Der tägliche Straßenkampf

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Nachdenken über die Zukunft unserer Mobilität

Morgens setzt sich der Europäer ins Auto, er nimmt die Trambahn, den Bus oder den Zug, manchmal auch das Flugzeug, womöglich schwingt er sich auf sein Velo oder besinnt sich auf des Menschen ältestes Fortbewegungsmittel: seine Füße. So bewegt er sich durch den Tag, das Ganze heißt Verkehr und ist für den Menschen eine so unspektakuläre wie selbstverständliche Angelegenheit, dass er kaum bemerkt, was er da tut.

Ins Nachdenken gerät er erst, wenn der Verkehr (den Kluges "Etymologisches Wörterbuch" von "miteinander umgehen" herleitet) stockt, wenn er durch Unfälle aus der Bahn gerät oder er so teuer wird, dass die Kosten das individuell erträgliche Maß übersteigen. Bis dahin aber gilt mit den Worten des Historikers Karl Schlögel, dass das "schiere Funktionieren" der Zivilisationsroutine Verkehr dazu führt, dass sie nicht "der Rede und Reflexion wert" ist.

Heute, so darf man konstatieren, ist die uneingeschränkte Mobilität zu einem Wesensmerkmal des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats geworden. Aber zugleich wurde die freie Verkehrsmittelwahl zu ihrem Dogma. Sagt Benedikt Weibel, der viele Jahre lang Chef der Schweizerischen Bundesbahn SBB war und dennoch ein Freigeist geblieben ist, dem eine ideologische Sicht auf die Verkehrswende fremd ist.

Versteht man Mobilität als Grundbedingung für den Wohlstand, dann wird zwar nachvollziehbar, dass sie permanent zunimmt. Zugleich aber verursacht sie einen Viertel des globalen CO2-Ausstosses. Mit anderen Worten: die Bewältigung künftiger Mobilitätsströme ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Und dabei spielt das Auto eine Hauptrolle. 1960 existierte in Deutschland noch weniger als ein Zehntel der heutigen Fahrzeugmenge: 4,49 Millionen PKWs.

Ähnlich ist die Entwicklung in Frankreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Das Problem dabei ist, dass das heutige Straßennetz vor allem der Großstädte just in den Jahren um 1960 geschaffen wurde, als Autos "modern", aber gemessen am heutigen Niveau selten waren.

Sie wurden zum Schlüsselvehikel einer Stadtplanung, die Wohnen, Arbeiten und Konsum erst räumlich trennte und anschließend durch ein neues Netz aus Autobahnen, mehrspurigen Stadtringen und breiten Straßen wieder zusammenband. Auf ihm sollte das Auto den Menschen einen reibungsfreien Alltag sichern.

Doch so breit man die Straßen auch plante, der rasanten Zunahme des Autoverkehrs konnten sie nicht standhalten. Was indirekt offenbart, dass die Frage nach dem städtischen Autoverkehr sich nicht allein als eine nach dem sinnvollsten oder praktikabelsten Fortbewegungsmittel stellt. Gegen die nüchternen Zahlen der Statistiken stehen Vorstellungen und Bilder vom Auto, an denen nicht nur die Automobilindustrie seit den 1960er Jahren mit ihrer Werbung arbeitet.

Das Auto in der Großstadt ist deshalb (nicht nur) für Benedikt Weibel der Prüfstein für die Verkehrswende:

Über die Hälfte aller Autoetappen sind kürzer als zehn Kilometer. Es mag gute Gründe für Kurzdistanzfahrten mit dem Auto geben, was aber einen derart hohen Anteil nicht rechtfertigt. Die gute Nachricht: Hier besteht ein großes und leicht umsetzbares Optimierungspotenzial. Der wesensgerechte Einsatz eines Verkehrsmittels kann durch technologische Entwicklungen verändert werden. Den größten Sprung machte in der jüngeren Vergangenheit das Fahrrad. Mit dem E-Bike wurden Reichweite und Geschwindigkeit in einer Weise verbessert, dass der Privatwagen im urbanen Verkehr seinen Vorteil sogar bei der Geschwindigkeit verloren hat.

Aktuelle Untersuchungen belegen, dass eine Pkw-Fahrt von Zuhause zur Arbeit neunzigmal mehr Raum beansprucht, als dieselbe Fahrt mit Bus oder Straßenbahn, und beträchtlich mehr, als wenn ein Fahrrad benutzt worden wäre. Selbst in Kopenhagen, einer der Fahrradhauptstädte der Welt, sind 66 Prozent des Straßenraumes den Autos vorbehalten, während nur 9 Prozent der Fahrten mit diesem Verkehrsmittel unternommen werden.

Der Verkehr, sagt der Lausanner Kunsthistoriker René Berger, habe ein eigenes Milieu hervorgebracht mit eigenen, streng genormten Signalen und Zeichen. Sie sind dreieckig, kreisrund oder rechteckig, ihre Farben rot (aufpassen!) und blau (bitte!), weiß und gelb (dort entlang!). Sie bestimmen mit militärischer Rigorosität, wie wir unsere Rolle als Verkehrsteilnehmer im Stadtdrama zu spielen haben – damit wir niemanden gefährden, damit wir uns zurechtfinden.

In diesem System erhält jedoch das motorisierte "Ich" einen privilegierten Platz. Damit hört die Stadt auf, als das zu existieren, was sie jahrhundertelang war, nämlich als ein Wohnort für Menschen, ein Ort ständiger Beziehung zwischen ihren Bürgern. Sie wird ein Netzwerk von Bewegungen im Raum.

René Berger

Die Zeichensprache ersetzt dabei die Wörtersprache als Mittel der Verständigung.

Die Digitalisierung wirft in diesem Kontext den Schlachtruf vom "Tod der Distanz" in die Debatte – was insinuiert, das Meiste machen wir künftig über das Netz in virtuellen Welten: Sich vom Raumpunkt wegzubewegen, sei eher Zeitverschwendung als tatsächlich sinnvoll und notwendig. Mit der Entwicklung digitaler Netze, Geräte und Dienste haben sich Mobilitätsmöglichkeiten ja tatsächlich vervielfacht.

Das Begriffspaar der physischen und virtuellen Mobilität bringt zum Ausdruck, dass wir uns sowohl in realen Raumbezügen bewegen als auch an virtuellen "Orten" aufhalten und dort alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Online-Shopping, Telearbeit oder soziale Netzwerke sind die heute am weitesten verbreiteten Beispiele hierfür. Das mobile Internet in Verbindung mit der massenhaften Verfügbarkeit mobiler Endgeräte verändert die Bedeutung konkreter Orte für die Durchführung verschiedenster Aktivitäten.

Mobiles Internet inklusive datengestützter Apps und Services machen es in immer mehr Lebensbereichen möglich, Aktivitäten räumlich, zeitlich und modal in einzelne Schritte aufzuteilen. Ohne diese neuen technischen Möglichkeiten waren die meisten Aktivitäten wie z.B. Arbeiten bisher an konkrete physische Orte gekoppelt. Mit ihnen können viele Arbeiten im Büro, zuhause oder unterwegs erledigt werden, d.h. Arbeit findet häufig räumlich fragmentiert statt. Was wiederum einen deutlichen Einfluss hat auf Anzahl und Struktur zurückgelegter Wege.

Die räumliche Flexibilität ist eng verknüpft mit einer zeitlichen Flexibilität der Durchführung von Aktivitäten. So kann man online im 24/7-Modus – 24 Stunden am Tag, jeden Tag in der Woche – shoppen und streamen. Zudem sind viele Aktivitäten nicht länger an eine bestimmte Art und Weise der Ausführung gebunden. Sie können nun sowohl auf einem physischen Weg oder aber durch einen Kommunikationsvorgang erledigt werden.

Schauen wir auf unseren Alltag, stoßen wir immer öfter auf eine Art Parallelisierung, was aber freilich nicht erst seit Erfindung des Smartphones gilt. Dies kann beispielsweise am Bahnfahren aufgezeigt werden. Wer in einem Zug mit stabiler Internetnutzung reist, kann getreu dem Werbeslogan der Deutschen Bahn "Diese Zeit gehört Dir", seine Zeit nach Gutdünken nutzen und, während vielleicht das Rheintal oder das Alpenvorland an einem vorbeizieht, arbeiten, einkaufen, oder Bankgeschäfte tätigen.

Der zentrale Unterschied zur alten analogen Zeit ist der, dass früher während der Reise viele Aktivitäten nur vorbereitet werden konnten. Heute hingegen können wir vollständige Workflows abschließen. Hier entstehen zunehmend Rationalisierungsstrategien, mit denen Zeit verdichtet wird. All dies hat komplexe Auswirkungen auf die realisierte Mobilität, also den Verkehr, die bislang aber empirisch nur wenig nachvollzogen werden können.

Gleichwohl – und dem eben Gesagten nicht widersprechend – dürfte klar sein, dass die Mobilität in der Stadt künftig von einer Mischung aus langsamen und schnellen Bewegungen geprägt sein wird, mit ganz unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern und -mitteln im selben Raum.

Die Rolle des Autos wird abnehmen, die Bedeutung der Geschwindigkeit wird sich verändern. Nicht mehr schneller und weiter weg, sondern langsamer und nicht so weit fahren. Nicht mit dem Auto oder der Schnellbahn, sondern zu Fuß und mit dem Fahrrad werden sich die Menschen in Zukunft in der Stadt bewegen. So lautet zumindest eine nachvollziehbare Vision.

Die typische deutsche Antwort auf diese Herausforderung lautet: "Das müssen wir organisieren und dann verordnen." Dass genau das oft nicht klappt, hat man indes nicht auf dem Zettel. Könnte nicht auch das Gegenteil zum Erfolg führen? Unorganisiert und nicht verordnet?

In Holland hat man deshalb das Konzept Shared Space entwickelt. Verkürzt gesagt ist das so etwas wie der sich selbst erklärende Raum. In ihm weiß jeder – egal ob Fußgänger, Auto- oder Radfahrer – wie er sich verhalten muss, um anderen nicht zu schaden oder sich nicht selbst zu gefährden.

In diesem Zusammenhang hat der Potsdamer Verkehrsforscher Dirk Schneidemesser darauf hingewiesen, dass sich bereits in unserer Sprache eine problematische Einstellung zum Verkehr widerspiegelt:

Wir haben seit fast einem Jahrhundert über die Sprache die Daseinsberechtigung des Autos verinnerlicht und tief in uns verankert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Straße ein Ort, wo Kinder gespielt haben, wo man seinen Nachbarn begegnet ist, wo man auch Handel getrieben hat. Es gab Verkehr, aber das war eine von vielen Aktivitäten. Heutzutage haben wir die Vorstellung, die Straße ist da für einen einzigen Zweck, und das ist sogar verankert in unserer Gesetzgebung: den motorisierten Verkehr. Daraus folgte die Überzeugung: Wir müssen die Menschen von der Straße weghalten, damit der Autoverkehr nicht gestört wird.

Dem Shared Space liegen drei Paradigmen zugrunde: Erstens die Umgebung, die durch ihre bauliche und landschaftliche Gestaltung erkennen lässt, dass man sich unter Menschen befindet; zweitens der psychologische Aspekt, wonach weniger Regeln Unsicherheit erzeugen, was wiederum mehr Eigenverantwortung verlangt, die zu mehr Sicherheit führt; und drittens die Partizipation der Planer, Politiker und Bürger bei der Entstehung solcher Projekte.

Nun sollte man dieses Konzept nicht überhöhen – zumal zu vermuten ist, dass es nur in Dörfern und Kleinstädten funktioniert, wohl kaum in der Großstadt, die viel zu sehr von Konkurrenzen und komplexen Überlagerungen im Raum geprägt ist. Es spielt jedoch an auf eine Verlusterfahrung: Dass nämlich der einst belebte öffentliche Raum unter parkenden Fahrzeugen und bewegten Maschinen begraben wurde. Und dass es ein wichtiges Ziel sein könnte, Straßen wieder stärker zu Lebensräumen selbstbestimmter Menschen werden zu lassen.

Natürlich: Wenn man auf selbstfahrende Autos, Drohnentaxis und Hyperloops hofft, dann scheint es langweilig, über Parkregeln und Radwege zu diskutieren. Aber das sind eben die "tiefhängenden Früchte", die die Städte heute ernten können, um positive Resultate in naher Zukunft zu erhalten. Und Antworten auf die Mobilitätsfrage wird man eher im Mentalitätswandel finden als in der Lektüre der neuesten Prospekte der Autohersteller.