Der letzte Bahnhofsv(e)orsteher
Eine kleine Geschichte von der Privatisierung
Im oberbayerischen Millionärsdorf Schondorf entdeckte ich ihn: den letzten Bahnhofsvorsteher. Sein Motto "Kein Problem!" könnte DER Werbeslogan der Deutschen Bahn sein, wenn sie diese Gäste im Regionalverkehr zurückgewinnen wollte (was sie bekanntlich nicht will). Um die zwei Euro Aufpreis für den Fahrkartenkauf am Schalter zu sparen, erklärt mir Rolf Strehlow mit sanfter Großzügigkeit, kaufen Gruppen das Bayernticket am Automaten. Dann kommen sie zum Schalter und fragen nach den Bahnverbindungen. Strehlow dann: "Sehen Sie, der Automat kann doch nicht alles." 40 Cent hat jeder der fünf Gruppenmitglieder gespart, um der Bahn AG neue Argumente zum Personalabbau zu geben.
Eigentlich hätte er mit der "Privatisierung" der sogenannten Bayerischen Regiobahn abgeschafft werden sollen, berichtet Strehlow. Doch die Regierung machte bei der Ausschreibung die Auflage, ein Bahnhof sollte besetzt bleiben. Einer von fünfzehn, die damit vom Bahnhof zur Haltestelle herabgestuft wurden. Auch an den anderen Bahnhöfen gibt es noch Mitarbeiter. Sie bedienen die Weichen und Schranken der einspurigen Strecke - eine äußerst verantwortungsvolle Tätigkeit. Die verrichtet Strehlow übrigens en passent auch noch.
Seine Kollegen auf den anderen Bahnhöfen aber dürfen keine Fahrgäste mehr begrüßen. Sie möchten sich auch nicht fotografieren oder zitieren lassen. Sie sind froh, noch ihren Job zu haben.
Die angeblichen Privatisierungen haben zur Entstehung absurdester Scheinunternehmen geführt, die Streckenführungen bedienen, die nur durch die Existenz verschiedenster Umlagen und Zuschüsse erklärbar sind. So kann man nun von Augsburg-Oberhausen nach Schongau und zurück fahren. Allenfalls an den wenigen Wochenenden, an denen die raren Augsburger - in der Regel Jugendliche - ohne PKW zum Baden an den Ammersee die Bahn nehmen, ergibt sich eine über den Schülertransport zu Realschulen und Gymnasien hinausgehende Nutzung.
Die Pendler aber wollen, nein, sie müssen in die unfreundliche Landeshauptstadt München - dorthin aber fährt die Bayerische Regiobahn aus unerfindlichen Gründen nicht. Sie fährt vom Nirwana ins Nirwana, immer freundlich und leer, sauber und übrigens pünktlich.
Die Pendler haben trotzdem nichts zu lachen: In Geltendorf und Weilheim müssen sie von der exquisiten Nirwanabahn in oft ungeheizte, verdreckte, veraltete, überfüllte und oft verspätete Züge der DB Regio umsteigen. Für ihre Monatskarte müssen sie zudem mit der Bayerischen Regiobahn, mit DB Regio, mit dem Münchner Verkehrsverbund MVV und mit der Münchner Verkehrsgesellschaft MVG verhandeln. Die täglichen Verspätungen werden zwischen den vier Gesellschaften gerecht aufgeteilt, so dass der Pendler zwar immer zu spät kommt, aber immer aus anderen Gründen.
Wer es sich leisten kann, in Schondorf zu wohnen, das nur wenige Kilometer von der A96 liegt, muss nicht den täglichen Notstand der Bahn kennenlernen. Während jeden Morgen und Abend von und nach Geltendorf die Pendler in der 2. Klasse stehen müssen, gibt es in der Ersten stets genug Platz. In Schondorf bringen die Väter in ihren Porsches das Kind in Schule und Kindergarten, um gegen 8 Uhr gemütlich mit gleitender Arbeitszeit einen Blick auf das Münchner Büro zu werfen.
Strehlow hat mit den Schülern des Schondorfer Privatgymnasiums zu tun. Sie lümmeln herum, überschreiten vor der Einfahrt des Zuges die weiße Gefahrenlinie. Strehlow kommt aus seinem Bahnhofshaus und bringt die Jungs freundlich, aber bestimmt auf Linie.
Da sie es nicht mehr gewöhnt sind, überhaupt angesprochen und kontrolliert zu werden, gehorchen sie ohne Widerspruch. Ihnen fehlt die aggressive Renitenz städtischer Straßenkrieger. Strehlow ist klein, aber kräftig gebaut. Er strahlt eine männliche Würde und Selbstbewusstsein aus. Lustig: Auch die Lehrerin der lümmelnden Jungen befand sich in der Gruppe und nahm vor dem Sicherheitsstreifen Haltung an.
Strehlow versteht seinen Bahnhof. Als einziger Bahnhof weit und breit besitzt Schondorf einen beheizten und geputzten Wartesaal. Die Bürgermeister der Nachbargemeinden Utting und Dießen halten Bahnhöfe für die Privatangelegenheit von Pächtern. Sie wollen zwar eine Haltestelle und einen guten Takt, aber das sollen doch Fahrgäste und Bahnen unter sich regeln. Nur der Schulbus ist Gemeindesache.
Die Verwahrlosung der Bahn geht einher mit der Verwahrlosung der Bahnhöfe. Irgendwann ist nicht mehr feststellbar, warum außer Pendlern und Schülern kaum mehr regional gefahren wird: Fehlende Verbindungen? Fehlende Bahnhofsservices? Chaotische Preisgestaltung? Wie Exoten sitzen die wenigen eleganten Fernreisenden aus den drei Millionärsorten mit Reisegepäck von Vuitton und Bogner in der Regiobahn. Bis sie den ICE erreichen, werden sie es bereut haben, denn in München wird ihnen kein Gepäckträger helfen, wenn sie einen Kilometer vom Starnberger Bahnhof zu ihrem Fernzug laufen müssen, für den ihnen die Bahn eine Umsteigezeit von genau 6 Minuten einräumt.
Ich frage den Schaffner ab Geltendorf, warum er morgens nicht genug Wagen für die Pendler bereitstellt, die etwa 200 Euro im Monat für die schwache Leistung berappen. Er sieht mich sorgenvoll an. Eine im Gang stehende Érzieherin hört zu. "Wir haben keine weiteren Wagen. Und wenn wir welche hätten, fehlt uns in München der Bahnsteig zum Aussteigen." Die Erzieherin pflichtet bei: "Das geht jeden Tag so."
Wäre es denkbar, dass Herr Grube, Herr Ramsauer oder gar Herr Ude erfahren, dass es keine Wagen und Bahnsteige in München, in Deutschlands reichster Stadt gibt?
Rolf Strehlow muss sich diese Sorgen nicht machen. Viele, die meisten Bahnmitarbeiter an der Front sind freundlich und haben Verständnis für die Nöte ihrer Fahrgäste. Oft kontrollieren sie nicht mehr und verlangen auch keine Aufpreise.
Längst herrscht eine stillschweigende Solidarität zwischen den misshandelten Fahrgästen und dem ausgebeuteten Personal. Sie haben einen gemeinsamen Feind: Das durchweg und ausnahmslos völlig unfähige Management in Verkehrspolitik und Bahn AG.
Dieses allerdings werden sie nie in den überfüllten Pendlerzügen antreffen. Es hat nämlich wichtige Meetings, bei denen die Bahn der Zukunft geplant wird: als App mit Einzugsermächtigung, ganz ohne lästige Fahrgäste und unzufriedenes Personal, ohne Gleise und Bahnhöfe.
Zuletzt schrieb Alexander Dill auf Telepolis einen kleinen Businessplan für die Deutsche Bahn. Seine Studie zu den Opportunitätskosten im Nahverkehr erhielten 2011 alle Verantwortlichen.