Deutsche Klimapolitik 2023: Als ob die AfD Recht hätte

Symbolbild: © Superbass / CC-BY-SA-4.0

Wer sich in der Theorie von Leugnern der Klimakatastrophe distanziert, sollte ihnen in der Praxis nicht entgegenkommen. Genau das tun politisch Verantwortliche in Lützerath – handeln, als gäbe es das Problem nicht.

Die "schwarz-grüne" Landesregierung in Nordrhein-Westfalen scheint fest entschlossen, es durchzuziehen: Ab Mittwoch könnte die polizeiliche Räumung des von Umwelt- und Klimagruppen besetzten Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier beginnen, damit der Energiekonzern RWE seinen Tagebau erweitern und weitere 280 Millionen Tonnen Kohle verfeuern kann.

Wohlgemerkt mit dem Segen der grünen Landesministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz, Mona Neubaur sowie deren Parteifreund und Amtskollegen auf Bundesebene, Robert Habeck. Durchgesetzt wird diese Agenda möglicherweise mit grober Polizeigewalt. Einsatzkräfte aus bis zu 15 Bundesländern werden geschickt, nur Hessen soll noch nicht zugesagt haben. Wasserwerfer, Pferde und Hunde stehen bereit.

Größer könnte die Entfremdung zwischen den Grünen und der Umweltbewegung, die sie im Wahlkampf stets zu vereinnahmen versucht haben, nicht sein. So unterschiedliche Gruppen und Netzwerke wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, die "Letzte Generation" und "Ende Gelände" haben sich vorgenommen, "Lützerath unräumbar" zu machen – die Polizei bereitet sich auf einen "schwierigen Einsatz" vor.

Von welchen Fakten gehen die Akteure aus?

Ist die Sache mit dem Klimawandel jetzt eigentlich halb so wild? – Nein, natürlich nicht, die Lage ist sehr ernst; und das Problem ist eindeutig menschengemacht – das sagen nicht nur Forschende aus aller Welt, deren Erkenntnisse regelmäßig in den Berichten des Weltklimarats zusammengetragen werden. Keine im Deutschen Bundestag vertretene Partei außer der AfD würde da widersprechen.

Die Linke würde vielleicht betonen, dass nicht der Mensch das Problem ist, sondern das mehrheitlich von Menschen geduldete Wirtschaftssystem, das auf den Raubbau an der Natur für kurz- und mittelfristige Profite eines kleinen Teils der Menschheit nicht verzichten kann – die FDP würde letzteres für Unfug erklären; und Abgeordnete der anderen bürgerlichen Parteien würden mehr oder weniger vehement zustimmen.

Aber außer der AfD würde keine der Bundestagsparteien die Erkenntnisse des Weltklimarats an sich in Frage zu stellen. Von den Leugnern und Verharmlosern distanzieren sich alle anderen Parteien mehr oder weniger empört. Wenn der UN-Generalsekretär in diesem Zusammenhang vor dem "kollektiven Suizid" der Menschheit warnt, nehmen das Regierende in Deutschland offiziell ernst. Unter der Hand spekulieren sie aber scheinbar darauf, dass der privilegierte Teil ihrer Generation dabei noch ganz gemütlich davonkommt.

Denn in der Praxis verantworten selbst die Grünen im Bund, in NRW und konkret in Lützerath eine Klimapolitik mit, die eher der AfD entgegenkommt als der Umweltbewegung, die darauf besteht, dass Deutschland die 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele einhält oder dies wenigstens ernsthaft versucht.

Unter Forschenden und Aktiven verschiedener Gruppen ist strittig, ob das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, realistisch gesehen überhaupt noch eingehalten werden kann – und ob es nicht besser wäre, offen zu sagen, dass es schwer genug wird, unter zwei Grad zu bleiben, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, dazu wäre noch viel Zeit.

Inwiefern verläuft "die 1,5-Grad-Grenze vor Lützerath"?

Gleichwohl haben die Grünen in ihrem Programm zu Bundestagswahl 2021 erklärt:

Wir lenken all unsere Kraft darauf, Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die uns auf den 1,5-Grad-Pfad führen.


Aus: Deutschland. Alles ist drin. Bundestagswahlprogramm 2021, Bündnis90/Die Grünen, S. 12

Mit der zugespitzten Aussage "Die 1,5-Grad-Grenze verläuft vor Lützerath" meinen Umwelt- und Klimagerechtigkeitsgruppen, dass zumindest in Deutschland kein fairer Beitrag zum weltweiten 1,5-Grad-Ziel mehr geleistet werden kann, wenn die Braunkohle unter dieser Ortschaft abgebaggert und verfeuert wird. An eine Kompensation durch besonders ambitionierte Pläne in anderen Bereichen – etwa in der Verkehrspolitik – ist aktuell gar nicht zu denken.

Kohlebedarf nach unterschiedlichen Gutachten

Wenn Lützerath fällt, wird RWE allein in Garzweiler 280 Millionen Tonnen Braunkohle abbaggern. Es geht also um mehr als Symbolpolitik – es geht um nichts weniger als die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Wird diese gigantische Menge Braunkohle verfeuert, reißt Deutschland endgültig das Pariser Klimaschutzabkommen.


Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Landesverband NRW

Vereinbarkeit mit Klimazielen kein Thema

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat den mutmaßlichen Kohlebedarf durch ein Kurzgutachten der Firma BET und der landeseigenen NRW.Energy4Climate ermitteln lassen – mit dem Ergebnis, dass je nach Entwicklung auf den Energiemärkten noch bis zu 280 Millionen Tonnen Braunkohle aus dem Tagebau Garzweiler II gefördert werden müssen.

Die Fragestellung, welche Kohlemengen noch im Einklang mit dem Pariser 1,5 Grad-Ziel stünden, war nicht Gegenstand der Untersuchung. Dementsprechend habe auch niemand den Auftrag bekommen, ein alternatives Tagebauszenario zu entwickeln, das Paris-kompatibel wäre, moniert der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).

In einer Studie der Aurora Energy Research vom 22. November 2022 wurde für den Betrieb der angeschlossenen Kraftwerke Neurath und Niederaußem bis zum anvisierten Ausstiegsjahr 2030 nur eine Bedarfsmenge von 93 bis 124 Millionen Tonnen Braunkohle ermittelt.

Welche Kohlemenge mit den Paris-Zielen vereinbar wäre

Die Fragestellung, welche Förder- und Nutzungsmenge noch mit den Pariser Klimaschutzzielen vereinbar wäre, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) untersucht. Aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler zusammen dürften demnach insgesamt nur noch etwa 200 Millionen Tonnen Braunkohle verfeuert werden. Diese kritische Marke wäre mit den Plänen von RWE und der Landesregierung eindeutig überschritten.

Es braucht also offensichtlich keine bekennenden Leugner der Klimakatastrophe, um diese weiter zu befeuern. Das schaffen Regierende, die offiziell den Ernst der Lage erkannt haben, ganz allein. Fake News und Verschwörungstheorien entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern der "Markt" dafür wird durch Lügen, Halbwahrheiten und Doppelmoral der Herrschenden geschaffen.