Russlands Vertreter in Deutschland nennt deutsche Panzer in Kursk "tragisch"

Sergej J. Netschajew

Sergej J. Netschajew. Bild: www.rusemb.at / CC BY 3.0

Die deutsch-russischen Beziehungen hatten sich einst verbessert. Heute liegen sie in Scherben. Warum Botschafter Netschajew dennoch optimistisch ist.

▶ Herr Botschafter, zunächst herzlichen Dank, dass wir hier bei Ihnen sein dürfen im Gebäude der russischen Botschaft in Berlin unter den Linden. Sie haben Ihre diplomatische Laufbahn in Berlin begonnen, Deutschland war in Ihrer gesamten langen Berufszeit immer wieder das zentrale Thema. Sie sind studierter Germanist, sprechen hervorragend Deutsch, kennen sich gut aus mit deutscher Geschichte und Kultur.

Jetzt sind Sie seit fast sieben Jahren außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland. Allerdings sind die deutsch-russischen Beziehungen gerade an einem Tiefpunkt. Haben Sie die Hoffnung oder sehen Sie Anzeichen dafür, dass das absehbar anders, besser werden könnte?

Sergej J. Netschajew: Erst einmal herzlich willkommen in unserem Hause. Ich begrüße ganz herzlich Ihre Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie haben absolut recht, wenn Sie behaupten, dass das deutsch-russische Verhältnis heute bedrückend ist, sehr bedrückend. Und das ist tief enttäuschend, muss ich ehrlich sagen.

Denn es gab Zeiten, in denen unsere beiden Länder so gut und so produktiv für beide Seiten zusammengearbeitet haben. Und das war eine absolute Win-win-Situation für unser Land, auch für Deutschland und nicht zuletzt für ganz Europa. Nach der Vereinigung Deutschlands 1990, vielleicht übertreibe ich, aber ich sage, hat Deutschland wohl die meisten Vorteile von dieser Zusammenarbeit mit unserem Land bekommen.

Alle Türen waren absolut offen, nicht nur in der Wirtschaft. Man erwähnt normalerweise in erster Linie Energieträger, aber nicht nur. Auch in der Wissenschaft und im Hochschulwesen gab es, wenn ich mich nicht irre, 400 Partnerschaftsverträge zwischen Einrichtungen beider Länder.

Der Kulturaustausch war enorm reich und sehr effizient, denn unsere Kulturbeziehungen gehen in die Jahrhunderte zurück und waren immer sehr produktiv. Ich höre öfter, dass der zivilgesellschaftliche Dialog zwischen unseren beiden Ländern einmalig war.

Da war der Petersburger Dialog, der Anfang der Nulljahre von unserem Präsidenten Putin und Bundeskanzler Schröder ins Leben gerufen wurde. Der war sehr breit verzweigt, es gab mehr als zwölf Verhandlungstische. Die Leute aus den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens konnten alles besprechen, was einem einfällt. Alles Mögliche, sogar umstrittene Themen.

▶ Gestatten Sie, dass ich da mal kurz einhake. Die Bilanz kann sich sehen lassen, aber das ist lange her. Meine Frage war ja, ob Sie, wenn Sie in die Zukunft schauen, Anzeichen dafür sehen, dass sich da wieder etwas zum Besseren verändern könnte.

Sergej J. Netschajew: Natürlich – die Hoffnung stirbt zuletzt, sage ich. Weder Russland noch Deutschland verschwinden aus Europa. Einmal kommt wohl das Verständnis, dass die beiden Länder wieder zusammenarbeiten können. Vielleicht auf einer anderen Grundlage als früher, denn ein zurück zu den alten Zeiten kann es wohl schon nicht mehr geben.

Aber wir werden schauen. Wir sind bereit. Wir haben kein einziges Thema bzw. keine bilaterale Vereinbarung auf unsere Initiative auf Eis gelegt. Alle Abkommen – da sind wir dafür. Ganz zu schweigen von in der Wirtschaft, überall.

▶ Die Frage ist auch, wie es zu der Entfremdung zwischen Deutschland und Russland gekommen ist. Auf die Entwicklung in der Ukraine, den Krieg dort, kommen wir natürlich noch zu sprechen. Das war ein ganz markanter Einschnitt, auch in den deutsch-russischen Beziehungen. Aber es hatte sich auch davor schon manches verändert. Und wenn etwas nicht läuft in einer Beziehung, sind in der Regel beide Seiten schuld. Haben Sie eine Kurzanalyse, wann das losging und wer dafür die Verantwortung trägt, dass man nicht mehr miteinander zurechtkam?

Sergej J. Netschajew: Ich teile diese Meinung nicht vollständig. Ich wiederhole: Wir waren immer für gute Zusammenarbeit, für eine gutnachbarliche Partnerschaft mit Deutschland, und wir haben kein einziges Thema aus dieser Zusammenarbeit ausgeschlossen. Auch heute noch sind wir dafür, dass diese Zusammenarbeit möglich ist.

Und wenn Sie die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau vor ein paar Tagen beim Forum "Russia Calling" hören, da hat er wiederholt, dass wir wirtschaftliche Beziehungen, die heute natürlich nicht so toll sind wie früher, durchaus begrüßen. Die deutschen Unternehmen haben sich auf dem russischen Markt sehr wohlgefühlt. Noch vor ein paar Jahren gab es dort 6.300 deutsche Unternehmen. Alle waren, wie die Russen sagen, in der Schokolade.

Und plötzlich, aus politischen Gründen, gehen sie weg. Bei weitem nicht alle – 70 Prozent wollen bleiben und funktionieren. Niemand weist sie aus. Schauen Sie mal. Dasselbe betrifft die anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Wie gesagt, wir sind dafür, ganz zu schweigen von einem kulturellen Austausch.

▶ Ich würde trotzdem gerne noch einmal nachfragen. Wenn man außenpolitische Papiere liest von sogenannten Vordenkern wie Sergej Karaganov zum Beispiel, einem einflussreichen russischen Außenpolitikexperten, da fällt etwa der Begriff "konstruktive Zerstörung". Und Karaganov schreibt darüber, dass für Russland im Westen nicht mehr viel zu machen sei. Der Westen höre nicht auf Russland, man komme nicht miteinander klar, und Russland müsse sich deshalb mehr in Richtung Osten orientieren.

Das erlebt man ja jetzt auch – mit Blick auf China zum Beispiel und andere Länder. Wie ich es verstanden habe, steckt dahinter die Theorie, es sei nicht mehr die Zeit, in der sich Russland nach Westen orientieren soll. Passt das nicht dazu, dass Russland tatsächlich das Interesse am Westen verloren hat?

Sergej J. Netschajew: In der heutigen Situation gibt es eigentlich wenige Alternativen, denn die westliche Welt führt gegen uns einen, wie wir sagen, Proxy- oder Stellvertreterkrieg. Das ist wohlbekannt. Und das haben wir nicht angefangen. Wir sind überhaupt für gute Zusammenarbeit. Wir sind Europäer, und wir bleiben in Europa.

Und was Deutschland betrifft – ich komme immer wieder auf die Wirtschaftsbeziehungen – da war Deutschland der Partner Nummer eins. Mit 80 Milliarden Euro oder Dollar war das absolute Spitze, und alle waren zufrieden. Wir gehen jetzt nach Osten, weil wir dort Partner haben, weil die Menschen dort und die Länder unsere Interessen verstehen, auch unsere Sicherheitsinteressen. Und wir können dort unsere Wirtschaftsinteressen realisieren.

Und wer mit uns zusammenarbeiten will, dem sagen wir herzlich willkommen. Dabei spielt die Größe des Landes keine Rolle, es können große oder kleine Länder sein. Es geht darum, dass wir alle zusammenarbeiten. Und wer mit uns zusammenarbeiten will, dem sagen wir herzlich willkommen. Das ist für uns egal. Wir machen das auf einer gegenseitig respektvollen Grundlage zum beiderseitigen Nutzen.

Aber ich schließe nicht aus, dass die Zeit kommt und die europäischen Länder wieder Interesse bekunden, mit uns zusammenzuarbeiten. Und ich meine in erster Linie dabei auch Deutschland.

▶ Sie haben den Krieg erwähnt, den Sie einen Stellvertreterkrieg nennen. Der 24. Februar 2022, der russische Einmarsch in die Ukraine, hat zu einem wirklich radikalen Bruch in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland geführt. Aus russischer Sicht heißt es, russische Sicherheitsinteressen seien über lange Zeit von der Nato vernachlässigt worden, die Nato-Ostausdehnung sei ein wichtiges Anzeichen dafür.

Diese Kritik an der Nato, so habe ich das zumindest erfahren, teilen auch viele Menschen in Deutschland. Gleichzeitig sagen sie aber, dieser Krieg sei inakzeptabel, denn Krieg bedeute Tod und Zerstörung – schließlich auch auf russischer Seite, wo viele Soldaten und mittlerweile auch Menschen in der Region Kursk sterben. Was sagen Sie den Menschen, die so denken?

Sergej J. Netschajew: Ich sage Folgendes: Wir haben diesen Krieg nicht angefangen. Wir wollten die ganze Situation absolut friedlich lösen beziehungsweise schlichten. Nach dem Staatsstreich in der Ukraine, in Kiew im Jahre 2014, wo es zu einer Vereinbarung zwischen dem Präsidenten Janukowitsch und der Opposition kam. Da wurde alles vereinbart – vorgezogene Präsidentschaftswahlen, vorgezogene Parlamentswahlen, eine Koalitionsregierung, Regierung der Einheit oder der Eintracht, so wurde es gesagt.

Das wurde im Beisein von einigen bekannten europäischen Außenministern abgesegnet. Aber die Tinte war noch feucht, als in Kiew ein verfassungswidriger und gewaltsamer Staatsstreich begann. Und das wollten die Leute in verschiedenen Teilen der Ukraine nicht akzeptieren. Weder auf der Krim noch im Osten der Ukraine, wo hauptsächlich die russischsprachige Bevölkerung lebte. Die wollte sich damit nicht abfinden, insbesondere nicht mit den neonazistischen Parolen, denn diese Leute wie Bandera und Schuchewitsch sind für das russische Ohr und die russische Seele absolut inakzeptabel. Absolut nicht. Die sind mit dem Neonazismus verbunden.

Und deswegen haben die russischsprachigen Leute in diesen Regionen gesagt, gut, sie wollen so leben, das ist ihre Sache. Aber wir wollen mit den neonazistischen Parolen nichts zu tun haben. Niemand hat sie gefragt. Und dann ging es los mit der sogenannten Anti-Terror-Operation gegen die östlichen Regionen der Ukraine.

Wir haben diesen Krieg nicht entfesselt. Mehr noch, wir haben im Zuge der Minsker Vereinbarungen, die 2015 mit dem Präsidenten Frankreichs, mit der Frau Bundeskanzlerin und dem Präsidenten der Ukraine getroffen wurden, eine Lösung versucht. Wir haben die Minsker Vereinbarungen, einen Themenkatalog mit 13 Punkten, abgeschlossen und unterschrieben. Und die ostukrainischen Regionen haben zugesagt, im Bestand der Ukraine zu bleiben, falls diese Minsker Vereinbarungen realisiert werden.

Da geht es um ein bisschen Selbstständigkeit und weitere Dinge. Aber kein einziger Punkt aus diesem Themenkatalog wurde erfüllt. Die ukrainischen, die Leute in Kiew, haben keinen einzigen Punkt. Die wollten es auch nicht. Dann erfahren wir, dass auch unsere westlichen Partner damals nicht danach gestrebt haben, diesen Katalog zu realisieren.

Das war besonders enttäuschend. So viel zu den Minsker Vereinbarungen. Dann haben wir gesehen, wie Sie absolut richtig gesagt haben, dass die Nato immer näher an unsere Grenzen kommt. Und nicht nur die Nato, die sich selbst als Verteidigungsbündnis bezeichnet und so auch in den Massenmedien und von den Politikern genannt wird.

Das ist ein wenig umstritten, diese Formel. Es bedeutete auch, dass die militärisch-technische Infrastruktur der Nato immer näher zu uns kommt. Auch in die Ukraine.

▶ Trotzdem noch mal nachgefragt: Krieg ist nun das härteste Mittel, um Interessen durchzusetzen. Und es ist verbunden mit schlimmsten Folgen für viele Menschen. Und es bedeutete auch für Russland viele Einbußen wirtschaftlicher Art. Man sieht zwar, dass die russische Wirtschaft wächst, aber es ist auch zum Teil eine Kriegswirtschaft. Viele Kontakte zum Westen sind abgebrochen.

Sie haben vorhin geschildert, wie fruchtbar diese Zusammenarbeit einmal war. Das alles sind Konsequenzen, die Russland einplanen musste, als es die Entscheidung traf, mit militärischen Mitteln vorzugehen. Jetzt nach fast drei Jahren Krieg – war es das wert?

Sergej J. Netschajew: Sogar im Jahre 2021 haben wir noch versucht, alles friedlich beizulegen, damit wir unsere Sicherheitsinteressen wahren und gewisse Garantien bekommen. Wir stützten uns dabei auf die allgemein anerkannten Prinzipien, die auch in Europa von allen Staatschefinnen und Staatschefs unterzeichnet wurden, wonach die Sicherheit eines Landes nicht auf Kosten anderer Länder gebaut werden soll.

Die Sicherheit muss für alle gleich und ungeteilt bleiben. Das war eigentlich von allen anerkannt. Auf dieser Grundlage haben wir im Dezember 2021, also noch vor dem Beginn der Sonderoperation in der Ukraine, den Vereinigten Staaten, der Nato und der OSZE den Entwurf einer Friedensregelung vorgelegt, damit wir auf dieser Grundlage verhandeln könnten und eine friedliche, ich betone friedliche Lösung finden. Das wurde abgelehnt. Und wir haben gesehen, dass die Situation immer ernsthafter wird.

Uns hat die Geschichte sehr oft gelehrt, dass wir in einer peinlichen, defensiven Situation bei einer Aggression mit enormen Opfern rechnen müssen. Das war im 19. Jahrhundert, das war im 20. Jahrhundert, und das brachte Lehren. Aber auch dann, nach dem Anfang der Sonderoperation in der Ukraine, haben wir die friedlichen Regelungen nicht aufgegeben. Mehr noch, es gab, wie

Sie wissen bestimmt, dass es mehrere Verhandlungsrunden gab, auch unter der Schirmherrschaft bzw. mit Vermittlung etwa der türkischen Freunde. Und es gab entsprechende Verhandlungsrunden in Istanbul. Das war im Frühjahr 2022. Und dann gab es einen Entwurf eines Friedensplanes, eigentlich gemacht von der ukrainischen Seite. Und da haben wir sofort gesagt, wir sind damit einverstanden, wir können auf dieser Grundlage verhandeln.

Keine Nato, neutraler Staat, was eigentlich in der Verfassung der Ukraine verankert wurde, noch im Jahre '91. Da haben wir unsere Truppen zurückgezogen. Dann wurde diese Inszenierung in Butscha organisiert, das haben wir schon mehrmals bewiesen. Und dann kam dieser britische Politiker, der sich in die Situation einmischte und den ukrainischen Unterhändlern gesagt hat: Nein, so geht es nicht. Was sollen wir machen?

▶ Jetzt sieht es so aus, zumindest ist das mein Eindruck, dass doch diplomatische Bewegung in die Sache kommt. Der Bundeskanzler hat vor Kurzem den russischen Präsidenten angerufen. Das erste Mal nach zwei Jahren haben die wieder persönlich miteinander gesprochen. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie man einen Waffenstillstand organisieren könnte, auch erste Schritte, die danach folgen könnten. Manche gehen auch schon weiter in diesen Gedankenspielen. Wie bewerten Sie das, was da gerade passiert?

Sergej J. Netschajew: Ja eigentlich – die Suche nach einer friedlichen Lösung finde ich natürlich positiv. Den Wunsch des Bundeskanzlers, mit dem Präsidenten Putin zu sprechen, finde ich auch positiv. Eigentlich war Präsident Putin immer offen für Gespräche, per Telefon oder andere Möglichkeiten. Er hat immer gesagt, ich bin absolut offen.

Die zweite Frage ist, was für ein Friedensplan beziehungsweise welche Friedensideen produziert werden. Und da hören wir bis jetzt diese sogenannte Selenskyj-Formel, die zehn Punkte, was in Kopenhagen und auf dem Bürgenstock vor Kurzem wieder mal zur Sprache kam. Und diese Formel ist absolut inakzeptabel. Es ist ein Ultimatum, und auf dieser Grundlage werden wir nicht verhandeln.

Es gibt Initiativen von unseren chinesischen Freunden, wo ein sehr wichtiger Satz ist, nämlich: Es müssen die ursprünglichen Gründe oder Ursachen des Konflikts eliminiert werden. Das ist sehr wichtig. Es bedarf natürlich der Konkretisierung, mehr konkreter Sachen, aber das finden wir positiv. Und wir bedanken uns bei allen Ländern, da sind auch Brasilianer mit ihren Initiativen, es gibt afrikanische Kollegen, die diese Initiativen entwickeln, die dafür plädieren.

▶ Aber wenn Sie sagen, man muss über die Ursachen dieses Krieges sprechen und muss grundsätzliche Dinge vereinbaren – das erste wäre doch, die Waffen schweigen zu lassen. Und auch da gibt es konkrete Vorschläge, etwa eine entmilitarisierte Zone zu schaffen und dann mit Verhandlungen zu beginnen. Denn wenn man sagt, man muss zunächst mal alles klären und kann erst dann mit Verhandlungen anfangen, dann kann das ja noch Jahre dauern.

Auch Selenskyj gebraucht jetzt Formulierungen, die vor Kurzem nicht denkbar waren. Er sagt zum Beispiel, die Ukraine könne die von Russland besetzten oder der Russischen Föderation angeschlossenen Gebiete zeitweise nur als rechtlich gesehen ukrainisch, aber zeitweilig von Russland kontrolliert betrachten. Könnte man sich darauf einigen?

Sergej J. Netschajew: Diese Gebiete sind nicht mehr ukrainisch, sie sind auf rechtlicher Grundlage an die Russische Föderation angeschlossen und damit ist Schluss, eigentlich. Einen provisorischen Waffenstillstand möchten wir nicht, denn, wie gesagt, die Erfahrung hat uns gelehrt, wo im Zuge dieses Waffenstillstandes die ukrainische Armee wieder mit Waffen gesättigt wird, weiterhin ihre Leute mobilisiert werden, die ausländischen Hilfen wieder zurück in die Ukraine kommen, die Söldner, die massenweise dort sind, und es dann wieder zu Kampfhandlungen kommt. Nein, das wollen wir nicht.

▶ Aber das gleiche Argument könnte auch von der anderen Seite kommen, dass Russland sich konsolidiert. Die Rede ist auch davon, dass nordkoreanische Truppen in Russland zur Verfügung stehen. Also da könnten ja beide Seiten sagen, wir stoppen nicht.

Sergej J. Netschajew: Wo haben Sie gelesen, dass die nordkoreanischen Truppen wirklich eingesetzt sind in den Kampfhandlungen? Das ist alles Spekulation. Außerdem haben wir mit Nordkorea einen Vertrag über den gegenseitigen Beistand. Und dieser Vertrag sieht eine gegenseitige Hilfe vor. Eigentlich, dass die nordkoreanischen Truppen auf dem russischen Gebiet angeblich sind, das wundert mich nicht. Das kann als Teil des Vertrages betrachtet werden.

Es gibt ausländische Truppen in Europa, auch in Deutschland sind sie sehr stark vertreten, auf der Grundlage verschiedener Verträge, sei es bilateral oder von Nato-Verträgen, und niemand protestiert so stark, zum Beispiel. Aber, wie zuvor erwähnt, ein provisorischer Waffenstillstand passt uns nicht. Präsident Putin hat schon mehrmals, insbesondere sehr ausführlich am 14. Juni, ein entsprechendes Programm der Friedensregelung dargelegt.

Dann hat auch unser Außenminister gestern in einem Interview dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson wieder mal die entsprechenden Grundpfeiler dieser Friedensregelung dargelegt. In erster Linie soll keine Nato in der Nähe sein und natürlich neutraler Status, keine ausländische militärische Infrastruktur in der Ukraine und natürlich der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung, denn die russische Sprache ist verboten, die orthodoxe Kirche ist verboten, die russische Kultur ist gecancelt, wie das heute heißt.

Das ist natürlich inakzeptabel, auch vom völkerrechtlichen Standpunkt aus, der UNO-Charta, ist das inakzeptabel. Es gibt eine Liste von diesem Katalog, und auf dieser Grundlage können wir verhandeln.

▶ Also, Sie sagen, man könnte verhandeln. Alles was Sie gerade beschrieben haben, wäre dann Gegenstand von Verhandlungen. Man müsste versuchen, Kompromisse zu finden. Aber noch einmal konkret gefragt: Wäre Russland bereit, praktisch nächste Woche mit Verhandlungen zu starten? Und in welchem Rahmen könnte man sich das vorstellen? Im Rahmen der UNO, der OSZE, oder bilateral zwischen Russland und der Ukraine?

Sergej J. Netschajew: Das ist natürlich von mir aus schwierig zu sagen, ob wir nächste Woche bereit sind, zu verhandeln. Da bin ich wohl nicht die richtige Adresse. Ja, und wer dabei sein könnte, kann ich auch nicht sagen. Wichtig ist, dass die Ukraine verhandlungsfähig ist.

Und ob Präsident Selenskyj verhandlungs- und überhaupt handlungsfähig ist, das ist ein wenig zweifelhaft, denn seine Vollmachten sind ausgelaufen, wenn ich mich nicht irre, schon im Mai dieses Jahres. Zweite Bemerkung. Selenskyj hat mit seinem Erlass, ich kann jetzt nicht den genauen Tag nennen, aber er hat verboten, Verhandlungen mit Russland zu führen.

Und in erster Linie muss er dann diesen Erlass, oder Verordnung, oder wie das alles heißt, irgendwie ausräumen, damit eigentlich der Weg für diese Verhandlungen frei ist. Alles andere, da sind entsprechende Leute dafür zuständig, die definieren können, wann, auf welcher Grundlage, wo und, und, und …

▶ Seit ein paar Tagen wird in Deutschland darüber diskutiert, und zwar auf hoher politischer Ebene, ob im Fall eines Waffenstillstands und damit verbundener Sicherheitsgarantien in der Ukraine vielleicht Soldaten zum Einsatz kommen könnten, um die Dinge neutral zu sichern, und ob dabei auch Deutschland eine Rolle spielen könnte.

Die Bundesaußenministerin hat gesagt, das könnte man sich vorstellen, dann hat der Bundeskanzler gesagt, darüber müsse man im Moment überhaupt nicht reden. Und vom Bundesverteidigungsminister hieß es dann wiederum, das sei überlegenswert. Ist es aus Ihrer Sicht denkbar?

Sergej J. Netschajew: Ich möchte lieber nicht die Fantasien kommentieren, denn das sind Ideen, die in die Öffentlichkeit gebracht werden. Das kann die Situation nur verkomplizieren. Außerdem gibt es so viele Gerüchte, Umschweife, und das ist nicht förderlich, jetzt ernsthaft zu kommentieren.

▶ Wir haben jetzt über die Möglichkeiten gesprochen, diesen Krieg zu beenden, den Konflikt friedlich beizulegen. Es gibt aber auch noch das Moment der gegenseitigen Eskalation. Die Amerikaner haben vor Kurzem den Ukrainern erlaubt, weiterreichende Raketen einzusetzen, die auch Ziele tief im russischen Hinterland treffen können. Die Briten tun das auch. Deutschland ist zurückhaltend. Der Bundeskanzler bleibt dabei, dass deutsche Taurus-Marschflugkörper nicht zum Einsatz kommen sollen.

Aber die amerikanischen Raketen sind schon geflogen, und Russland hat mit einer Rakete geantwortet, die ganz massiven Schaden für den Gegner anrichten kann. Also das eine ist, es gibt jetzt mehr und mehr Gedankenspiele, wie man zum Frieden kommen könnte. Und gleichzeitig gibt es diese Eskalation. Was wird sich aus Ihrer Sicht durchsetzen?

Sergej J. Netschajew: Wir bedauern aufrichtig, dass die amerikanischen Raketen jetzt insbesondere tief in das russische Gebiet schießen, und das betrachten wir ganz konkret und absolut klar als eine Eskalation. Dass auch die britischen oder die französischen Raketen dazu gehören, das ist auch bedauerlich.

Deswegen müssen die heißen Köpfe im Westen verstehen, dass wir eine Antwort haben, und das muss man auch als eine Warnung verstehen. Nur als eine Warnung. Wir wollen keinen – um Gottes Willen – um einen nuklearen Krieg geht es überhaupt nicht. Aber einige heiße Köpfe im Westen sprechen über einen möglicherweise begrenzten nuklearen Schlagabtausch.

Das ist aus unserer Sicht eine katastrophale Einladung zu einem dritten Weltkrieg, einem nuklearen Weltkrieg. Oder wie sollen wir das verstehen? Eigentlich die westlichen Waffen, die immer noch an die Ukraine geliefert werden, das ist an und für sich eine traurige, tragische Geschichte.

Und wenn wir über Deutschland sprechen, dann muss ich Ihnen ganz offen sagen, die letalen Waffenlieferungen aus Deutschland, das ist eine sehr bedauerliche Situation. Sie erweckt, muss ich ehrlich sagen, gewisse historische Reminiszenzen, die unsere Bevölkerung und unser Volk auch genetisch nicht akzeptieren kann.

Aus bestimmten Gründen, die Ihnen ganz bestimmt bekannt sind. Das ist sehr bedauerlich, insbesondere wenn die Leopardpanzer im Gebiet Kursk rollen und auf die russische zivile Bevölkerung schießen. Das ist tragisch, und das zerstört Vertrauen enorm.

▶ Sie haben Atomwaffen erwähnt, und Sie haben gesagt, im Westen gebe es Gedankenspiele, dass man das durchaus in Betracht ziehen könnte, dass auch Atomwaffen zum Einsatz kommen. Aber das wird auch auf russischer Seite durchgespielt.

Ich habe verschiedene Aufsätze von russischen außenpolitischen Experten gelesen, die darüber spekulieren, man könnte ja vielleicht so einen Warnschuss abgeben, dann wäre die andere Seite schockiert und alle wären ruhig. Es gibt aber auch das für mich einleuchtendere Modell, dass es dann überhaupt nicht mehr begrenzbar wird, dass dann wirklich die nukleare Katastrophe über uns kommt.

Und nun hat ja auch die russische Seite ihre Nukleardoktrin verändert oder angepasst, wie es heißt. Unter anderem steht da drin, dass Nuklearwaffen auch gegen nicht-nukleare Staaten eingesetzt werden können, wenn sie bei ihren Handlungen gegen Russland von Nuklearmächten unterstützt werden. Den konkreten Fall haben wir ja.

Die Ukraine wird unterstützt von den USA, Frankreich, Großbritannien. Ist aus dieser neuen Nukleardoktrin herauszulesen, dass Russland mit dem Gedanken spielt, vielleicht eine Atomrakete auf die Ukraine abzuschießen?

Sergej J. Netschajew: Da gibt es natürlich entsprechende Junktims, wie es zu einer solchen Situation kommen könnte. Und zwar nur als eine Antwort auf die Aggression gegen uns, wo wir unser Land – und in der neuen Doktrin geht es auch um Belarus, also Weißrussland, wo wir unseren nächsten Verbündeten schützen müssen.

Nur als eine Antwort auf die existenziellen Drohungen, wo unsere Existenz auf dem Spiel steht. Sonst haben wir immer gesagt, wir sind gegen einen nuklearen Krieg. Wir haben, wenn ich mich nicht irre war das im Januar 2022, da haben wir im Sicherheitsrat eine entsprechende Erklärung der Nuklearmächte initiiert, wo wir einen nuklearen Krieg für ausgeschlossen halten. Und wir sagen, wir haben Atomwaffen, wir können diese Atomwaffen gebrauchen, aber nur wenn es um unsere Existenz geht.

Wir haben andere Waffen genug, um für unsere Sicherheitsinteressen zu stehen. Wir sind bereit, diese zu nutzen. Aber das, wie gesagt, nur als eine Antwort.

▶ Herr Botschafter, wir haben uns jetzt ausgetauscht über Fragen, wie das Ganze möglicherweise weiterlaufen könnte. Und gleichzeitig steht in den USA eine große politische Veränderung bevor. Der neue Präsident wird im Januar in sein Amt eingeführt. Und die russische Position war ja bisher, im Grunde werde auf Seiten der Ukraine nichts ohne Washington entschieden. Heißt das, man sollte jetzt erst mal abwarten was im Januar in Washington passiert, weil der Ball dort liegt?

Sergej J. Netschajew: Natürlich ist der neu gewählte Präsident der Vereinigten Staaten, Herr Trump, eine starke Figur, eine starke Persönlichkeit. Ja, er hat einen sehr schwierigen Nachlass bekommen, einschließlich dieser ATACMS-Raketen. Er ist nicht pro-russisch, auf keinen Fall. Diese Gerüchte, das ist reine Spekulation, er ist pro-amerikanisch. Und wir erinnern uns daran, dass er in seiner ersten Amtszeit eine riesige Anzahl von Sanktionen gegen uns eingeführt hat.

Aber wir verschließen uns nicht vor einem Dialog, also mal schauen, wie es weitergeht. Wir sind bereit, eigentlich mit allen zu sprechen, auch mit der neuen US-Administration, die das amerikanische Volk gewählt hat. Wir werden mal schauen, wir müssen sie nicht an den Versprechen vor der Wahl messen, sondern an den realen Taten in der realen Politik.

▶ Wir haben unser Gespräch begonnen mit dem Rückblick auf die einstmals sehr guten, sehr intensiven deutsch-russischen Beziehungen. Wenn wir jetzt auf eine mögliche Friedenssituation schauen, auf Verhandlungen, auf das, was danach kommt, vielleicht ein neues europäisches Sicherheitssystem.

Welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen? Ist aus Ihrer Sicht noch ein Rest von Vertrauen da? Gibt es noch Kontakte, die man wiederbeleben könnte, dass man davon zehrt, was man mal aufgebaut hat?

Sergej J. Netschajew: Ich muss offen sagen, ich bin natürlich sehr traurig, und wir sind sehr enttäuscht. Denn die Rolle Deutschlands in unserer Politik in den letzten Jahrzehnten war sehr groß. Nicht zuletzt die engen Kontakten mit der Sowjetunion und mit Russland waren ein Unterpfand aus meiner Sicht für die politische Größe Deutschlands in Europa.

Politisch, weil auf der Grundlage der historischen Aussöhnung der Weg für die gegenseitige Verständigung geebnet wurde. Wir haben einander die Hände über den Gräbern, den Kriegsgräbern gedrückt. Und die Rolle eines ehrlichen Maklers oder Vermittlers zwischen Ost und West brachte auch Deutschland große Präferenzen, große Vorteile. Sogar die führende Rolle in der Europäischen Union.

Auf der anderen Seite war Deutschland sehr wichtig für uns als wirtschaftlicher Partner, aber auch für die beiden Seiten war das absolut toll. Absolute Win-Win-Situation. Und beides ist leider zerstört. Und ich weiß nicht, wie gesagt, ich hoffe, dass die Zeit kommt. Wir verschwinden nicht aus Europa, weder Russland noch Deutschland. Und das pragmatische Denken wird ganz bestimmt neue Varianten unseres Zusammenlebens schaffen.

Was die Wirtschaft betrifft, hat schon Präsident Putin vor kurzem gesagt, wir haben nichts dagegen, wenn die ausländischen, auch die deutschen Unternehmen wieder nach Russland kommen, wir haben damit keine Probleme. Was wirtschaftliche Sanktionen anbetrifft, wissen Sie, wir schaffen das, wir kommen durch. Wir haben gelernt, aus den schwierigen Situationen einen Ausweg zu finden, das mobilisiert uns. Das mobilisiert unsere Wirtschaft, das mobilisiert und konsolidiert unsere Gesellschaft. Und das ist wohl sehr wichtig.

Aber wie gesagt, was die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen betrifft – die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich bin doch optimistisch.

▶ Herr Botschafter, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Sergej J. Netschajew: Ich danke Ihnen. Viele liebe Grüße an Ihre Zuschauerinnen und Zuschauer.