Der müde Leviathan
Recht und Moral in der Dissensgesellschaft - Kapitel 5
Kapitel 4: Relativierungen des Rechts
Unbehagen gegenüber dem Staat und seinen Ordnungshütern ist eine so alte wie neue Kondition. "All cops are bastards?" Wer ein T-Shirt mit dem Aufdruck des Kürzels "A.C.A.B." trägt und "nur" ein Kollektiv beleidigt, ist nicht strafbar. Wenn sich diese drastische "Staatskritik" allerdings gegen eine umgrenzte Gruppe von Polizisten richtet, ist das strafbar. Das Bundesverfassungsgericht hatte für die verwandte Konstellation der Trägerin eines T-Shirts mit der Aufschrift "FCK CPS" (Fuck Cops) Verständnis.1 Die Frau war vom Amtsgericht Bückeburg bestraft worden. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil auf und blieb seiner Linie treu, die in der "Soldaten-sind-Mörder-Entscheidung" begründet wurde:
Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht.
Wenn auf einer imaginären Skala der Kritik die abwertende Äußerung sich schließlich auf so allgemeine Phänomene wie menschliche Eigenschaften oder die Kritik an sozialen Einrichtungen beziehe, werde dadurch nicht die persönliche Ehre eines Individuums getroffen. In den USA geht die Meinungsfreiheit über solche restriktiven Differenzierungen hinaus. Der Schüler Bretton Barber durfte nach einem schulinternen Streit, der ihn 2003 zum Bundesgericht führte, sein hochpolitisches Credo-Hemd selbst im Unterricht tragen. Der Richter Patrick J. Duggan vermochte nicht zu erkennen, dass durch das T-Shirt des Schülers eine gesellschaftlich relevante Störung verursacht würde.
Bretton Barber nutzte die Textil-Werbefläche für die politische Umwertung der Werte: "International Terrorist". Zwischen den Worten erschien aber nicht der allfällige Osama bin Ladin, sondern prangte das Porträt des US-Präsidenten George W. Bush. Anfang 2016 wird Mark Zuckerberg von einem deutschen Rechtsanwalt angezeigt, weil der Facebook-Chef Hasskommentare und Gewaltdarstellungen auf den Community-Seiten dulde. Es werde gegen deutsches Recht verstoßen. Im Ländervergleich werden die Grenzen der Meinungsfreiheit höchst unterschiedlich gezogen.
Die deutsche Gerichtsbarkeit hat sich in den letzten Jahren mehrfach mit der Frage befasst, ob muslimische "Hassprediger" auszuweisen sind. Regelmäßig muss der Ausweisungstatbestand im Lichte der Meinungsfreiheit interpretiert werden. Der Vergleich der Politiker Bush und Blair mit dem "Pharao" verleitete das Verwaltungsgericht Berlin zu ausgedehnten Exkursionen in die ägyptische Geschichte der Pharaonen und der konkreten Verwendung im aktuellen Kontext.2 Ist das Bittgebet, "Allah möge die Feinde der Muslime vernichten", ein öffentlicher Gewaltaufruf? Schon seinem Wortlaut nach handele es bei dem von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützten Gebet "um eine Anrufung Allahs, dass dieser mittels einer göttlichen Intervention die Feinde der Muslime vernichten möge, nicht aber um einen Aufruf zur Gewaltanwendung durch Gläubige".
Ob so großer Aufwand juristisch spitzfindiger Textinterpretation angebracht ist, der selbstverständlich auch Textsachverständige miteinbezog, muss bezweifelt werden. Denn gefährliche Agitationen sind es oft deshalb, weil sie Zuhörern Botschaften einflüstern und suggerieren, ohne jederzeit explizit werden zu müssen. Ob der wahre Hass nicht als schleichendes Gift verabreicht werden muss, um zu wirken, ist eine Frage, die für die Rechtsprechung nicht beantwortbar sein kann, weil dann Wirkungszusammenhänge in das Blickfeld gerieten, die zu unendlichen Interpretationen führten. Massenpsychologie und moderner Propagandismus unterlaufen eher die Untersuchungsrichtung manifester Aussagen. Deshalb kann man für eine Ausweisung auch zu solchen Bewertungen kommen3:
Die Art und Weise, wie der Kläger in seiner Funktion als Imam agitatorisch zu aktuellen politischen Ereignissen Stellung nimmt, ist geeignet, bei seinen Zuhörern Hass gegen die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung in Deutschland zu säen. Der zumeist undifferenzierte Inhalt der Predigten, der mit entsprechenden rhetorischen Mitteln vorgetragen wird, erzeugt ein Klima psychischer Gereiztheit und Anspannung.
Der Kläger pflegte eine Eskalations- und Pathos-Rhetorik wie diese: "Oh ihr westlichen Länder! Oh ihr Europäer… Wir sagen ihnen, warum genießt ihr das Blutvergießen? Warum genießt ihr das Töten von Menschen? Warum genießt ihr die Bombardierungen?" Das war dem Verwaltungsgericht Darmstadt schließlich zu viel, um diesen Äußerungen noch den Schutz der Meinungs- oder Religionsfreiheit zu gewähren.
Der "Hessische Verwaltungsgerichtshof" verkraftete indes den rhetorischen Schwall des erregten Predigers. Eine mit Schmähungen und Diffamierungen einhergehende Kritik an Militäraktionen in Afghanistan, die sich gegen "Aggressoren", "Barbaren" richtet, sei nicht konkret genug. Diese Einschätzung gelte auch dann, wenn sich solche Ausführungen mit einer verachtenden Ablehnung der westlichen Demokratie und Lebensform verbinden.
Häufiger ist in der Rechtsprechung zu beobachten, dass höhere Gerichte sich nicht mehr so leichtfertig in die Interpretation von gesellschaftlichen, politischen, kulturellen oder künstlerischen Aussagen hineinziehen lassen. Man will sich die Blamage ersparen, die eigene Ratlosigkeit gegenüber dem Weltgeschehen in Urteilen niederzulegen, die zum Gespött der Öffentlichkeit werden können.
Der Künstler Jonathan Meese soll während eines Podiumsgesprächs zweimal die Hand zum "Hitler-Gruß" gehoben haben. Das Gericht konnte sich in diesem Fall auf eine reichhaltige Dogmatik zur Kunstfreiheit des Grundgesetzes verlassen4, den Künstler straffrei zu lassen:
Aufgrund dessen, dass sich der Angeklagte beispielsweise mit einem Einhorn vor Hakenkreuzen stehend fotografieren lässt und dieses Bild zusammen mit dem den Hitlergruß zeigenden Bild auf seiner Internetseite eingestellt hat, lässt dies auch den Schluss zu, dass der Angeklagte sich gerade nicht mit den Kennzeichen identifiziert, sondern diese verspottet. Es handelt sich dabei um das Kunstmittel der Satire, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass durch Spott, Ironie oder Übertreibung bestimmte Personen, Anschauungen, Ereignisse oder Zustände lächerlich gemacht werden; sie vermittelt ein Zerrbild der Wirklichkeit...
Hier "rettete" die Kunstfreiheit den Künstler vor dem Verdacht, den Staat durch den Gebrauch verfassungswidriger Symbole in Mitleidenschaft zu ziehen. Hätte er es "ernst" gemeint, wäre er bestraft worden. So aber ist seine "Performance" Kunst und somit kann er sich auf ein hohes Verfassungsgut berufen. Ein Schelm, der das als "Narrenfreiheit" übersetzen würde. Anders wird der Umgang mit der Kunst bewertet, wenn der Akteur weniger pointiert in der Öffentlichkeit steht. Ein Soldat erwarb Musik der Gruppe "Böhse Onkelz" und versandte sie an seine Heimatadresse. Später feiert er seinen Geburtstag in der Kaserne und hört Musik von "Stahlgewitter" und "Sturm 18". Insbesondere der Musik der beiden letztgenannten Gruppen wird vorgeworfen, zum Rassenhass aufzustacheln, den Zweiten Weltkrieg und die Waffen-SS zu verherrlichen, den Nationalsozialismus zu verharmlosen.
Der Kläger wird fristlos aus der Bundeswehr entlassen.5 Dem Kläger sei zumindest unterschwellig bewusst gewesen, dass es sich um CDs handeln könnte, die gegen das Verbot der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verstoßen. Daher hätte er für die verfassungsmäßige Ordnung so einzutreten, dass "er z.B. die Musik abstellt oder zumindest die Stube verlässt und Meldung macht." Allein der Verbleib in der Stube und der (passive) Konsum derartiger Musik stelle eine schuldhafte Verletzung der Verfassungstreue dar. Eine Disziplinarmaßnahme sei hier nicht mehr ausreichend, da die militärische Ordnung der Bundeswehr ernstlich gefährdet sei.
In einer Zeit, in der Prinz Harry auf einer Party mit deutscher Afrika-Korps-Uniform nebst Hakenkreuzbinde erscheint und die "Hitler"-Boutique in Indien (geschrieben mit einem Hakenkreuz als i-Punkt) längst keine bizarre Ausnahme geschichtsvergessener Unzeitgenossen ist, können nicht nur die Bilder des Erlaubten und Verbotenen, des Affirmativen und Bekennenden leicht durcheinander geraten. Der Symbolgebrauch hat sich von seiner polit-liturgischen Praxis zwar nicht völlig gelöst, aber in zahllosen Zusammenhängen insbesondere virtueller Gemeinschaften wird das Spiel mit den Zeichen zur Dekonstruktion vormaliger Bedeutungen.
Die Rechtsprechung neigt zu intrikaten Beobachtungen, ohne bereits zu einer zeichentheoretischen Offenheit gelangt zu sein, die die allfällige Interpretation anderen Fakultäten überlässt. So hatte sich der Bundesgerichtshof mit der Frage befasst, ob der Gebrauch eines durchgestrichenen Hakenkreuzes der Gebrauch eines verfassungswidrigen Symbols sei. Hintergrund war ein Shop-Besitzer, der Punker und andere Szenefiguren mit Aufklebern etc. ausstattete, die zum Ausdruck bringen sollten, dass der Träger sich gerade vom tausendjährigen Reich distanziert. Zwar erkannte das Gericht, dass die Strafe für den Ladeninhaber, die das Landgericht verhängt hatte, nicht korrekt war, weil der Schutzzweck der Vorschrift (§ 86 a StGB) diese Symbolverwendung nicht erfasse. Dies könne aber etwa der Fall sein, "wenn das Durchstreichen des Hakenkreuzes so dünn erfolgt, dass aus einer gewissen Entfernung nur noch das Hakenkreuz, nicht mehr aber die Distanzierung erkennbar ist."6
Die grafisch korrekte Distanzierungspraxis im Herzen der Norm ist eine eigene Welt. So bemängelte das Gericht ein Hitler-Porträt mit "Reichsstandarte", weil der Aufdruck "Drecksau" einem "durchschnittlichen Beobachter keinen Bedeutungsinhalt, insbesondere keine deutliche Distanzierung" vermitteln würde. Das hätten wir nicht vermutet. Eine nur bedingte Teilentwarnung verband sich mit dem rückseitigen Liedaufdruck "Faschosau", was der BGH eindeutig als einen Text gegen Rechtsextreme wertete, ohne allerdings deshalb die eindeutige Distanzierungspraxis schon zu bejahen. Es bleibt auch mit den Hakenkreuzen ein Kreuz, was jeden Verwender in einige Interpretationsnöte schicken wird, die exemplarisch belegen, was spitzfindige Juristen vermögen, wenn sie die Freude an der Auslegung von Sachverhalten erst einmal gepackt hat. Zu bezweifeln ist, dass der "durchschnittliche Beobachter", der "objektive Erklärungsempfänger" und andere homunculi des juristischen Verstehenshorizonts, dessen Sicht der Dinge Richter angeblich im Rahmen einer juristischen Seelenwanderung einnehmen, jenseits des juristischen Soziotops überhaupt existieren. Vor allem aber provozieren Symbolverbote permanent dazu, sie zu unterlaufen und vor allem sie attraktiv zu halten.
Die Distanzen des Einzelnen zu herrschenden Auffassungen, zu einer konsensfähigen Sozialmoral werden größer, als es die skeptischen Philosophen der frühen Moderne je für möglich gehalten hätten. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung von politischen Aussagen im digitalen Meer der Meinungen ab. In den kurzen Aufmerksamkeitsspannen der digitalen Öffentlichkeit verändert sich der Freiheitsgebrauch selbst. Der moderne demokratische Staat absorbiert viel leichter Kritik, wenn Skandale immer kürzere Halbwertszeiten haben und unscheinbare Herrschaftsgesten wie das "Aussitzen" zu einer moralischen Verwahrlosung der besonderen Art führen.
In einer vernetzten Welt sind Reibungen der Rechtsordnungen vorprogrammiert. Die unübersehbaren Wucherungen und Verästelungen von Meinungsforen lässt in Zukunft vor allem erwarten, dass hier nur das Hase-Igel-Prinzip zur Anwendung kommt. Denn was hier verboten wird, taucht dort wieder auf. In einer Sphäre, in der die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit immer unkonturierter werden muss, ist die Justiz nicht nur gefährdet, mit stumpfen Instrumenten zu arbeiten. Hier drohen Blamagen, wie weiland als eine Staatsanwaltschaft "Die Kunst des Liebens" von Erich Fromm wegen eines Pornografievorwurfs kurzfristig aus dem Verkehr zog. Offensichtlich war wegen der unmittelbar drohenden Gefahren für Sitte und Moral keine Zeit geblieben, in das Werk hineinzuschauen. Wenn Fromms Werk Pornografie ist, gehört die Bibel auf den Index der verbotenen Bücher.
Jenseits der Fundamente
Spätestens seit Thomas Hobbes ist der Angriff auf den Staat eine alte Angst des Gemeinwesens, in Bürgerkrieg und Chaos zu enden. Der "Deutsche Herbst" 1977 markiert in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen kurzen Zeitraum höchster Hysterie von Staat und Gesellschaft, in der einige Politiker nicht mehr ausschließen wollten, dass einige massive Aktionen der RAF-Terroristen das Ende staatlicher Ordnung einleiten. Staatsräson heißt, sich nicht von Terroristen erpressen zu lassen und lieber einen entführten Politiker töten zu lassen, als deren Gesinnungsgenossen aus der Haft zu entlassen.
Die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 18. Oktober 1977 war eines dieser Dramen, in dem die Interessen des Staates und die des Betroffenen und seiner Familie auseinanderlaufen. Hatte man auf die Entführung des Landesvorsitzenden der Berliner CDU, Peter Lorenz, 1975 noch mit dem Austausch von Geiseln und inhaftierten Terroristen reagiert, wollte sich der Staat nicht länger erpressen lassen. Die Entsolidarisierung des Staates mit einem mächtigen Repräsentanten der Gesellschaft folgt einem demokratischen Auftrag, der besonders eindrucksvoll demonstriert, dass die Abstraktion des Staates viel weiter reicht, als es die populistische Differenzierung zwischen "denen da oben und denen da unten" markiert.
In der wie immer ungerechten Perspektive historischer Distanz erscheint die Panik, die sich in Regierung und Opposition verbreitete, grotesk. Die damaligen Anschläge, die unterhalb der Schwelle dessen blieben, was spätere terroristische Akte wie in Oklahoma City 1995 oder in New York 2001 ("9/11") an Opfern verursachten. Die offene Gewalt gegen Repräsentanten des Staates und der Gesellschaft war 1977 als Panikstoff noch zu neu, um mit systemischer Kälte zu reagieren, die den Kritikern des Staates als dessen Hauptmerkmal erscheinen wollte.
Die Thermodynamik, den kalten Staat in einen heißen zu verwandeln, der hierin sein wahres Gesicht zeigt, war ein wesentlicher Teil der terroristischen Absichten, die in der agitatorischen Vorschule der Demonstrationen auf den Straßen Berlins und anderswo eingeübt worden waren. Dass Terror eine politische Gestaltungskraft ist, die tief in das Selbstbild einer Gesellschaft einziehen kann, ist so wahr wie die dem verbundene Erkenntnis, dass die Terrorangst längst nicht den staatlichen Kollaps einleitet. Die islamistischen Anschläge auf staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen verändern politische Stimmungen in einer Weise, die selbst den fundamentalistischen Exponenten des Terrors klar machen könnte, dass Gemeinwesen darüber stärkere Identitäten entwickeln könnten. Der Terror bleibt bei aller Entschiedenheit der Mittel ein vages Machtmodell.
Der verfassungsfeindliche Bürger ist jenseits des auf Attentate angelegten Terrorismus häufig eine lokale Figur, insbesondere wenn er sich mit Springerstiefeln und Kurzhaarschnitten "outet". Seine politische Sprengkraft wird vermutlich deshalb überschätzt, weil sie so gut zu beschwören ist. Würde man das spätmoderne Staatsverständnis beschreiben, sind andere Gefahrenmomente des demokratischen Gemeinwesens zu nennen, die in das Zentrum staatlicher Machtausübung zurückführen.
Die Demokratie als Fundament demokratischen Machtausgleichs ist längst nicht so sakrosankt, wie es Verfassungstexte proklamieren und der öffentliche Diskurs voraussetzt. Von der Demokratiekritik von Colin Crouch bis Alain de Benoist werden bei sehr unterschiedlichen politischen Ausgangsvoraussetzungen Systemdefizite angemahnt, die das idealtypische Machtverteilungsmodell einer austarierten Volksherrschaft längst in starke Mitleidenschaft gezogen haben. Regiert das Volk oder regieren Parteien? Sind nicht kapitalistische Interessen bzw. die mächtiger, transnational agierender Unternehmen ausschlaggebend für die politische Machtverteilung? Ist die demokratische Begrifflichkeit, die so alternativlos verwendet wird, nur die Fassade einer Oligarchie der Cliquen und Clans? Wie können etwa zwei US-amerikanische Präsidenten aus derselben Familie stammen? Geht es weniger um die Bestenauslese als um pralle Budgets der Wahlkampfkostenfinanzierung?
Die nationalkonservative Regierung in Polen brachte Ende 2015 ein Gesetz auf den Weg, das neue Regelungen für das Verfassungsgericht vorsieht, das von den Richtern selbst für verfassungswidrig erklärt wurde. Es handelt sich um Normen, die das Gericht in wesentlichen Funktionen seiner Kontrollmöglichkeiten gegenüber Exekutive und Legislative berauben. So wird das Quorum (Richterzahl) erhöht und zugleich entgegen dem Wortlaut der Verfassung eine Zweidrittel-Mehrheit für eine Entscheidung verlangt. Kritiker beschreiben das als Regelung, das Gericht zu paralysieren. Besonders perfide ist die Novellierung, dass das Gericht die Anträge in der Reihenfolge ihres Eingangs zu behandeln habe. Die Opposition erkannte, dass damit das Gericht schlicht durch immer neue Verfahrensanträge von den eigentlichen Aufgaben des Verfassungsgerichts, die Grundkonstituentien staatlichen Machtausgleichs zu kontrollieren, abgehalten werden könne. Schließlich wird die Disziplinarverantwortung für richterliches Fehlverhalten dem Staatspräsidenten bzw. Justizminister übertragen und nicht mehr der Selbstverantwortung des Gerichts in den eigenen Reihen überlassen.
Die Regierung bediente sich gegenüber dem Verdikt der Richter gegen das Gesetz einer Argumentation, die sehr deutlich macht, dass Staatlichkeit und Willkür nicht jederzeit deutlich dissoziierbar sind. Die Ministerpräsidentin Beata Szydlo konterte gegen den Ausspruch der Verfassungsrichter, das Gericht habe gar keine Entscheidung getroffen, da es die neuen Verfahrensregeln nicht angewandt habe. Diese "Stellungnahme" sei lediglich das Ergebnis eines informellen Treffens und dürfe daher auch nicht von ihr offiziell veröffentlicht werden. Die Vorsitzende des zweithöchsten polnischen Gerichts verwies auf die berühmte Formel Gustav Radbruchs: "Es kann Gesetze mit einem solchen Maß von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, dass ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muss". Wenn diese Formel jenseits polemischer Verwendungen zum Einsatz kommt, handelt es sich um einen rechtsstaatlichen Alarm, der an die Grundfesten einer demokratisch verfassten Gemeinschaft rührt.
Die Ewigkeitsgarantien von Verfassungen werden in solchen Konflikten, die mutatis mutandis immer wieder zu beobachten sind, nicht wenig provoziert. Die Ewigkeit endet spätestens dann, wenn eine neue Verfassung geschaffen wird oder die alte ohne Nachfolger ad actas gelegt wird. Der Urgrund des Rechts ist die Setzung des Rechts. Wenn in der Tradition der Verfassungsrechtsphilosophie außerrechtliche Gründe der Rechtsetzung wie Natur, Vernunft, Souveränität oder Eigentum genannt werden, geraten wir in ein Dilemma. Denn diese Gründe sind in sich heterogen und können wie etwa die Sozialbindung des Eigentums gegeneinander ausgespielt werden, sodass jede Verfassung wie das Grundgesetz die Fragen aufwirft, die sie doch vorgeblich zu beantworten scheint.
Es bleibt das Paradox von Letztbegründungen, dass sie gar nichts begründen, wenn ihre Begründungskraft bestritten wird. Hier gilt eine häufig übersehene Regel: Fundamentale Begründungen sind, wenn wir von der Unfehlbarkeit göttlicher Worte erfüllt sind, keine. Es gibt die der indischen Mythologie folgende Metapher der Schildkröte, die auf dem Rücken einer Schildkröte ruht ad inifinitum, um den Grund im unendlichen Rückgriff verschwinden zu lassen. "Wenn jemand uns sagte, dass er Gründe braucht, um anständig zu sein, können wir ihm kaum länger trauen; sicher würden wir seine Gesellschaft meiden - denn könnte es nicht sein, dass er seine Auffassung ändert?" Hannah Arendt formuliert hier das Paradox jeglicher moralischen Begründung, dass Gründe ihre Überzeugungskraft verlieren können - was jede Abhängigkeit von solchen Gründen fatal werden lässt.
Fazit: Differenz und Dissens erweisen sich als stärkere Prinzipien gegenüber der wertorientierten Fundierung des Rechts und ihrem fragilen Konsens. Es ist ein Irrweg zu glauben, in den Urgründen des Rechts letzte Antworten auf seine Legitimierbarkeit zu erhalten. Dieses Wissen leuchtet nicht selten in höchst alltäglichen Kontexten juristischer Welterschließung auf, wenn gefährlich deutlich wird, dass jede moralische Begründung die Frage aufwirft, wodurch sie sich begründet.
"Respekt" - ein neues altes Moralschema
Im Oktober 2015 wird die spätere Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, während eines Wahlkampfveranstaltung von einem Attentäter mit einem Messer schwer verletzt. Vor Gericht konzediert der Täter, dass es nicht besonders ehrenvoll sei, auf eine wehrlose Frau einzustechen: "Ein klassisches Duell, Mann gegen Mann, wäre mir lieber gewesen."
Duelle sind aus der Mode gekommen. Bis in das 19. Jahrhundert hinein wurde nach einer Beleidigung die Ehre im Duell auf Leben und Tod wiederhergestellt. Ehre, Ehrverletzung und Wiederherstellung der Ehre bilden ein Verhaltensensemble, das als Alternativprogramm gegenüber einer regelorientierten Moral gelten kann. Die Entscheidungsform des Duells tritt anstelle der moralischen oder rechtlichen Sanktion. Die Wiederherstellung der persönlichen Ehre im Duell endet etwa in der Zeit, in der Nationen immer stärker zum Garanten rechtlicher Sicherheiten werden. Patriotische Gesänge rekurrierten auf den Spruch Schillers aus der "Jungfrau von Orleans": "Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an die Ehre."
Ehre ist auf gesellschaftlicher Ebene noch explosiver als in zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Der Vertrag von Versailles etwa war in diesem gesellschaftlichen und staatlichen Wertmodell eine "Schändung" der nationalen Ehre, was dann dazu führte, dass den Nationalsozialisten die Wiederherstellung dieser Ehre zum höchsten Wert wurde. Ehre kollektiviert den Glauben an die einzigartige Bedeutung der je eigenen Nation und ist darin bereit, über Leichen zu gehen. Die Ehre des Einzelnen wird nun über den Teilhabeanspruch an der überindividuellen Ehre bedient. Das erübrigt moralische Abwägungen, wenn erst die propagandistischen Parolen zur kollektiven Verwendung ausgegeben wurden. Wieviel Ehre ist dem Staat nach den Großkatastrophen patriotischen Aberwitzes geblieben?
Trotz dieser Katastrophengeschichte ist die "Ehre" wieder hoch im Kurs. Wenn das Handeln aus Pflicht versagt, sollte es nach Kwame Anthony Appiah andere Gründe geben, das Richtige zu tun. Der moralische Wandel vollzieht sich nach Appiah über die "Ehre". Das Duell versagte als Ehrrestitutionsmodell, weil jenseits der Adligen nun auch Vertreter anderer Gesellschaftsschichten sich auf dieses ehrenvolle Spiel von Leben und Tod einließen. Es wird schließlich ehrlos, sich zu duellieren und andere Wege der Wiederherstellung der Ehre müssen gefunden werden.
Das chinesische "Füßebinden" ist ein anderes Beispiel für die Wirkungen der Ehre. Nicht die moralische Pflicht, diese repressive Technik zu unterlassen habe, beendet diese Praxis, sondern die Anerkennung Chinas in der Welt. Die Ehre ist nach Appiah ein moralisches Agens, das mehr moralische Energie freisetzt als moralische Pflichtenkataloge, insbesondere wenn ihnen angeblich aus Vernunft zu folgen ist, ohne mit dem moralischen Akteur intrinsisch verbunden zu sein.
Die Ehre als "Kontrapunkt der Moral" findet sich bereits bei Oswald Spengler, der noch ethische Intuitionen wahrnimmt, wo einige seiner Adepten bald schon ihre rassistische Agenda des "Bluts" finden. Der entscheidende Unterschied wird damit aber noch nicht erfasst: "Ehre" und "Respekt" haben appellativen Charakter, sie greifen in fremde Moralschemata ein und diskreditieren sie. Wer mir nicht die "Ehre" erweist, die mir gebührt, muss sich ändern. Dieser Ethik-Diskurs ist a priori auf einen Konflikt bezogen, denn anderenfalls müsste der Respekt nicht eingefordert werden. Das moralische Gesetz der "Ehre" zielt auf nichts weniger als den Anspruch, im gesellschaftlichen Wertsystem auf den höheren Rängen platziert zu werden. Provokativ formuliert führt der Weg vom quälenden Autismus des Gewissens zu den Höhenflügen der Moral, die das Ressentiment in einen rechtlichen Anspruch umformuliert.
In Aufmerksamkeitsgesellschaften sind Ehrverletzungen und die dem verbundenen Rituale häufig ein Moment medialer Praxis, die ihre Verlängerung in gerichtlichen Überprüfungen und dem Recht der Gegendarstellung findet. Karl Kraus war das ein Graus: Die Ehre sei ein "Wurmfortsatz im seelischen Organismus", der vor allem Leuten, die sich ständig beleidigt fühlen, zu entfernen sei. "Moral ist polemogener Natur".
Niklas Luhmann gibt damit den lapdiaren Hinweis, dass so Steppenbrände entstehen können - in Afghanistan, im Irak, in Syrien und anderen Orten, wenn Gerechte auf Gerechte stoßen. In nichtdemokratischen Gesellschaften werden Machtwechsel besonders plausibel, wenn sie moralisch inszeniert werden. Dass die ethischen Konzeptionen gerechter Krieger vor allem pro domo gelten, erweisen die moralischen Kollateralschäden, die sich schließlich als strukturelle Momente der politischen Heilsbotschaften erweisen. Abu Ghuraib oder Guantanamo sind keine zufälligen Ereignisse einer blindwütigen Soldateska, sondern gehören zu dem sozialpsychologischen Überhitzungsmilieu, das bellizistische Moralisten und ihre propagandistischen Helfer anstreben.
Die Degradierung von Menschen zu Objekten zielt auf die vollständige Demontage ihrer Ehre und Selbstachtung. Die Frage, ob die Folter tatsächlich diesen Effekt erzielt, hängt vom verschlungenen Verhältnis von Psyche, Ehrenkodex und Moral ab. Kwame Anthony Appiah markiert mit dem Begriff "Ehrenwelt" Sphären, in denen die Anerkennung in einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgt. Menschen aus anderen Kulturen, Religionen und - allgemeiner gesprochen - fremden Wertsystemen werden nicht darin anerkannt, jenseits ihrer Welt anderen Menschen wirksam Anerkennung zollen zu können.
Der 1970 veröffentlichte Film "Ein Mann, den sie Pferd nannten" handelt von einem britischen Aristokraten, der von Sioux-Indianern gefangen wird und zunächst eine Art Haustierstatus genießt. Sein Adel besitzt in dieser indigenen Ehrenwelt keinen Geltungsstatus. Die Anerkennung, die er durch sein mutiges Handeln erwirbt, entsteht in der "Wertschätzung" seiner Fähigkeiten, die schließlich die Achtung auslöst, ihn als gleichberechtigtes Gruppenmitglied aufzunehmen. Der Respekt folgt in dieser Konstellation nicht länger einem durch Geburt gesicherten Prinzip der Anerkennung, sondern einer messbaren Wertschätzung.
Der Mensch ist in der fremden Kultur mehr als ein Pferd, wenn er Leistungen vollbringt, die einen gesellschaftlichen Wert besitzen. Transkulturell werden Menschen in ihren Leistungen anerkannt, was Aristoteles' meritokratisches Modell auch über die athenische Demokratie hinaus verbindlich erscheinen lässt. Die Selbstachtung von Menschen ist von der Anerkennung durch Mitmenschen abhängig.
Denn die einen sind im Dunkeln
Bertolt Brecht, Dreigroschenoper
und die andern sind im Licht
und man sieht die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.
Der Kampf um Respekt und Anerkennung erhält in Zeiten einer verschärften Aufmerksamkeitskonkurrenz eine neue Dimension. Die "im Dunkeln" wurden exemplarisch bei den Ereignissen in der Rütli-Schule in Neukölln im Jahre 2006 besonders sichtbar. Die Schule wurde nach einigen gravierenden Konflikten zum Paradigma einer unbefriedeten, multikulturellen Chaos-Situation, die für Schulen nicht mehr mit klassisch disziplinarischen Mitteln zu lösen ist. Der Bezirksbürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln Heinz Buschkowsky beschrieb in seinem heftig angefochtenen Bestseller "Neukölln ist überall" (2012) die Effekte einer weitreichenden Segregation von Menschen mit Migrationshintergrund, die kulturelle Identität als Tarnung einsetzten, um den Staat und seine Leistungssysteme auszunutzen. Diese sozial schädliche Abgrenzungspolitik sei nur durch Bildung zu durchbrechen.
Dass die Politik an die Bildung und damit vermittelt an die Moral das zurückgibt, was gesellschaftlich nicht lösbar erscheint, ist ein alter Entlastungsstandard. Die Sozialisation von Rechtsauffassungen in Schule und Elternhaus, entscheidend aber in den Medien, bietet zweifelsohne kein Bild der Konformität. Die moderne Medienerziehung setzt Kinder dem moralischen Druck wechselnder Auffassungen von Gut/Böse, Gerecht/Ungerecht, Richtig/Falsch und ihren zahlreichen Schattengestalten aus.
Die "Lümmel von der letzten Bank" standen weiland prall im Rampenlicht, angeblich notfalls gegen eine Aufwandsentschädigung, wenn sie sich mediengerecht als "Chaoten" inszenierten. Das ZDF dementierte seinerzeit, "Prügelschüler" für die Kamera gekauft zu haben. Lediglich zwei Schülern habe man jeweils 200 und 100 Euro gezahlt, weil sie bis zu acht Tage lang gefilmt wurden. Nachdem die Schulleitung ausgetauscht wurde, wurden im Dezember 2007 zwanzig Sicherheitsleute der Wachschutzfirma "Germania" tätig, die "Deeskalationstraining" und "Rollenspiele" in ihrem Sicherheitsmagazin mit sich führten. "Im Namen des Vaters", "Padre Padrone" "If", Uhrwerk Orange", "Die Klasse von 1984" sind Filmbeispiele für das Versagen gesellschaftlicher Integration und das Abgleiten von Jugendlichen in Selbstjustiz, denen die gesellschaftliche Anerkennung versagt wird.
Juvenile Kriminalität ist seit je Teil der riskanten Gratwanderung, sich von den Vätern zu emanzipieren und in diesem Widerstand ein anerkanntes Mitglied eben dieser Gesellschaft werden zu können - oder zu scheitern. Die Kids von der Rütli-Schule wollten "Respekt". Respekt ist bei diesen Gruppen nicht irgendeine moralische Kategorie, sondern die zentrale. Soweit diese Schüler "Respekt" einfordern, treffen sie sich in dieser Forderung mit Niklas Luhmann, der "Achtung" als eigentlichen Grund der Moral genannt hat.
"Es geht ja gar nicht darum, dass sie unendlich viele Regeln auswendig lernen sollen, es geht schlicht um Respekt", sagt der ehemalige Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert. "All I'm asking for is just a little respect", hieß ein Soul-Klassiker von Otis Redding aus dem Jahre 1965, der insbesondere in dem Welterfolg-Remake (1967) von Aretha Franklin eine hymnische Bedeutung erlangte, den weiterhin unbefriedigten Anspruch des afroamerikanischen Bevölkerungsanteils der USA zu reklamieren, nicht nur auf dem Papier anerkannt zu werden.
Den Anspruch auf Anerkennung durch den Anderen betrachtete Alexandre Kojève als das historische Agens schlechthin. Wenn dem umfassend Genüge getan werde, ende die menschliche Geschichte der Widersprüche. Versagt die Welt dagegen den Respekt, wird das Moralschema explosiv. Der italienische Philosoph Franco Berardi spricht von paradoxen "Helden", die in Gesellschaften keine Anerkennung erfahren und im Terror oder Amoktaten endlich selbstbestimmt handeln. Für Berardi spielt die Ideologie solcher Täter keine große Rolle. Entscheidend sei deren psychopathologische Ausrichtung, wenigstens in diesen Akten einmal "Sieger" zu sein. Häufig beobachten wir die abrupten religiösen "Bekehrungen" nach dem desolaten Verlauf einer Biografie, die durch Momente gesellschaftlicher Marginalisierung und des Gefühls des persönlichen Scheiterns geprägt ist.
Spekulationen über die generelle Gewalteignung des Islam bleiben hinter diesem Erkenntnisniveau zurück, zudem die Bibel als Kompendium exzessiver Gewaltanwendung keinen Vergleich scheuen muss. Der seit früher Kindheit verhaltensauffällige Anders Breivik, der in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete, war ein erklärter Feind des Islam. Handlungsgründe sind in moralischen Angelegenheiten je kritisch auf Rationalisierung und Instrumentalisierung hin zu untersuchen - bis eben zu dem Punkt, an dem wir erkennen könnten, dass ideologisch leicht erhältliche Gründe destruktiven Energien nacheilen.
Wenn Gesellschaften nicht mehr in ausreichendem Umfang Anerkennung für ihre Mitglieder herstellen, nimmt die Gewaltbereitschaft zu. Deutlich wird damit, dass das meritokratische Modell des Aristoteles erweitert werden muss, weil es für eine homogene, harmonieverpflichtete Gesellschaft formuliert wurde. Die Auszeichnung verdienstvoller Mitglieder eines Gemeinwesens ist zu wenig, um Ansprüche auf Anerkennung in Massengesellschaften zu befriedigen. Das "Bundesverdienstkreuz" oder der vormalige DDR-Ehrentitel "Held der Arbeit" sind systemische Selbstvergewisserungen mit bedingt motivationalen Effekten für die Mitglieder einer Gesellschaft. In einer Dissensgesellschaft ist der Begriff der "Ehre" notleidend geworden. Keiner weiß in einer Demokratie so genau, "was Ehre ist" (Wilhelm Korff).
Respekt, Ehre, Anerkennung lassen sich in den uns bekannten Gesellschaften nicht in beliebiger Menge herstellen, so dringend dieser moralische Betriebsstoff nicht nur für verunsicherte Jugendliche auch sein mag. In der DDR war das Auszeichnungssystem so weitläufig, dass prinzipiell zwar jeder mit dieser Art sozialer Anerkennung hoffen konnte, doch diese meritorische Verausgabung schafft das Problem, das die Anerkennung entwertet wird. Anerkennung ist ein Akt der Herausnahme aus einer Gruppe, deren Mitglieder während dieses Vorgangs zurückstehen. Andy Warhols Formel "In Zukunft wird jeder 15 Minuten weltberühmt sein" harmoniert dieses Problem in einem massenmedial geprägten Zeitschema, das längst nicht als Lösung dienen könnte.
Als personale Kategorie ist es zudem wichtig, von wem der Respekt kommt. Wer bereits Achtung genießt, kann Achtung vermitteln. Kids suchen den Respekt bei Kids. Das hat dazu geführt, die "coolness" als Entscheidungsmoment bei "teen courts" bzw. Schülergerichten einzuführen. Diese Gerichte verhandeln unter Verfahrensvoraussetzungen, die sich erheblich vom klassischen Strafprozess unterscheiden. Es geht um typische Jugenddelikte wie Schwarzfahren, Ladendiebstahl, ggf. Körperverletzungen. Voraussetzung ist ein Geständnis der Tat, sodass das Gericht im Wesentlichen nur über das Strafmaß zu entscheiden hat.
Das Sanktionsprogramm, gemeinnützige Arbeiten und Entschuldigungen, gilt dabei als weniger wichtig als der Disziplinierungseffekt, der darin liegt, durch Gleichaltrige verurteilt zu werden, die ein Verhalten durch das justizförmige Verfahren öffentlich machen und der Differenz "cool/uncool" folgen, mit anderen Worten dem Täter klar machen, dass das Verhalten keine Achtung vor Gleichaltrigen verdient. Hier knüpft man an den umfassenden Begriff der "Verurteilung" an, die eben auch und gerade in einer Peer-Gruppe so schmerzlich erfolgen kann, dass der motivationale Effekt erheblicher sein kann als ein staatliches Unwerturteil.
Achtung ist ein Moralmodus, der Konflikte zulässt. Eine frühe Form der konfliktorientierten Achtung wäre "Ritterlichkeit", die sich in einem Turnier erweist, das existenzielle Verlaufsformen bis zum Tode hin kennt, aber keine Kämpfe jenseits des einvernehmlichen Turnierformats. Das gegenwärtige Paradox des Prinzips des Respekts stellt sich anders dar: Solchen Schülern wird vorgeworfen, es selbst an Respekt fehlen zu lassen und anderen das nicht zu erweisen, was ihnen so notwendig erscheint. Im Feld der Ehre stoßen wir auf dieses Phänomen häufiger. Die UEFA startet 2016 die "Respect-Kampagne" mit dem Hinweis, dass es ohne Respekt keinen Fußball geben könne. Diese "existenzielle" Erklärung stößt auf Grenzen, da Nationalstolz und Häme hier ihr spätes und meistens gewaltfreies Ventil finden. Wenn Tausende Besucher gegnerische Spieler auspfeifen, ist das nach der Respekt-Maxime ein unmoralischer, aber zulässiger Vorgang. Die Versagung des Respekts ist Teil des Programms, auch wenn die idealtypische Beschreibung des fairen Spiels andere Bilder entwirft.
Jenseits dieser spielerischen Szenarien beobachten wir Wutreaktionen anlässlich der angeblichen Beleidigung religiöser Gruppen, die zu Volksaufständen, zumindest für kurze mediale Zeiten, hochgefahren werden und dann, wie immer bei Erregungen, regelmäßig folgenlos verpuffen. Wut und Zorn sind ideale Instrumente, Respekt einzufordern und zugleich komplexe Diskurse zu vermeiden. Wer wütend ist, stellt sich von Argumenten frei. Erregungen haben nicht nur den psychohygienischen Effekt, sich Luft zu machen, sondern dürfen zugleich auf eine politische Streitunkultur vertrauen, die jenseits des Diskurses ansetzt. Das prädestiniert spezifische Mitläufertypen, sich erfolgreich in einer Gruppe zu definieren, wenn ihnen schon sonst die Gesellschaft keinen Erfolg vermittelt.
Erregung schafft den Gemeinschaftsgeist, den Denken selten gewährt - was zur psychologischen Grundausstattung von Demagogen gehört, die die Ehre des Vaterlands und der Nation einfordern. Was als öffentliche Rhetorik, die kulturelle Identität des anderen zu achten, zum moralischen Standard wurde, macht in der Lebenspraxis nur Sinn, wenn Anerkennung mit sozialen Zuständen rückgekoppelt ist. Wer geachtet ist, aber keine Lehrstelle erhält, benötigt keine verfeinerte Wahrnehmung, diesen Zustand als Paradox zu erfahren.
In der soziologischen Diskussion wird die Verkopplung von Umverteilung und Anerkennung komplex erörtert, ohne dass greifbare Ergebnisse vorlägen. Soziale Sicherheit und ökonomische Mindeststandards sind eine Form der gesellschaftlichen Anerkennung. Wer sie nicht genießt, wird sich mit der Gesellschaft nicht identifizieren. Das könnte jede freischwebende Moraldebatte des wechselseitigen Respekts auf den Boden der sozialen und ökonomischen Tatsachen zurückholen.