Elemente einer militärischen Strategie waren, selbst eine eigenständige strategische Dimension erlangt haben. Als Beispiele werden Partisanenkrieg und Terrorismus aufgeführt.
Während im Podewil unter dem Titel "Underground Zero" eine transmediale Veranstaltung lief, bei der die Filmemacher Jay Rosenblatt und Caveh Zahedi ein kollektives Filmprojekt vorstellten, und die Diskussion um Münklers Buch in die letzte Runde ging, begann eine Sondersendung von Radio Hochsee im Kaffee Burger. Titel: "To all the victims, their families and friends...". Ausgangspunkt war eine Liste von Songs, die nach dem 11. September nicht mehr im Radio gespielt werden durften. Moderator und Gast-Gastgeber Heinrich Dubel spielte diese Songs, sprach erratisch ins Mikro, versäumte es nicht, neueste Nachrichten, etwa die von den drei Männern, die sich in einer Flugzeugtoilette eingeschlossen haben, mit den Ereignissen von vor einem Jahr gegenzulesen, brachte Mathias Bröckers 20 Lektionen des 11.September zur Sprache und warf thematisch abgestimmte Dias an die Wand.
Die Jugendlichen, die zusammengekommen waren, sie tranken Bier und lauschten Dubels Rezitationen. Die Diskokugel warf apathisches Licht in den Raum. Auf der Tanzfläche rührte sich keiner. Als die fünfminütige Pause einsetzte, führte Dubel den Empfangsradius seiner Sendung vor: Etwa 3-5 Meter außerhalb des Cafes - das Ganze war eine Radio-Simulation. Drinnen wieder Platz nehmend, die Country-Songs im Ohr, kam man sich vor, wie in einer Raststätte entlang eines Highways in der Nähe des Death Valley. In den Sinn kam, dass kreative Trauerarbeit die unterschiedlichsten Früchte hervorbringen kann. Falls solche Abweichungen vom offiziellen Trauerprogramm zugelassen sein sollten, wie sie etwa bei den Interpretationen von Weihnachten zum Ausdruck kommen, könnte der 11.September vielleicht doch als erster globaler Gedenktag in die Geschichte eingehen.