"Deutsche Abhängigkeit von den USA hat sich offenbar vergrößert"
Ulrike Guérot. Bild: World Economic Forum, CC BY-NC-SA 2.0
Ulrike Guérot über eine Europäische Republik als erster Schritt zur Weltgemeinschaft, falsche Tweets am späten Abend und die fehlende Unabhängigkeit Europas.
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, geboren 1964 als Ulrike Hammelstein, hat einen dramatischen Wandel vom Presse-Liebling zur Persona non grata vollzogen.
Das ehemalige CDU- und spätere Grünen-Mitglied tritt seit den Neunzigerjahren für einen post-nationalen, föderalen europäischen Bundesstaat ein, der sich im Wesentlichen mit den Forderungen des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors deckt, für den sie von 1996 bis 1998 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war.
Als Verfechterin jener "europäischen Idee" und "radikale" politische Kommentatorin war die 58-Jährige ein Liebling der sogenannten Leitmedien. In der Coronakrise geriet Guérot durch ihre Maßnahmen-kritischen Äußerungen im Mainstream allerdings zunehmend in Misskredit.
Lesen Sie hier Teil 1 des Interviews mit Ulrike Guérot: "Der Versuch, Unrecht aufzudecken, wird vereitelt".
Im ersten Teil dieses Telepolis-Interviews ging es um die europäische Idee und das jüngste Buch "Das Phänomen Guérot – Demokratie im Treibsand", die Abschrift eines Gesprächs, das Guérot am 20. Juni 2022 mit dem Bildungsphilosophen Matthias Burchardt in Kiel geführt hat.
Frau Guérot, im Jahr 2016 haben Sie dafür geworben, dass Flüchtlinge in Europa ihre eigenen Städte aufbauen sollen ("Neu-Aleppo", "Neu-Kundus"). 2019 haben Sie den Brexit indirekt mit der Machtergreifung von 1933 verglichen.
Ulrike Guérot: Ja, der Vorschlag "Städte für Flüchtlinge" hat 2016 Aufsehen erregt und eine veritable Debatte ausgelöst, die in Le Monde Diplomatique begann und im ZDF endete. Das ist doch eigentlich gut? Bei mir haben sich damals viele Architekten gemeldet, die das gar nicht lächerlich fanden.
In der Geschichte fand Migration übrigens oft durch eigene Städte für Neuankömmlinge statt, ich wollte das einfach mal thematisieren und den Debattenraum mit einer kreativen Idee öffnen. Und diese Idee habe ich mit allen diskutiert, die wollten, auch mit denen, die widersprochen haben.
Und der Brexit-Tweet?
Ulrike Guérot: Den habe ich spätabends an einem Freitag nach einem Abendessen in Wien abgesetzt und damit auf die temporäre Suspendierung der Parlamentssitzungen durch Boris Johnson reagiert. Der Tweet war in dieser Form sicherlich ein Fehler. Es zeigt aber fast exemplarisch, wie sehr man sich heute an einem einzigen Tweet von vor sieben Jahren festkrampft, um jemanden zu denunzieren.
Früher konnte man sagen "Du weißt doch, dass ich das nicht so gemeint habe". Das geht in Zeiten der mutwilligen Hetze nicht mehr. Leider kennt das Internet kein Vergessen. Die Frage ist jetzt: wollen wir in einer makellosen und tadellosen Gesellschaft leben, in der niemand mehr einen Fehler macht?
Wohin würde das führen? Ich muss immer noch mit dem Kopf schütteln, wenn ich auf meinem Wikipedia-Eintrag lange Sätze über diesen einen Tweet lesen muss, in denen aufwendig versucht wird zu interpretieren, was ich damit gemeint haben könnte. Da wird jeder Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Kontextualisierung verletzt.
Dann wünsche ich mir, die gleichen Leute, die sich an diesem Tweet fast aufgeilen, würden ebenso aufwendig meine Bücher kommentieren. Ich bin übrigens der Überzeugung, dass es bald eine Gegenbewegung zu diesem akribischen Internet-Denunziantentum geben wird.
So?
Ulrike Guérot: Man kann das doch einfach nicht mehr ernst nehmen. Es wird sich hoffentlich bald herumsprechen, dass diejenigen, die da auf einmal in Selbstermächtigung ausschwärmen, um bei anderen genau dann Fehler zu suchen, wenn diese Personen in Ungnade fallen, meist keine hehren Motive haben, sondern die modernen Biedermeier und Brandstifter der Gesellschaft sind.
Wie hieß es noch bei Hoffmann von Fallersleben? Der größte Lump im Land ist und bleibt der Denunziant. Das gilt heute für Fakten-Checker ebenso wie für Plagiatsjäger, während für wirkliche Affären, wie etwa der jüngsten Graichen-Affäre im Wirtschaftsministerium, für eine "Fehlerkultur" plädiert wird.
Die Frage scheint eher zu sein, vor wessen Fehlern eine Gesellschaft die Augen verschließen will und wo nicht. Ich meine zum Beispiel Baerbocks Lebenslauf, Scholz’ Cum-Ex-Deals oder Scheuers Maut: Mit Fehlern an sich hat es ja anscheinend nichts zu tun.
Der Mitautor Ihres Europa-Manifests, Robert Menasse, hat dem ersten EU-Kommissionspräsidenten Walter Hallstein falsche Zitate in den Mund gelegt, wonach die Abschaffung des Nationalstaats die eigentliche europäische Idee ist.
Ulrike Guérot: Die wiederum waren für mich auch schlimm, das war ja auch mir gegenüber ein Vertrauensbruch. Auf der anderen Seite: Überprüfen Sie Dinge, in diesem Fall Texte, die Freunde Ihnen geben? Würde man das tun, gäbe es kein Vertrauensverhältnis mehr, sondern nur noch eine Gesellschaft des Misstrauens.
Aber nur in totalitären Systemen muss man eigentlich in allen Beziehungen misstrauisch sein und Verrat fürchten. Im Vergleich zu mir wurde Robert Menasse damals aber fast schon verschont. Der Buchpreis wurde ihm zum Beispiel nicht entzogen, während mir gekündigt wurde. Ich habe an einigen Stellen in Eile schlampig zitiert, okay.
Aber ich habe nicht vorsätzlich seitenlang plagiiert oder Zitate erfunden. Die Frage ist also die der Vergleichbarkeit, ein rechtsstaatliches Prinzip im Übrigen, also was wo wie geahndet wird und was nicht.
"Denke, dass das alte Links-Rechts-Schema durchbrochen ist"
Während der Corona-Krise haben sie 2020 das "Manifest der offenen Gesellschaft" in Welt und Freitag unterzeichnet, im Juni 2021 haben Sie sich um eine "Corona-Aussöhnung" bemüht – und wurden dafür beargwöhnt.
Wo sich die Spaltung doch zunehmend entlang der politischen Pole vollzieht – wie ist es denn um die Versöhnung des sozialistischen und konservativen Lagers bestellt?
Ulrike Guérot: Ich denke, dass das alte Links-Rechts-Schema durchbrochen ist – und das zu sagen, ist wahrlich nicht originell. Die Lagerbildung, die Sie beobachten, findet derzeit ganz woanders statt. Insofern wäre die Frage, was oder wer sich hier mit wem versöhnen muss: eine veröffentlichte Meinung mit einer Mehrheitsmeinung? Die "Straße" oder "das Volk" mit zunehmend meritokratischen Eliten? Vernunftbegabte Bürger mit unvernünftigen Politikern?
Pseudo-oppositionelle Klimakleber mit sozial Vernachlässigten? Leitmedien mit alternativen Medien? Hysterische Vertreter von NGOs mit Durchschnittsbürgern? Politik-Ideologen mit Absolutheitsanspruch, mit der bürgerlichen Mitte?
"Coronisten" mit Maßnahmen-Gegnern? Waffenlieferer mit "Lumpenpazifisten"? Was soll an den wahrnehmbaren Brüchen der heutigen Gesellschaft und Diskurslandschaft noch links, sozialistisch oder konservativ sein? Es ist zum Beispiel weder links noch rechts, für Frieden oder Freiheit zu sein…
War Ihnen nicht bewusst, dass Sie möglicherweise an einer Agenda mitarbeiten oder haben Sie innerhalb dessen Gutes tun wollen – und ist nicht beides naiv?
Ulrike Guérot: Ich bin als junge Frau nach dem Studium und zu Beginn meiner Berufstätigkeit in den 1990er Jahren in eine europäische Erzählung hinein sozialisiert worden, die damals absolut mehrheitsfähig und parteiübergreifend war und die lautete: Ein geeintes Europa ist wichtig und richtig.
Dazu kamen noch viele persönliche Erfahrungen, nicht zuletzt die Liebe, die mich nach Frankreich führte. Ich hätte damals nicht gedacht, dass die politische Entwicklung der EU, aber auch das soziale Europa in diesem Ausmaß scheitern und die technokratischen Strukturen der EU dreißig Jahre später zu einer politischen Krake werden, in der die Bürgerbeteiligung so unter die Räder kommt und sich die populistischen Strömungen in ganz Europa als Reaktion gegen diese europäische Technostruktur aufbauen.
Wer hätte das 1992 absehen können? Die Intention stimmte jedenfalls bei den Akteuren, für die ich gearbeitet hatte, zum Beispiel bei Jacques Delors, der definitiv kein "globalistischer Agent" war, sondern der wirklich ein politisch geeintes, demokratisches, soziales Europa wollte, und zwar ein Europa, das im Gegenteil die europäischen Bürger vor der Globalisierung schützt.
Une Europe, qui protège, hat er immer gesagt, ein Europa, das schützt. Die meisten, die diese Entwicklung von heute aus beurteilen, übersehen das, weil sie die heutige EU vor Augen haben und zu Recht enttäuscht sind.
Sie haben also nichts zu bereuen.
Ulrike Guérot: Vielleicht würde ich rückblickend sagen, dass ich in einigen Aspekten mit Blick auf die europäischen Entwicklungen damals zu gutgläubig war und bestimmte Risiken oder den Missbrauch politischer Prozesse nicht gesehen habe, zum Beispiel, was die Debatte über die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei anbelangt, um nur ein Beispiel zu nennen.
Aber ich war jung. Und wer will nicht an eine gute Entwicklung glauben? Immerhin war 2003 eine europäische Verfassung geplant, die die EU demokratisieren sollte. In den Thinktanks, in denen ich gearbeitet habe, ging es genau darum, nämlich die Demokratisierung und Emanzipation Europas zu begleiten und zu kommentieren, vor allem beim ECFR.
Diese Vorstellungen von "politischen Agenden" oder auch der Einfluss dieser Thinktanks wird allgemein überbewertet, würde ich sagen, vor allem von heute aus gesehen.
Es muss aber wohl einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem Sie misstrauisch wurden.
Ulrike Guérot: Gekippt ist die Stimmung ca. 2005, als die europäische Verfassung scheiterte und die EU-Osterweiterung zugleich die Spannungen innerhalb der EU erhöhte. Gleichzeitig wird der Euro eingeführt und neoliberalisiert die EU, ohne dass ein soziales Europa verwirklicht wurde.
Das war alles anders geplant, als es gekommen ist. Während der Bankenkrise um 2010 hat die EU für diese Fehlkonstruktion auch einen hohen politischen Preis bezahlt: Der Zuspruch zur EU ist in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts fast konstant gesunken, der Populismus hat indes zugenommen.
Genau das beschreibe ich in meinem Buch "Endspiel Europa". Nach der Bankenkrise wurde mir 2013 beim European Council on Foreign Relations, dessen Berliner Büro ich 2007 bis 2013 geleitet hatte, gekündigt.
Warum?
Ulrike Guérot: De facto damals schon, weil ich sehr kritisch war und in mehreren Publikationen vor allem die deutsche Dominanz in der Euro-Governance kritisiert hatte. Dass ich danach noch für ein Jahr mit den Open Society Foundations assoziiert war, war eher ein Zugeständnis, damit ich nicht von heute auf morgen arbeitslos bin.
Die Realität ist meist nüchterner oder profaner als die Legende, die erzählt wird. Auch ich habe einfach ein Leben, mit allen ups and downs, und nicht immer nur "Absichten", das gilt für meine beruflichen Stationen ebenso wie für die Plagiatsaffäre.
George Soros wiederum ist eine schillernde Persönlichkeit mit vielen Positionen zu den unterschiedlichsten politischen Themen, und ihm in seinen Positionen bezüglich der Eurokrise zuzustimmen, heißt nicht, andere Positionen – zum Beispiel zur Ukraine – zu teilen. Auch hier fehlt die Differenzierung. Der eindimensionale Zugang auf einen Sachverhalt regiert heute die Öffentlichkeit. Alles ist immer "wenn, dann …" Aber nichts ist monokausal.
"Soros wollte, dass sich Europa emanzipiert"
Nun waren Sie beide aber wohl doch auf einer Wellenlänge, oder nicht?
Ulrike Guérot: Ja, unsere Interessen waren teilweise kongruent. Soros wollte Europa als einflussreichen, globalen außenpolitischen Akteur ganz im Sinne von "Rule of Law" und "Softpower" befördern, daran ist nichts auszusetzen. In diese Zeit fiel die Schaffung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes.
Er wollte auch, dass sich Europa emanzipiert gegenüber Amerika, zumal er den amerikanischen Einmarsch im Irak und die amerikanische Politik des Democracy-Promoting nicht gut gefunden hat. Auch dagegen ist nichts zu sagen.
Und er wollte als Ungar Mittel- und Osteuropa nach dem Fall der Mauer aufbauen helfen, er hat dort viele Universitäten gefördert und auch das ist prinzipiell gut und ohne Agenda. Und er war damit ja nicht allein.
Inwiefern?
Ulrike Guérot: Es war die Zeit von Mark Lennards Buch "Why Europe will Run the 21st Century?". Viele haben um die Jahrtausendwende an Europa geglaubt und Hoffnungen in Europa als Element einer besseren Weltordnung gesetzt. Und zum German Marshall Fund ist zu sagen: Auch er hat sich verändert. Heute ist nicht damals.
Ich konnte damals in der Organisation eine engagierte Debatte über das Euro-Atlantische Verhältnis animieren und die eigenen Interessen Europas in vielen Konferenzen und Publikationen vertreten.
Vielleicht habe ich übersehen, dass ich als nützliches europäisches Feigenblatt instrumentalisiert wurde, aber wer betrachtet sich eigentlich die ganze Zeit selbst auf einer Metaebene oder aus der Vogelperspektive?
Dass man Sie gewissermaßen so hofierte, hat Sie nicht nachdenklich gestimmt?
Ulrike Guérot: Dann müsste sich jeder Arbeitnehmer täglich fragen, welchen Interessen er dient ... Was bei dieser Sicht der Dinge auch nicht berücksichtigt wird, sind die internen Diskussionen innerhalb der Institution.
Egal, ob EU-Osterweiterung oder Orange Revolution oder NATO vs. Europäische Verteidigung: Ich persönlich habe immer die europäischen Standpunkte verteidigt und mich hier sicher nicht für irgendeine Agenda instrumentalisieren lassen.
Und ich hatte immer Spielräume und sogar finanzielle Mittel, das zu tun, was ich wollte. Auch hier sind die Dinge nicht so eindimensional, wie es von außen aussieht. Niemand bekommt in einem Thinktank konkrete Denk- oder Handlungsanweisungen. In einem Video mit Ulrike Stockmann äußere ich mich dazu ausführlich, vielleicht kann man das einfach hier verlinken, damit nicht immer weiter die gleichen Dinge kolportiert werden.
Herr Soros ist ja sehr weltgewandt. Schon sein Vater war Esperanto-Schriftsteller, liest man auf Wikipedia. Im "Zauberberg" beschreibt Thomas Mann das "Kunstidiom" als eine von ungarischen Freimaurern erdachte Strategie zur Erreichung eines "Weltenbundes". Einmal ganz plump gefragt: Was spricht eigentlich aus Ihrer Sicht gegen eine Weltregierung – ganz nach dem Motto: "Es gibt mehr, was uns verbindet, als uns trennt"?
Ulrike Guérot: Nun, schon Immanuel Kant spricht im Ewigen Frieden 1792 von einer notwendigen Weltregierung. Die Menschheitsfamilie wird sich den Planeten Erde schon irgendwie teilen und ihr Zusammenleben möglichst demokratisch verhandeln müssen. Hannah Arendt nannte es die Suche nach einem globalen Zustand, in dem "alle ohne Not und alle ohne Herrschaft "sind. Wie der aussehen soll und vor allem geschaffen werden soll, darüber müssen wir im 21. Jahrhundert weiter nachdenken.
Aber wie stehen Sie persönlich denn dazu?
Ulrike Guérot: Meine Utopie einer Europäischen Republik wäre nur der intelligente Zwischenschritt für eine Weltrepublik. Witzigerweise sprechen ja auch Luke Skywalker und R2D2 in Star Wars schon von der "Global Republic".
Republik meint dabei einen Zustand, in dem alle Menschen frei sind und gleich an Würde und Rechten. Das ist der universelle Auftrag, wie er sich unter anderem aus der Französischen Revolution ergibt. Das ist das politische Ziel der Menschheit, das wir weiterhin sukzessive verwirklichen sollten.
Insofern gilt es tatsächlich darüber nachzudenken, wie eine künftige Weltregierung, die sich nicht mehr auf Nationalstaaten als Repräsentationseinheit stützt, sondern die alle Erdenbürger gleichermaßen angemessen und demokratisch vertritt, aussehen könnte.
Das ist eine ganz andere Debatte als diejenige, die etwa die EU – teilweise zurecht – nur als Steigbügel für eine "globalistische Agenda" versteht.
"Trend geht zu Städten als eigenständige politissch Einheiten"
Und für Ihre Utopie müssen die Nationalstaaten abgeschafft werden?
Ulrike Guérot: Perspektivisch ja, zumal ohnehin niemand mehr wirklich weiß, was heute eigentlich der Nationalstaat ist und welche Macht er noch hat, während Güter, Geld, Pipelines, Handys oder Bitcoins kaum noch nationale Grenzen kennen.
Der politische Meta-Trend geht einerseits in die Richtung von Städten, die immer mehr als eigenständige politische Einheiten und auch als Identitätsstifter funktionieren – Paris, Kairo oder Tokio – oder eben in Richtung Regionen: Katalonien, Schottland oder auch der Donbass.
Wir beobachten einen großen Drive in Richtung Dezentralisierung. Niemand kann garantieren, dass die USA, Kanada oder auch das China von heute in 50 Jahren noch die "Nationalstaaten" sind, wie wir sie heute kennen.
Sondern?
Ulrike Guérot: Vielleicht wird man die Erde einfach freigeben und alle Grenzen öffnen und jeder Erdenbürger kann dorthin gehen, wohin er will? In der Politikwissenschaft diskutiert man jetzt schon die Entterritorialisierung von Politik und Staatlichkeit, die natürlich viele Probleme aufwirft, zum Beispiel wer dann wo Bürger ist und welche Steuern zahlt oder wie ein "Weltbürgerstatus" aussehen könnte?
Vielleicht wird ja auch der nächste Staat von Elon Musk auf dem Mars gegründet? Ich sage ja nicht, dass diese Entwicklungen ein Pony-Ritt sein werden; nur, dass sie stattfinden und wir nicht rückwärtsgewandt über die politischen Prozesse nachdenken sollte, die sie implizieren.
Wenn man das akzeptiert, das die Zukunft wahrscheinlich anders ist als die Realität von heute, dann gibt es sehr viele Fragen, die global geklärt werden müssen. Vor allem, wem die globale Allmende, die Güter der Erde gehören, zum Beispiel der brasilianische Regenwald, auch Lunge der Erde genannt. Gehört er nur den Brasilianern? Oder der Menschheitsfamilie? Das sind natürlich andere Fragen, als die, wie sie heute in jenen kritischen Gruppen diskutiert werden, die sich – berechtigterweise – über ein parlamentarisch nicht legitimiertes, "globales Durchregieren" der WHO Sorgen machen. Aber dass die Erde und ihre Güter demokratisch jenseits von nationalen Grenzen geteilt werden müssen, und alle Erdenbürger prinzipiell den gleichen Anspruch auf die Güter der Erde haben, kann man kaum bestreiten. Globalistische Governance und demokratische Weltregierung sind nicht dasselbe.
Wenn Sie an den "Treibsand" im Untertitel Ihres neuen Buches denken: Wie beurteilen Sie die Rolle Frankreichs und der deutsch-französischen Allianz vor diesem Hintergrund? Wo steht Europa auf der Weltbühne – und wo soll es Ihrer Meinung nach hin?
Ulrike Guérot: Also erst einmal zu Macron: Natürlich entstammt "Roi Emmanuel", wie man ihn mit Spitznamen nennt, elitären Kreisen. Gleichzeitig hat er aber etwa die École Nationale d’Administration (ENA), die berühmte Elite-Schule, abgeschafft, um zu zeigen: Wir wollen keine Eliteschulen mehr.
Er ist eben, wie andere auch – oben ging es schon einmal um George Soros – eine vielschichtige Person mit sehr vielen Facetten in seiner politischen Ausrichtung, von denen man einige mögen kann und andere nicht. Man kann den Macron mögen, der die Emanzipation Europas vorantreiben möchte und gleichzeitig den Macron nicht mögen, der derzeit eine recht radikale Rentenreform macht. Oder auch umgekehrt.
Viele waren damals froh, dass Macron Frankreich buchstäblich vor Le Pen gerettet hat, denn die Sorge, dass sie Präsidentin wird, war 2017 groß. Aber das Versprechen, das er 2017 mit La République en Marche [LREM] abgegeben hat, nämlich Frankreich zu parlamentarisieren und zu demokratisieren, hat er nicht wirklich halten können.
Er hat sich zwar um Bürgerbeteiligung bemüht, und die Bürgerbefragungen, die im Anschluss an die Gelbwestenproteste in ganz Frankreich organisiert wurden, sind auch ziemlich gut gelaufen. Am Ende aber hat eine sehr neoliberale Agenda überwogen.
Wie sah die Ihrer Meinung nach aus?
Ulrike Guérot: Es wäre zu lang, das hier auszuführen – ich darf vielleicht auf verschiedene Publikationen zu den deutsch-französischen Beziehungen von mir verweisen – aber Macron hat leider von Deutschland in europäischen Fragen auch keine oder nur sehr wenig Unterstützung erfahren, nach seinen sechs berühmten Reden zu Europa seit 2017 – mit teilweise guten und energischen Vorschlägen für ein politisches Europa. Auch nicht, als Macron 2018 den Karlspreis bekommen hat. Man hat in Deutschland nur getuschelt, er wolle das deutsche Geld.
Vielleicht ändert sich das gerade ganz aktuell, wenn man sich die jüngsten Europa-Reden von Olaf Scholz ansieht?
Wieso?
Ulrike Guérot: Immerhin haben Olaf Scholz und Emmanuel Macron an dem europäischen Rettungspaket "Next Generation Europe" vom Juli 2020 in Höhe von 750 Milliarden, um die Folgen der Pandemie in Europa abzufedern, recht gut zusammengearbeitet. Was den Einstieg in eine europäische Finanzverfassung angeht: Das finde ich absolut richtig. Aber das deutsch-französische Tandem hat seinen Elan verloren, trotz der Feiern des 60. Jahrestags des Elysée-Vertrags im Januar 2023. Die Gründe dafür habe ich unter anderem schon 2022 in Heidelberg in einer Rede für das Le Cercle Franco-allemand benannt.
Warum hat das Tandem seinen Elan verloren, wie Sie sagen?
Ulrike Guérot: Deutschland haben den französischen Diskurs um Demokratisierung, Emanzipation und Souveränität Europas nicht mitgemacht. Wir haben Macron sozusagen am langen Arm verhungern lassen. Haben ihn einen "teuren Freund" genannt. Und jetzt, bedingt durch den Ukraine-Krieg, gibt es in Europa statt des deutsch-französischen Tandems die Achse Washington-London-Warschau-Kiew-Riga. Auch das alte Weimarer Dreieck mit Polen funktioniert nicht mehr. Die Einigkeit Europas mit Blick auf den Krieg in der Ukraine ist ein Mythos.
Wo sehen Sie denn Uneinigkeit?
Ulrike Guérot: Die Spanier und Griechen wollen ebenso wenig Waffenlieferungen, wie die Italiener, die Bulgaren, die Slowenen oder die Ungarn. Es gibt jetzt eine Art nordeuropäische Achse, zu der nach den forcierten Nato-Beitritten jetzt auch Finnland und Schweden zählen – ansonsten gibt es eine strukturell gespaltene EU. Macron wird für seine Annäherung an China beziehungsweise seinen Wunsch nach einem emanzipierten Europa vorgeworfen, die EU zu spalten.
Das ist Unsinn. Im Gegenteil hat sich die deutsche Abhängigkeit von den USA offenbar vergrößert, zumal Deutschland strategisch und militärisch gleichsam ein US-Drehkreuz im Ukraine-Krieg ist. Es wird leider kaum diskutiert, ob europäische und amerikanische Interessen in diesem Krieg kongruent sind, und das sind sie natürlich nicht. Die Definition europäischer Interessen wäre eine wichtige Aufgabe für das deutsch-französische Tandem. Im Moment wedelt in Europa der Schwanz mit dem Hund.