Der unauslöschliche Stempel
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Zwischen Jesus und Mickey Mouse: Was bleibt von der Oktoberrevolution vor 100 Jahren?
Die Oktoberrevolution hat das Fundament zu einer neuen Kultur gelegt, berechnet für alle, und gerade darum hat sie internationale Bedeutung. Sogar wenn das Sowjetregime infolge ungünstiger Umstände und feindlicher Schläge - nehmen wir das für einen Augenblick an - vorübergehend gestürzt werden sollte, der unauslöschliche Stempel der Oktoberumwälzung würde dennoch auf der ganzen weiteren Menschheitsentwicklung verbleiben.
Leo Trotzki
Der Krieg ging aus, die Revolution ging an und mit ihr die offenen Türen. Aber richtig, sie haben sich bald geschlossen.
Ernst Bloch ("Geist der Utopie" zweite Auflage, 1923)
Die Russische Revolution des Jahres 1917 war ein Schlüsselereignis für das 20. Jahrhundert. Wir alle leben bis heute in gewisser Weise im Schatten des Roten Oktober. Man hat sie bald schon verdammt. Gerade die Linke - viele Marxisten, manche Kommunisten, Syndikalisten, Anarchisten, Trotzkisten, demokratische Sozialisten und Sozialdemokraten - hat sich mit der Oktoberrevolution immer schwerer getan als die Rechte, hat sie noch stärker verworfen als die Politik des Wohlfahrtsausschusses.
Aber macht es sich nicht zum Beispiel Noam Chomsky allzu leicht, wenn er behauptet: "Lenin war ein rechter Abweicher von der sozialistischen Bewegung, und er wurde auch von den Mainstream-Marxisten genau als ein solcher angesehen"?
Wer sind denn "die Mainstream-Marxisten", die Chomsky hier meint? Etwa Josef Stalin, der Lenin nach dessen "Aprilthesen" vor einem revolutionären Weg warnte?
Chomsky nennt Luxemburg und Trotzki, die Lenin dessen "opportunistischen Avantgardismus vorwarfen". Nun hat genau diese Haltung die Revolution vollendet und die Macht erobert. Für Chomsky ist dies nur eine Entgleisung vom wahren Weg, der Spleen "einer radikalen Intelligentsia", die soziale Bewegungen "ausbeutet", um die Macht im Staat zu ergreifen, und die Macht "dann zu benutzen, um die Bevölkerung in jene Gesellschaft zu peitschen, die sie aussuchen".
Lenin "radikalliberal"?
Stimmt es denn, wenn Chomsky behauptet, Lenin sei "basically libertarian", ein radikalliberaler Denker gewesen? Weil er die Idee der Kontrolle der Werktätigen über die Produktionsmittel für illusorisch und kontraproduktiv hielt? Lenin wusste eben, dass mit dieser Bevölkerung vielleicht noch eine Revolution, aber gewiss kein Staat zu machen sei, er war Politiker, kein orthodoxer Priester einer Ideologie.
Fragen wir anders: Wo strahlt die Revolution bis ins Heute hinein? Die Antwort ist einfach: Überall da, wo das Politische sich aus dem Privaten zu lösen vermag, das es gegenwärtig gefangen hält. Denn auch, wenn alles Private politisch ist, gilt deshalb nicht der Umkehrschluss, der heute gern von den "Identitären" bis zur MeeToo-Debatte, vom Bioladen bis zum Oktoberfest gezogen wird: Dass alles Politische privat sei.
Diese Formel verwendet auch keiner, weil sie das Problem allzu offen benennen würde. Stattdessen kleidet sich die Handlungsvergessenheit, die Tatenlosigkeit, die Risikovermeidungsstrategie und der Gewaltekel der heutigen Linken in wohlfeile Floskeln wie "Gerechtigkeit", "Anerkennung", "Mikropolitik", "Minderheitenschutz" oder in schlichten Moralismus und ein Regime der Korrektheiten. Eine revolutionäre Linke aber hätte zuallererst inkorrekt zu sein.
Der Augenblick, in dem das Öl sich vom Wasser trennt
Wer von "der Russischen Revolution" spricht, der meint in der Regel die bolschewistische "Oktoberrevolution". Heute verlegen sich viele Historiker auf relativierende bis relativistische Bestimmungen und sprechen von "den Russischen Revolutionen" und behaupten eine Vielzahl von Revolutionen im Zeitraum zwischen 1905 und 1921, anstatt sich klar zu machen, dass auch "die" Französische Revolution" ein Jahrzehnt umfasste.
Letztendlich geht es trotzdem um einen "großen Bruch" (Felix Philipp Ingold) in der russischen Geschichte, um ein, zwei, drei Augenblicke, in denen das Öl sich vom Wasser trennt und die Zeit in ein "Vorher" und "Nachher" zu scheiden ist. Vielleicht sind es in diesem Fall sogar tatsächlich vier: 1905, "die erste Revolution" (Martin Aust), das "Schwellenjahr" (Felix Philipp Ingold) 1913, das Jahr eines beispiellosen kulturellen Umbruchs, der auch die übrigen Bereiche Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erfasst und den Boden für das folgende bereitet, dann natürlich 1917 und vielleicht auch 1922.
Die Große Revolution von 1917 war das folgenreichste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Die Gründung des ersten sozialistischen Arbeiterstaats der Geschichte motivierte und faszinierte die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen auf der ganzen Welt. Sie begründete eine neue Gegenwart, und die Stellung zu ihr definierte die unterschiedlichen politischen Positionen. Das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, die Befreiung der Frau, die Elektrifizierung, Modernisierung des Landes - das zu erwähnen ist keine Verklärung, sondern Realität ...
Die Große Revolution von 1917 war ein visuelles Ereignis, ein künstlerisches und natürlich ein politisches. Sie war ein Fetisch. "Die Fetischisierung der Revolution bildet ein konstitutives Merkmal der Sowjetideologie" schreibt Bini Adamczak in ihrem lesenswerten Buch "Beziehungsweise Revolution". Kunst-Utopien, Gemälde und Filme der Avantgarden spiegelten die reale Zertrümmerung der Unterdrückungs-Realität des Zarenreichs.
Die Russische Revolution ließ kaum ein Land der Welt unberührt, wurde zur globalen Massenbewegung. Der Faszination tat ihre Gewaltgeschichte keinen Abbruch: Kolonialherrschaft und Ausbeutung durch eigene Eliten hatten Gewalt längst vertraut gemacht.
Im Auge des Betrachters?
Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial betrachten. Denn wir sind Fabrikate der alten Welt, die die neue nicht begreifen können. Die zukünftigen Generationen werden mit Amüsement, aber auch mit Verachtung auf uns zurückblicken.
Lenin
Jetzt beschäftigt sich eine umfangreiche Ausstellung am Berliner Deutschen Historischen Museum (DHM) in 54 Kapiteln mit Vorgeschichte und Verlauf dieses Jahrhundertereignisses und seinen Folgen für Politik, Kultur und Kunstgeschichte in Europa und der Welt.
Wenn man nicht genau hinguckt, kann man sich in den labyrinthischen Gängen des Neubaus des DHM leicht verlaufen und aus Versehen die Ausstellung zur Russischen Revolution und ihren Folgen von der falschen Seite her betreten.
Wer von hinten anfängt wie der Rezensent dieses Magazins, der sieht als allererstes Gregor Gysi, Marianne Birthler und Wladimir Kaminer als eine Art infernalische Dreifaltigkeit unserer Gegenwart und jedenfalls konkrete Folge der Revolution, die ihre persönlichen Erkenntnisse zum Besten geben.
Als nächstes sieht man Gegenwartskunst wie den 1976 entstandenen realistischen Tritychon "Die Oktoberrevolution" des DDR-Malers Werner Schulz. Das Rot der Fahnen wie des brennenden Winterpalais ist hier feurig, lebendig, flammend. Schräg gegenüber steht die Skulptur "Hero, Leader, God" des Russen Alexander S. Kosolapov.
Ebenfalls in Rot, aber matter und satter wie ein gedämpfter Signalton verbindet sie Gesten der sowjetischen Propaganda mit den gar nicht so anderen der Pop-Art: Gleich groß schreiten Lenin und Jesus da selbstbewusst einer unbekannten Zukunft entgegen, zwischen ihnen halten sie eine kindergroße Mickey Mouse an der Hand - wie beider Geschöpf. Wer von den dreien Gott, wer Held und wer Führer ist, das liegt im Auge des Betrachters.
So anzufangen macht also nichts, und vielleicht steckt hinter dem Irrtum ja die List einer tieferen Wahrheit - denn auf diese Weise durchkreuzt man gleich zu Beginn die brave historische Chronologie, in der jedes Ereignis eine Ursache hat, startet mit den Folgen und Mythen des "Roten Oktober" und robbt sich im Krebsgang in die Tiefen der Vergangenheit zurück; man beginnt mit Desillusionierung, Historisierung und nüchterner Bilanzierung von Soll und Haben, arbeitet sich durch Propaganda und Gegenpropaganda hindurch und spürt erst allmählich die Not und den Terror des Zarenreichs, die ursprünglich zum Gärstoff des Aufruhrs wurden.
Im Zug mit Lenin
Trotzdem - wer weiß? - wäre es womöglich nie zu dieser Revolution gekommen, die auch ein Karl Marx so wie nach ihm fast jeder europäische Marxist in diesem Land mit 150 Millionen Einwohnern für unmöglich gehalten hatte, ohne die eskalierende Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg.
Und ohne die deutsche oberste Heeresleitung, die in einem perfiden Geniestreich den emigrierten Berufsrevolutionär Wladimir Illitsch Lenin im April 1917 über die Frontlinien nach Russland reisen ließen - ganz bewusst als zusätzlichen Brandsatz und Zwietrachtsäer. Zu dem Zeitpunkt hatten bürgerliche Konservative und Liberale den Zaren in der "Februarrevolution" bereits gestürzt. "Entweder sind wir in sechs Monaten Minister oder wir hängen", sagte Lenin seinerzeit in realistischer Einschätzung der Lage.
Denn die Umstände seiner Rückkehr schürten den Verdacht, er sei ein deutscher Agent. Aber die radikalen Linken der Bolschewiki profitierten von der zögerlichen Politik der Regierung Alexander Kerenskijs und konkreten Fehlern, vor allem dem Weiterführen des verhassten opferreichen Kriegs.
So kam es im Oktober (in westeuropäischer Zeitrechnung: November) zu jenen "10 Tagen, die die Welt erschütterten", wie der amerikanische Journalist John Reed die Ereignisse in seinen Reportagen beschrieb, aus denen ein Bestseller wurde und ein Slogan, den die Sowjets sofort übernahmen.
Die Bolschewiki eroberten die Macht, und noch in der gleichen Nacht unterschrieb Lenin ein Dekret, mit dem sich das russische Reich einseitig aus dem Weltkrieg zurückzog. Das kleine braune Blatt Papier, in dem Utopie und Wirklichkeit für einen Augenblick zusammenfielen, liegt in der Ausstellung aus.
Die übrige Hoffnung der Russen auf schnelle Befreiung aus Adels-Tyrannei und Rechtlosigkeit, Unrecht und schierer Not wurde in dem von allen Seiten brutal geführten Bürgerkrieg, der erst 1922 mit der Gründung der Sowjetunion endete, erschüttert. Trotzdem folgte ein Jahrzehnt des Aufbruchs und des Optimismus, in dem die revolutionäre Modernisierung durch Sowjetmacht auf der ganzen Welt Hoffnung entfaltete. Erst die 1930er Jahre und der Beginn des Stalinismus brachten Ernüchterung.