Der ganz normale Antisemitismus

Seite 2: "Lasst uns beten für die treulosen Juden"

Ionkis Buch ist voll von großen und kleinen, aktuellen wie auch historischen Geschichten. Sie beschreibt den Antijudaismus der Kölner Dominikaner und des zum Christentum konvertierten Kölner Juden Joseph Pfefferkorn im Streit um die Verbrennung jüdischer Schriften Anfang des 16. Jahrhunderts; sie erinnert an die Entscheidung von Papst Johannes XXIII., wie er 1959 aus dem Satz "Lasst uns beten für die treulosen Juden", der Jahrhunderte zur vorösterlichen Liturgie gehörte, das diffamierende Adjektiv streichen ließ.

Ausführlich schreibt Ionkis über den Besuch von Papst Benedikt XVI. in der Kölner Synagoge im August 2005 – dem ersten Papstbesuch in einem jüdischen Gebetshaus in Deutschland seit 1.700 Jahren; dies auch eingedenk der Tatsache, dass Joseph Ratzinger als Junge in der "Hitlerjugend" war und die Synagoge 1938 von den Nazis in Brand gesteckt wurde. Lässt man sich auf die geschichtliche Spurensuche ein, wird klar: Ideologisch ist die Judenfeindschaft auf das engste mit der Christenheit verbunden.

Gerne beschuldigte man die Juden während der Pestzeiten, die immer wieder über Europa hinwegzogen und ganze Gegenden menschenleer hinterließen, die Brunnen zu vergiften und somit Verursacher der rätselhaften Seuche zu sein.

Jüdische Identität nach Auschwitz

Allerdings, nicht jedes Phänomen, das dieser Tage die Gemüter erhitzt, ist gleichermaßen unter Antisemitismus zu fassen. Davor warnt seit längerem ein ausgemachter Experte der jüdischen Kultur, Yaacov Ben-Chanan, geb. 1929 in Riga. Ben-Chanan hat viel zum Thema gearbeitet. Ihm geht es nicht um Schuld, sondern um Ursachen und Wirkungen, die zu erneuten Ursachen werden.

Eine seiner Thesen lautet: Der Begriff "Antisemitismus" schließe in seiner Logik die Vernichtung der "Semiten" immer schon ein. Wir sollten, so Ben-Chanan, darum auch nicht inflationär bei jeder Gelegenheit unbedingt gleich von "Antisemitismus" sprechen.

Jeder Antisemit ist sicher ein Judenfeind. Aber nicht jeder Judenfeind ist schon ein Antisemit.

Yaacov Ben-Chanan

Ben-Chanan wurde als Sohn assimilierter Juden geboren, wuchs als einziger Überlebender seiner Familie unter christianisierter Identität bei einem thüringischen Pfarrer auf, studierte zunächst Theologie und schlug eine medizinische Laufbahn ein, als eine Identifizierung mit dem Christentum für ihn nicht mehr möglich war. Von 1994 bis 2000 lehrte er als Honorarprofessor jüdische Geschichte, Kultur und Bildung an der Universität Kassel (bzw. der Vorgängereinrichtung GhK).

In seinen Schriften und Vorträgen stellt er die Grundfrage nach der jüdischen Identität2:

Wie gewinnen wir heute als säkulare Juden jüdische Identität? (…) Eine neue jüdische Identität gewinnen wir (…) nicht, wenn Auschwitz zum alleinigen Ausgangspunkt unseres Identifikationsprozesses wird.

Das Staatsgebilde Israel sieht er mit ausgemachter Nüchternheit:

"Der Staat Israel schützt Juden, aber mit Judentum hat er so wenig zu tun, wie der Kirchenstaat vor 1870 etwas mit Christentum zu tun hatte. (…) Darum können wir auch keine neue jüdische Identität gewinnen, indem wir uns mit Israel als Staat identifizieren."

Das liest sich wie eine Absage letztlich an jede Form nationalstaatlicher Mythenbildung, wie europäische Mächte sie auf tragische Weise vorexerziert haben. Und dürfte nicht allen Offiziellen im heutigen Israel ebenso wenig wie vielen Diskutanten dieser Tage gefallen. "Mein Judentum", sagt Ben-Chanan, "ist kulturell und humanistisch, nicht religiös definiert." Und erteilt damit auch einen Denkzettel an die Religionisten.3

"Bürgerkrieg der Majorität gegen die Minorität"

Zumal uns Deutschen rechnet Ben-Chanan dementsprechend nicht, wie den Franzosen und anderen europäischen Völkern, eine ausreichend demokratische Tradition zu; Deutsche waren seiner Ansicht nach viel zu obrigkeitshörig. Schon Mommsen sah "Bürgerkrieg der Majorität gegen die Minorität" 1879 als Möglichkeit; nur 50 Jahre später wurde seine Prophezeiung grausame Wirklichkeit.

Die neuere Forschung sieht hier auch Kaiser Wilhelm II. und seine Rolle inzwischen höchst kritisch. Für den Zeitraum der Regierungszeit von Wilhelm II. ist eine krass antisemitische Äußerung dokumentiert, die er bei einem Besuch in Großbritannien gegenüber dem damaligen Außenminister Sir Edward Grey fallen ließ. Sie lautet: "Es gibt viel zu viele Juden in meinem Land. Sie müssten ausgemerzt werden."

Antisemitismus nahm insgesamt in den rund vier Jahrzehnten von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Staat und Gesellschaft stark zu. Zwar gehörten Ausschreitungen gegen jüdische Bürger - wie zum Beispiel 1881 im hinter-pommerschen Neustettin oder 1900 im westpreußischen Konitz - nicht zum Alltag, aber der Antisemitismus gewann erheblichen Einfluss bei vielen politischen und gesellschaftlichen Organisationen im Kaiserreich. Und spielte eine wichtige Funktion im Denken des national gesinnten Bürgertums. Er wurde im gesellschaftlichen Leben zur sozialen Norm.4

Das führt zurück zur ureigenen Verantwortung.

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