Deutschland-Besuch: Selenskyj sollte sich zu Massaker von Odessa erklären
Ukrainischer Präsident soll nach Berlin und Aachen kommen. Ein Massaker an Zivilisten wird dann wohl keine Rolle spielen. Werden Opfer geopolitischen Interessen geopfert?
Wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Mitte Mai in Berlin empfangen wird, dürfte er von politischen Vertretern kaum mit der Frage konfrontiert werden, wann endlich die Hintergründe der Ereignisse aufgeklärt werden, die am 2. Mai 2014 zum Tod von 42 Menschen im Gewerkschaftshaus von Odessa führten. Die meisten Opfer verbrannten bei lebendigem Leib.
Zuvor bereits hatte es Straßenschlachten zwischen prorussischen und prowestlichen Ukrainer:innen gegeben. Auch damals gab es Tote auf beiden Seiten. Die damaligen Auseinandersetzungen standen in direktem Zusammenhang mit dem Umbruch nach den Maidan-Ereignissen 2014.
Das ist wohl auch der Grund, warum das Massaker von Odessa nicht nur in der Politik so wenig bewegt und der ukrainische Präsident sich nicht für den mangelnden Aufklärungswillen rechtfertigen muss. Auch der größte Teil der Linken in Deutschland hinterfragt dieses Schweigen nicht hinreichend.
Der Odessa-Platz und die Solidarität
Zum neunten Jahrestag des Massakers gab es am Abend des 2. Mai eine Kundgebung von rund 100 Menschen am Stadtrand von Berlin-Karlshorst. Der Ort war nicht zufällig gewählt. Der bisherige Marktplatz von Karlshorst wurde im letzten Jahr in Odessa-Platz umbenannt, aus Solidarität mit der Ukraine gegen den russischen Angriff.
Bei der Einweihung machten Demonstranten allerdings darauf aufmerksam, dass man dann doch wohl auch die Toten des 2. Mai 2014 in Odessa nicht einfach verschweigen dürfe.
Der Streit um die Solidarität am Odessa-Platz hat längst auch die Linkspartei erfasst. Der damalige Lichtenberger Bürgermeister, der den Platz einweihte, ohne auf das unaufgeklärte Massaker vom 2. Mai 2014 einzugehen, war ebenso Mitglied der Linkspartei wie einige der Kritiker, die dieses Schweigen bemängelte.
Auf der Kundgebung am 2. Mai war neben Fahnen der DKP auch ein Banner der Linkspartei zu sehen. Auf der Kundgebung hielt ein Vertreter eines Bündnisses mit dem Namen "Heizung, Brot und Frieden" einen entsprechenden Redebeitrag: Er skizzierte noch einmal den Ablauf der blutigen Ereignisse vor neun Jahren in Odessa und hob die Beteiligung der faschistischen Swoboda-Partei und des rechten Sektors bei diesen Angriffen hervor.
Tatsächlich waren diese Ultranationalisten nicht nur zu einem Fußballspiel in die Stadt gekommen. Sie hatten von Anfang vor, die den in ihren eigenen Augen prorussischen Anti-Maidan-Aktivisten eine Lektion zu erteilen, die sie nicht vergessen sollten. Das war erfolgreich.
Wie der Publizist Ulrich Heyden in einem Dokumentarfilm aufzeigte, wurden die Überlebenden und Angehörigen der Opfer eingeschüchtert. Viele verstecken sich später oder mussten die Stadt verlassen.
Für einen universalistischen Antifaschismus
Ein blutiger rechter Angriff mit eindeutiger Beteiligung von Ultranationalisten und Faschisten, ein Staatsapparat, der sie gewähren lässt und kein Interesse an einer Aufarbeitung zeigt. Müsste dass nicht Antifaschisten mobilisieren? Diese Frage stellt auch der Redner von "Heizung, Brot und Frieden".
Er verweist darauf, dass wenige Tage nach den Ereignissen vom 2. Mai 2014 über Tausend Antifaschisten in Berlin auf die Straße gegangen sind und eine Aufarbeitung einforderten. Damals berichteten auch noch viele Medien in Deutschland über die Beteiligung der Faschisten an den Angriff und sahen durch sie die ukrainische Demokratie gefährdet.
Davon ist neun Jahre später nichts mehr zu hören und zu sehen. Was ist der Grund. "Die Opfer vom Gewerkschaftshaus in Odessa wurden geopolitischen Erwägungen geopfert", vermutet der Redner. Weil es heute in dem Russland angegriffenen Land keine Rechten geben darf, werden deren Opfer gar nicht erwähnt
Dem stellte er das Konzept eines universalistischen Antifaschismus gegenüber, das Opfer rechter und staatlicher Gewalt überall benennt und Aufarbeitung fordert, sei es in der Ukraine, in Deutschland, den USA und auch in Russland.
Nun kann man bezweifeln, ob alle der Teilnehmer der Kundgebung tatsächlich die Faschisten und Nationalisten in Russland mit der gleichen Energie bekämpfen wurden, mit der sie die ukrainischen Rechten ablehnen. Doch das Konzept des universalistischen Antifaschismus ist völlig berechtigt.
Es geht nicht darum, dass man mit den politischen Ansichten der Opfer konform gehen muss, es geht auch nicht darum, dass sie vielleicht von Russland oder anderen Ländern für ihre Propaganda instrumentalisiert werden könnten. Eine Linke, die keinen Staat machen will, beugt sich auch keinen Staatsinteressen und handelt unabhängig davon. Deshalb ist es positiv zu bewerten, dass das Datum des Massakers nicht ganz unbemerkt verstrichen ist.
Gegen den Mythos der einheitlichen ukrainischen Nation
Die Bewertung der Ereignisse am 2. Mai 2014in Odessa stehen in engen Zusammenhang mit der Bewertung der Maidan-Ereignisse 2014. Darin sehen die einen, einen möglichst noch von Außen gesteuerten Putsch, die anderen den Anbruch der westlichen Demokratie. Beide Bewertungen treffen nicht den Kern der Sache.
In der Ukraine gab es eine berechtigte Kritik an einer korrupten Regierung. Das nutzten prodeutsche Nationalisten für den Sturz einer nach bürgerlich-demokratischen Kriterien gewählten Regierung und bekamen dabei Unterstützung von Politikern verschiedener Länder des globalen Westens, vor allem Deutschlands. Dagegen bildete sich die Anti-Maidan-Bewegung, die sich schützend vor Denkmäler stellte, die von der neuen rechten Regierung gestürzt werden sollten.
Diese Bewegung bekam Unterstützung von Russland, aber sie war genauso wenig nur von Russland gesteuert, wie die Maidan-Bewegung nicht einfach ein Produkt des globalen Westens war. 2014 standen sich zwei ukrainische Bevölkerungsgruppen gegenüber.
Der 2. Mai 2014 machte deutlich, dass dabei auch mit faschistischen Methoden die gegnerische Seite bekämpft wurde. Die Opfer waren ukrainische Staatsbürger. Ein Grund für das Schweigen über den 2. Mai 2014 liegt auch darin, dass sie den Mythos der einheitlich prowestlichen ukrainischen Nation widerlegen.
Selbst ein Text des Jura-Portals Legal Tribune Online, der eine Aufklärung des Massakers fordert, spricht immer nur von prorussischen Demonstranten in Odessa. Dabei ist festzuhalten, es waren ukrainische Staatsbürger, die mit dem Maidan-Umschwung nicht übereinstimmten.
Eine Aufklärung ihres Todes steht noch aus und sollte auch beim Besuch von Selenskyj eingefordert werden.