Der politisierte Tote
Die Ermordung des Internetjournalisten Grigorij Gongadse im Jahr 2000 war ein Mitauslöser der Orangenen Revolution und spielt nun im Wahlkampf erneut eine Rolle
38 Journalisten sind nach Angaben der ukrainischen Journalistengewerkschaft seit der Unabhängigkeit des Landes ermordet worden. Einer der bekanntesten und letzten Ermordeten war Grigorij Gongadse, der Gründer der Internetzeitung Ukrainska Pravda. Im September 2000, nur sechs Monate nach dem Start der Ukrainska Pravda, wurde der regierungskritische Journalist entführt und ermordet. Die Tat hatte das Land erschüttert und war mit ein Grund für die Orangene Revolution, da von Anfang an wichtige Vertreter des Regimes, allen voran Ex-Präsident Leonid Kutschma, für den Mord verantwortlich gemacht wurden. Der jetzt verhaftete mutmaßliche Mörder Gongadses, Aleksej Pukatsch, bestätigt diese Vermutung. Doch die Verhaftung des ehemaligen Polizeiobersts, nach dem jahrelang im Ausland gefahndet wurde, hat einen faden Beigeschmack. Vieles deutet daraufhin, dass mit der Verhaftung von Pukatsch Präsident Juschtschenko im anstehenden Wahlkampf punkten möchte.
Viele Leser hat Grigorij Gongadse mit der von ihm Jahr 2000 gegründeten Internetzeitung Ukrainska Pravda nicht gehabt. Zu dem Zeitpunkt war das Internet noch nicht weit verbreitet in dem flächenmäßig zweitgrößten Staat Europas, was sich auch in den Besucherzahlen bemerkbar machte. Gerade mal 3.000 Leser pro Tag verzeichnete damals der Server der Ukrainska Pravda. Doch das Internet war für die Journalisten der einzige Ausweg, um der Zensur zu entgehen.
Die damaligen Machthaber schienen die Internetzeitung dennoch zu fürchten. Die Ukrainska Pravda, die von ihren Machern auch als Reaktion auf die Repressionen des Kutschma-Regimes gegen die Presse verstanden wurde, fiel vor allem durch ihre regierungskritischen Artikel auf. Von Beginn an berichtete das Online-Medium regelmäßig über Korruption, Misswirtschaft sowie die engen Verbindungen zwischen der Politik und den Oligarchen. Ein Journalismus, der nicht gerade nach dem Geschmack der herrschenden Elite war und gegen den sie in der Regel mit rabiaten Mitteln vorging. Zwischen 1998 und 2002 wurden nicht nur ganze Tagesauflagen einiger Zeitungen beschlagnahmt oder Verlage in den Ruin getrieben, sondern unliebsame Journalisten auch ermordet. 11 ermordete Journalisten zählte die Organisation Reporter ohne Grenzen in diesen vier Jahren.
Grigorij Gongadse (Verstöße gegen die Pressefreiheit nehmen weltweit zu), der aus einer georgisch-ukrainischen Ehe entstammt, ist der bekannteste der zwischen 1998 und 2002 ermordeten Journalisten. Bereits im Juli 2000 machte die Ukrainska Pravda publik, dass Gongadse überwacht und verfolgt wurde. Über die Bedrohung informierte der Journalist nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch das Innenministerium. Am 14. Juli meldete er dies offiziell den Sicherheitsbehörden, die seine Aussage protokolliert haben. Doch weder der Gang an die Öffentlichkeit noch die Anzeige beim Innenministerium konnten Gongadse schützen. Am 16. September wurde der Journalist, der vor der Gründung der Internetzeitung auch beim Radio und Fernsehen arbeitete, auf dem Heimweg von der Arbeit entführt. Zwei Monate später fand man seinen enthaupteten und mit Benzin übergossenen Leichnam in einem Wald bei Kiew.
Die Ermordung des 31-jährigen Gongadse, der eine Frau und zwei Kinder hinterließ, entwickelte sich schnell zu einem Politikum. Während auf dem Kiewer Maidan, dem zentralen Platz in der ukrainischen Hauptstadt, auf dem wenige Jahre später die Orangene Revolution ihre Zelte aufschlagen sollte, aus Protest gegen die Ermordung Demonstrationen stattfanden, zu denen unter anderem die Ukrainska Pravda, Journalistenverbände und Oppositionsgruppen aufriefen, versuchte das Kutschma-Regime die Ermittlungen zu behindern. So verweigerten die Behörden eine DNA-Analyse, die die entstellte Leiche endgültig als Grigori Gongadse hätte identifizieren können. Nur anhand seiner Schmuckstücke konnte der Tote als der vermisste Journalist erkannt werden.
Diese Umstände lenkten ziemlich schnell den Mordverdacht auf die Spitze des ukrainischen Staates. Auch deshalb, weil Kutschma-Gegner Alexander Moros, Vorsitzender der Sozialistischen Partei, angebliche Beweise für die Verwicklung der Staatsspitze an dem Mord vorlegte. Zuerst veröffentliche der Politiker ein in Deutschland erstelltes gerichtsmedizinisches Gutachten, welches die gefundene Leiche als Grigorij Gongadse identifizierte. Später machte Moros Tonbänder publik, auf denen sich drei männliche Personen über die Ermordung des kritischen Journalisten unterhalten.
Die Veröffentlichung löste in der ehemaligen Sowjetrepublik den so genannten "Kassetten-Skandal" aus. Denn die drei Männer, die sich auf den heimlich aufgenommenen Tonbändern Gedanken über die Ermordung des kritischen Journalisten machen, sollen keine geringeren als der damalige Staatspräsident Leonid Kutschma, sein Innenminister Jurij Krawtschenko sowie der Leiter der Präsidialverwaltung, Wolodomir Litwin, sein. Dies behauptet jedenfalls bis heute Nikolaj Melnitschenko, ehemaliger Leibwächter Kutschmas, der die Tonbänder heimlich aufgenommen haben will.
Mysteriöser Tod des ehemaligen Innenministers
Und obwohl die Echtheit der Aufnahmen sowie die Identität der darauf zu hörenden Personen niemals genau geklärt werden konnten, machten sie Kutschma zum mutmaßlichen Drahtzieher des Mordes. Auch deshalb, weil der ehemalige Innenminister Jurij Krawtschenko am Tag seiner Aussage bei der Generalstaatsanwaltschaft zum Mordfall Gongadse, am 4. März 2005, tot in seiner Datscha aufgefunden wurde. Ob es sich bei dessen Tod aber tatsächlich um einen Selbstmord handelt, trotz eines Abschiedsbriefes, in dem von Krawtschenko als "Opfer der politischen Intrigen von Präsident Kutschma und seiner Umgebung" die Rede ist, ist bis heute ungewiss. Noch wenige Stunden vor Krawtschenkos mutmaßlichen Selbstmord behauptete Grigorij Omeltschenko, Vorsitzender des parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Fall Gongadse, dass das Leben des ehemaligen Innenministers in Gefahr sei. Auch die zwei Schussverletzungen, die der Körper Krawtschenkos aufwies, lassen keinen Selbstmord vermuten.
Zu diesem Zeitpunkt war Leonid Kutschma jedoch seit Monaten nicht mehr Staatsoberhaupt der ehemaligen Sowjetrepublik. Der Mordfall Gongadse brachte die Spannungen innerhalb der ukrainischen Machteliten zum Vorschein, bei denen vor allem Präsident Kutschma sowie seine Kontrahenten Viktor Juschtschenko, von 1999 bis 2001 Premierminister, und Julia Timoschenko im Vordergrund standen. Ein mit allen Mitteln geführter Machtkampf, der im Winter 2004/05 zu der Orangenen Revolution führte (Who is Who im Kiever Machtkampf?). Und ein Versprechen der Orangenen Revolutionäre war die Aufklärung des Mordes an Grigorij Gongadse.
Die Hintermänner des Mords an dem Journalisten bleiben im Dunklen
Im März 2005, quasi zeitgleich mit dem mysteriösen Tod des ehemaligen Innenministers Jurij Krawtschenko, erklärte die Generalstaatsanwaltschaft das Versprechen für erfüllt. Anfang März verkündete die Kiewer Staatsanwaltschaft die Verhaftung zweier Offiziere des Innenministeriums, zu denen später ein dritter Geheimpolizist hinzukam. Doch obwohl alle drei Tatverdächtigen ihre Beteiligung an dem Mord gestanden haben und dafür im März 2008 zu 12 und 13 Jahren Haft verurteilt wurden, wurden die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft sowohl im Ausland als auch in der Ukraine kritisiert. "Die erste Etappe ist abgeschlossen: Der Auftrag der Staatsführung ist erfüllt, die Mörder sind verurteilt, und der Welt werden die Haftstrafen verkündet. Die zweite Etappe ist die Beisetzung, und damit soll alles beendet werden", erklärte beispielsweise Lesja Gongadse gegenüber der Deutschen Welle nach der Urteilsverkündung. Für die Mutter des ermordeten Journalisten, die auch an der Identität der aufgefundenen Leiche zweifelt, wurden nur die Vollstrecker, jedoch nicht die Drahtzieher der Tat zur Verantwortung gezogen.
Die Zweifel sind bis heute berechtigt. Vor allem auch deshalb, weil mit Aleksej Pukatsch, einem ehemaligen Oberst des Innenministeriums, der nach Aussagen der drei bereits verurteilten Polizisten nicht nur die Entführung Gongadses geplant, sondern den Journalisten auch eigenhändig erwürgt haben soll, jahrelang untergetaucht war. Und dies obwohl Pukatsch bereits 2003 wegen seiner Beteiligung an dem Gongadse-Mord verhaftet wurde.
"Absurdes Theater"
Doch nun hat der Fall eine neue Wendung genommen. Am 21. Juli, nach sechs Jahren Flucht, wie es in Kiew offiziell hieß, wurde Pukatsch verhaftet. Doch er fiel den Sicherheitsbehörden nicht in Indien oder Israel in die Hände, wo er mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wurde, sondern überraschenderweise in einem kleinen Dorf, wo er mit einer Frau und ihrer Tochter jahrelang unter seinem richtigen Namen lebte und sich sein Geld in der Landwirtschaft verdiente.
Allein diese Tatsache macht die Verhaftung Pukatsch’ zu einem "absurden Theater", wie die von Gongadse gegründete Ukrainska Pravda am 27. Juli schrieb, denn seit der Verhaftung des einstigen Geheimdienstmannes haben Gerüchte und Spekulationen Hochkonjunktur in der ukrainischen Öffentlichkeit. So vermutete die ukrainische Ausgabe der Komsomolskaja Prawda, dass der Geheimdienst SBU nicht Pukatsch, sondern einen Doppelgänger verhaftet habe. Nikolaj Melnitschenko, der einst die Tonbandaufnahmen in Kutschmas Büro machte, behauptete dagegen, dass die USA Pukatsch in die Ukraine brachten und ihn dadurch an die ukrainischen Behörden auslieferten. Als Beweis seiner These dient dem ehemaligen Leibwächter der Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden in Kiew, der zeitgleich mit der Verhaftung stattfand.
Der Parlamentsabgeordnete Gennadij Moskal wiederum interpretierte die Verhaftung Pukatsch ganz anders. Der Politiker ist davon überzeugt, dass der Hauptverdächtige jahrelang in dem Dorf lebte, was für ihn bedeutet, dass die Behörden nur vorgaben, nach Pukatsch zu fahnden. Eine These, die von Pukatsch Anwalt bekräftigt wird. "Pukatsch hat ganz einfach beschlossen, sich zu ergeben. In Wirklichkeit hatte ihn auch niemand gesucht, und er hatte sich auch gar nicht versteckt", erklärte Sergej Osyka gegenüber der ukrainischen Presse.
Welcher dieser Thesen der reinen Fantasie entsprang und an welcher wenigstens ein Fünkchen Wahrheit dran ist, kann momentan nicht geklärt werden. Es ist auch fraglich, ob die genaueren Umstände von Pukatsch’ Verhaftung, die Präsident Viktor Juschtschenko als einen Durchbruch in dem Ermittlungen des Mordfalls Gongadse bezeichnet, jemals an die Öffentlichkeit kommen. "Die ukrainischen Behörden sind nicht wirklich dran interessiert, den Mord an Gongadse aufzuklären", behauptet keine geringere als Walentina Telytschenko, Anwältin der in den USA lebenden Witwe des Ermordeten, in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitschrift Zerkalo Nedeli.
Viktor Juschtschenko will mit der Verhaftung seine Chancen im Wahlkampf verbessern
Und dies liegt nicht nur an den Ermittlern und den Politikern, die teilweise ihre Karrieren unter Leonid Kutschma begannen, sondern auch an den politischen Interessen des jetzigen Präsidenten Viktor Juschtschenko. Einiges deutet jedenfalls daraufhin, dass der einstige Held der Orangenen Revolution mit der Verhaftung des Hauptverdächtigen bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen punkten möchte. So untersteht der Inlandsgeheimdienst, der Pukatsch verhaftete, dem ukrainischen Staatsoberhaupt. Und auch der Zeitpunkt der Aktion, die vom Geheimdienst gefilmt wurde und kurze darauf nicht nur im Fernsehen, sondern auch bei Youtube zu sehen war, lässt auf Eigeninteressen Juschtschenkos schließen. Die bisherigen Umfrageergebnisse geben ihm keine Chance auf eine Wiederwahl im Januar.
Dass Viktor Juschtschenko mit der Verhaftung von Aleksej Pukatsch eigene Ziele verfolgt, davon ist auch der Menschenrechtler Aleksej Podolski überzeugt, der im Sommer 2000 ebenfalls von Pukatsch entführt und gefoltert wurde. "Pukatsch' Verhaftung war ein cleverer Zug für die anstehenden Präsidentschaftswahlen. Diejenigen, die ihm einst halfen sich zu verstecken, haben ihn jetzt preisgegeben. Ich glaube einfach nicht, dass er sich sechs Jahre lang unter seinem richtigen Namen verstecken konnte, ohne dass ihn jemand fand. Das ist Quatsch. Da war einfach kein politischer Wille vorhanden, ihn eher zu präsentieren, weil all unsere Politiker inmitten des Umfelds von Kutschma groß geworden sind, inklusive Juschtschenko", sagte Podolski gegenüber der englischsprachigen Kyiv Post.
Juschtschenko und sein Umfeld versuchen diese Bedenken jedoch zu zerstreuen. Eine Woche nach der Verhaftung von Pukatsch präsentierten die Ermittler ein Schädelfragment, welches angeblich nach einem Hinweis des Verhafteten gefunden werden konnte. Und am 3. August meldeten ukrainische Nachrichtenagenturen, dass Pukatsch den Behörden bereits alle Drahtzieher des Mordes an Gongadse genannt habe. Namen, die aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen einige Brisanz vermuten lassen. Die Geständnisse Pukatsch wurden an mehrere geheim gehaltene Orte gebracht, zudem ist auch unbekannt, in welchem Gefängnis Pukatsch einsitzt.
Gleichzeitig ist es auch eine Nachricht, die in der ukrainischen Presse zur neuen Spekulationen führt. Wie die Zeitung Ukraina Moloda berichtet, könnte Pukatsch in der Haft Selbstmord begehen. Nach Informationen der Zeitung sollen es ihm die Behörden jedenfalls nicht unmöglich machen.