Deutsche Protestkultur: Konformer Ungehorsam

Seite 2: Protest von allen Seiten

Die Inflation, deren Wurzeln weder allein in der Corona-, noch in der Ukraine-Krise liegen, die aber durch die deutsche Sanktionspolitik zusätzlich angeheizt wird, erhitzt auch die Gemüter – und lässt die identitären Polkappen schmelzen: Nicht nur die AfD ruft zu Protesten auf, sondern auch die Linke.

Offenbar formiert sich hier ein überparteilicher Widerstand gegen eine Regierungspolitik auf Kosten der breiten Bevölkerung. Demokratischer im ursprünglichen Sinne könnte der Protest also nicht sein. Und genau diesen Umstand scheinen der historische Rekurs auf einen "Heißen Herbst" und die Montagsdemonstrationen evozieren zu wollen – zusammen natürlich mit dem Appell an die politischen Verantwortlichen, ihrer verfassungsrechtlich verankerten Pflicht nachzukommen, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden.

Dass man aber genau diese Bezugnahme auf die deutsche Demokratiegeschichte mit Verachtung straft, scheint darauf hinzudeuten, dass nicht nur dem "rechten" Protest die Rechtmäßigkeit abgesprochen wird.

Und das ist brandgefährlich: Denn jeder Protest beabsichtigt, die Grenzen des Legitimen zu verschieben, nicht selten auf Kosten des Legalen. Auch in unseren Geschichtsbüchern finden sich solche Verschiebungen. Allerdings nicht unter dem Stichwort "Delegitimierung", sondern meist unter "Emanzipation".

Den Grundsatz des zivilen Ungehorsams, also: dass Gesetze nicht eingehalten werden müssen, wenn sie gegen ein höheres (moralisches) Gesetz verstoßen, scheinen heute aber nur noch Gruppen in Anspruch nehmen zu dürfen, die der veröffentlichten (Regierungs-)Meinung nicht grundlegend widersprechen. Manche davon finden sich auch im Ausland, und bedienen sich der gleichen Mittel, die hierzulande geächtet werden. Das nährt den Eindruck der Doppelmoral: Extrem sind immer die anderen.

Das deutsche Erbe des zivilen Ungehorsams

Die parlamentarische Berichterstattung, die Befreiung Indiens aus der Kolonialherrschaft, die Aufhebung der menschenverachtenden Rassentrennung. All diese Errungenschaften der demokratischen Zivilgesellschaft sind undenkbar ohne gewaltfreie Rechtsbrüche aus Gerechtigkeitssinn, oder auch: zivilen Ungehorsam. 1943 soll er in der Berliner Rosenstraße selbst die Nationalsozialisten in die Knie gezwungen haben.

Die jüdische Politologin Hannah Arendt, die 1933 selbst vor den Nazis flüchtete, wusste nicht nur um die "Banalität des Bösen" unter den obrigkeitshörigen Befehlsempfängern des NS-Unrechtsstaats, sondern auch um die Unverzichtbarkeit des zivilen Ungehorsams als Gestaltungsmittel demokratischer Politik. 1972 schreibt sie in Crises of the Republic:

Ziviler Ungehorsam entsteht, wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, daß entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offenstehen bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder dass im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft.

Die vergangenen beiden Jahre boten genügend Gelegenheit, sich ein Urteil darüber zu bilden, inwieweit diese Beobachtungen für das Corona-Regime zutreffen. Bevor wir aber auf dessen Sonderrolle zu sprechen kommen, wollen wir auch eines seiner Opfer, den vormals autoritätskritischen Politologen und Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas, zu den Hintergründen und der Zweckmäßigkeit des zivilen Ungehorsams zu Wort kommen lassen. Der schreibt 1983 in Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat:

Nur solche Normen können gerechtfertigt werden, die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden kann. Der demokratische Rechtsstaat kann von seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern. […] In den Institutionen der rechtsstaatlichen Demokratie verkörpert sich das Mißtrauen gegen die fallible Vernunft und die korrumpierbare Natur des Menschen. Doch dieses Mißtrauen reicht über die Kontrollen und Gegengewichte, die sich institutionalisieren lassen, hinaus.

Der Rechtsstaat, der mit sich identisch bleiben will, steht vor einer paradoxen Aufgabe. Er muß das Mißtrauen gegen ein in legalen Formen auftretendes Unrecht schützen und wachhalten, obwohl es eine institutionell gesicherte Form nicht annehmen kann. Das Paradox findet seine Auflösung in einer politischen Kultur, die die Bürgerinnen und Bürger mit der Sensibilität, mit dem Maß an Urteilskraft und Risikobereitschaft ausstattet, welches in Übergangs- und Ausnahmesituationen nötig ist, um legale Verletzungen der Legitimität zu erkennen und um notfalls aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.

Abgesehen davon, dass die politische Kultur in der Corona-Ausnahmesituation erheblich beschnitten und Proteste aufgelöst wurden, bei denen nicht die Maske als "Symbol für Gehorsam den Maßnahmen der Regierung gegenüber" (Stefan Aust) getragen wurde, nahm die von Habermas vorausgesetzte "Risikobereitschaft und Urteilskraft" gegenüber einer "legalen Verletzung der Legitimität" auch in anderer Weise erheblich Schaden.

Dadurch nämlich, dass der Protest nicht nur als "(rechts-)extrem" oder "unnötig" klassifiziert, sondern die Regierung mit der Institution der Rechtsstaatlichkeit selbst gleichgesetzt, hypostasiert wurde. Das erlaubte es, schneller als man "ziviler Ungehorsam" sagen konnte, alle Regierungskritiker als (potenzielle) "Staatsverächter" oder gar – nach dem Vorbild der USA – als "domestic terrorists" zu behandeln, als Inlands-Terroristen. Praktisch, wenn Geheimdienste gleichzeitig die Mittel besitzen, via (virtuellen) V-Männern die entsprechenden Diskurse zu lenken.

Der Verfassungsschutz ist im April 2021 bei der Begründung seiner Entscheidung, die sogenannte Querdenker-Szene unter Beobachtung zu stellen, zumindest gefährlich nahe an diese Gleichsetzung von Institution und Regierung herangerückt.

In der Definition des neu geschaffenen "Phänomenbereichs" der "verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates", der in Ermangelung überwiegend rechts- (oder links-)extremer Tendenzen innerhalb der Bewegung geschaffen wurde, heißt es:

Die Akteure dieses Phänomenbereichs […] machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.

Abgesehen davon, dass auch totalitäre Systeme ihre Regierung als Verkörperung der Rechtsstaatlichkeit – "an sich" – begreifen, stellt sich die Frage, inwieweit die "Verächtlichmachung" ganzer Bevölkerungsgruppen ebenso am Prinzip der demokratischen Rechtsstaatlichkeit kratzt – sagen wir, wenn "Ungeimpfte" und Kritiker der Corona-Maßnahmen zum Beispiel als "Sozialschädlinge" und "Volksfeinde" bezeichnet werden. Oder in gebührenfinanzierten Sendungen von (auch noch: preisgekrönten) Kabarettisten als "Blinddarm" der Gesellschaft. Oder vom Bundesgesundheitsminister als Geiselnehmer.

Noch interessanter ist aber, dass eine Delegitimierung der Regierungspolitik sowie der Aufruf zum "Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen" an anderer Stelle keine flächendeckende mediale und politische Schelte nach sich zieht, sondern im Gegenteil eher Beifall erntet. Es geht, Sie ahnten es bereits, um die Klimaproteste. Black-Lives-Matter- und LGBTQ-Aktivismus sparen wir hier einmal aus.

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