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Deutschland am Scheideweg zwischen Wohlfahrts- und Rüstungsstaat

Der soziale Frieden darf nicht dem Militäretat geopfert werden. Dafür aber müsste der Bundesregierung nun die Friedensbewegung in den Arm fallen

Als russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine angriffen, warfen führende deutsche Sozialdemokraten – wie schon die Reichstagsabgeordneten der Partei am 4. August 1914 durch Bewilligung von Kriegskrediten für die kaiserliche Armee – praktisch über Nacht jahrzehntelang bewährte Grundsätze der Friedenssicherung über Bord.

Waffen nicht in Krisen- und schon gar nicht in Kriegsgebiete zu liefern, gehörte für die SPD bis dahin zur Staatsräson der Bundesrepublik. Jetzt wurden 500 "Stinger"-Raketen, 1.000 Panzerfäuste und 2.700 Luftabwehrraketen aus NVA-Beständen in ein Kriegsgebiet exportiert, das andere Nato-Staaten schon vorher mit Waffen bestückt hatten.

Als der Erste Weltkrieg begann, war Russland übrigens nicht der Aggressor, obwohl es bereits am 30. Juli 1914 die Generalmobilmachung anordnete und die kaiserliche Propaganda es mit Erfolg dazu stempelte. Wilhelm II. hatte im Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und dem mit Serbien verbündeten Russland wohl nur zum Schein eine Vermittlungsmission übernommen, um als Friedensfreund dazustehen.

Weltweite Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine (0 Bilder) [1]

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Nach massiver Hetze gegen Russland in den Massenmedien und einer ähnlichen Personalisierung des erklärten Kriegsgegners wie heute zogen die Deutschen mit dem Schlachtruf "Kampf dem Zarismus!" ins Feld.

Anstatt der Militarisierung des Denkens, der Sprache und der Medienberichterstattung entgegenzutreten, gab Bundeskanzler Olaf Scholz dem Druck der veröffentlichten Meinung nach und verkündete in seiner von Ovationen begleiteten Parlamentsrede am 27. Februar 2022, jährlich "mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts", also mindestens die Hälfte mehr als bisher, für Rüstung ausgeben und ein Sondervermögen in der schwindelerregenden Höhe von 100 Milliarden Euro für die mit einem Rüstungshaushalt von gut 50 Milliarden Euro (nach Nato-Kriterien) angeblich schlecht ausgerüstete, weil "unterfinanzierte" Bundeswehr schaffen zu wollen.

Wen wundert es, dass in den Chefetagen von Rüstungskonzernen die Sektkorken knallten und die Rheinmetall-Aktie in zwei Tagen einen Kurssprung um 60 Prozent machte?

Die im Bundestag herrschende Stimmung erinnerte ein bisschen an den patriotischen Taumel, der Wilhelm II. in seiner Thronrede am 4. August 1914 zu dem berühmten Ausspruch veranlasste, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.

Wie manche Konservative und alle Rechtsextremisten dem Rüstungswahn zu verfallen, ist jedoch kein Beleg für die von Hardlinern sehnlich vermisste Führungsstärke des Kanzlers, sondern das Eingeständnis außen- und sicherheitspolitischen Versagens des Westens im Allgemeinen und der Bundesrepublik im Besonderen.

Wieso hat niemand versucht, die Ukraine als neutralen Staat nach dem Beispiel Österreichs oder Finnlands ökonomisch und politisch einzubinden, aber russischen Einkreisungsängsten durch entsprechende Sicherheitsgarantien gleichfalls Rechnung zu tragen?

Nicht viel besonnener als die SPD-Politiker verhielt sich das Regierungspersonal von Bündnis 90/Die Grünen: Plötzlich scherte sich diese Partei, als deren Markenkern seit ihrer Gründung die Bewahrung von Umwelt, Natur und Klima galt, nicht mehr um ihre Prinzipien, sondern stimmte dem größten Aufrüstungsprogramm seit 1945, das Olaf Scholz gemeinsam mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) im Hauruckverfahren aus dem Boden gestampft hatte, nachträglich zu.

Dabei schadet der Umwelt, der Natur und dem Klima nichts mehr als das Militär. Das reicht schon im Frieden von einem riesigen Energie- und Landverbrauch über Manöverschäden bis zum Tieffluglärm von Militärflugzeugen. Plötzlich aber gilt den Bündnisgrünen selbst der Import des vorher als Teufelszeug verdammten Fracking-Gases als Königsweg aus der Energieabhängigkeit von Russland.

Soziales im Zeichen des Krieges: Springt die Ampel auf Rot?

Die amtierende Bundesregierung steht vor gewaltigen Herausforderungen: Sie muss ihren Beitrag zur Eindämmung der verharmlosend "Klimawandel" genannten Erderhitzung leisten, die Modernisierung der Infrastruktur unseres Landes vorantreiben, dessen soziale Probleme (Prekarisierung der Arbeit, Verarmung eines Teils der Bevölkerung, Wohnungsnot und Mietenexplosion) lösen sowie den von der Coronakrise belasteten Staatshaushalt sanieren.

Wenn jetzt noch gigantische Rüstungsausgaben geschultert werden sollen, wird es kaum möglich sein, diese Aufgaben zu bewältigen. Umgekehrt dürfte es Abstriche von dem ohnehin wenig anspruchsvollen Programm der Ampelkoalition geben.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die "Fortschrittskoalition" aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP nur wenig sozialen Fortschritt gewagt: Neben dem Mindestlohn, den die Unternehmen und private Arbeitgeber/innen zahlen müssen, sind hier das "Bürgergeld", die "Kindergrundsicherung" einschließlich des "Sofortzuschlages" für Kinder im Transferleistungsbezug, die befristete Stabilisierung des Rentenniveaus und die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente zu nennen.

Die sozialpolitische Kernforderung von SPD, Bündnisgrünen und FDP ist das Bürgergeld, mit dem sie die Abschaffung von Hartz IV verbinden. Die im Koalitionsvertrag der "Ampel" fehlenden Ausführungen zur Höhe der Transferleistung lassen allerdings eher befürchten, dass hier ein großes Kürzungspotenzial steckt.

Man wird sich möglicherweise darauf einstellen müssen, dass die nächsten Erhöhungen der Regelbedarfe trotz nicht zuletzt wegen des Ukrainekrieges und der westlichen Sanktionen gegenüber Russland drastisch steigender Lebenshaltungskosten ähnlich bescheiden ausfallen wie am 1. Januar 2022, als sie selbst für die Kinder um weniger als ein Prozent stiegen.

Kinder will die "Ampel"-Koalition aus Hartz IV herausholen und mehrere für sie bestimmte Leistungen (Kindergeld, Sozialgeld, Kinderzuschlag sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepakets) zu einer Kindergrundsicherung zusammenfassen. Diese soll aus zwei Komponenten bestehen, dem einkommensunabhängigen, für alle Kinder und Jugendlichen gleich hohen Garantiebetrag sowie und einem vom Elterneinkommen abhängigen, gestaffelten Zusatzbetrag.

Nur wenn die Kindergrundsicherung sinnvoll konstruiert wird und ihr Gesamtzahlbetrag die Summe der bisherigen Transferleistungen für Minderjährige aus einkommensschwachen Familien erheblich übersteigt, kann sie einen spürbaren Beitrag zur Verringerung der Kinderarmut leisten.

Ohnehin stellt eine Kindergrundsicherung, die Minderjährige aus dem Bürgergeld- oder Hartz-IV-Bezug herauslöst, ihre Eltern aber darin belässt, höchstens eine Teillösung des Problems der Familienarmut dar.

Bis zur Einführung einer Kindergrundsicherung sollen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die mit ihren leistungsberechtigten Eltern in einem Haushalt leben, durch einen "Sofortzuschlag" in Höhe von 20 Euro im Monat unterstützt werden.

Dies bedeutet, dass ihr Regelbedarf noch einmal um weniger als ein Prozent angehoben wird. Und das bei einem inflationären Preisauftrieb, der mehr als fünf Prozent beträgt. Kinder von noch nicht anerkannten Geflüchteten und von Geduldeten, die das Geld am dringendsten brauchen, gehen sogar völlig leer aus.

Armutsbekämpfung wird von den Koalitionspartnern zwar mit dem üblichen Tunnelblick auf die betroffenen Kinder proklamiert, dürfte in der Regierungspraxis aufgrund der steigenden Rüstungsausgaben aber sehr halbherzig praktiziert werden; über eine Reichtumsbegrenzung durch höhere Kapital- und Gewinnsteuern wurde in den Koalitionsverhandlungen gar nicht erst diskutiert, weil sie die FDP blockiert.

Das ist Neoliberalismus pur: Mehr Geld in Digitalisierung und Rüstung stecken, die "Schuldenbremse" wieder in Gang setzen und Steuererhöhungen ausschließen. So bringt man den Wohlfahrtsstaat in eine finanzielle Zwickmühle, aus der nur Sozialabbau herausführt.

Deshalb wird es am Ende dieser Legislaturperiode eher mehr als weniger sozioökonomische Ungleichheit geben, die zu verringern SPD und Bündnisgrüne ihren Wähler(inne)n jedoch versprochen hatten.

Hochrüstung führt zur Senkung des Lebensstandards

"Frieren für die Freiheit" hat Altbundespräsident Joachim Gauck seinen Mitbürger(inne)n geraten, ohne deren wachsende soziale Probleme ernst zu nehmen. Zumindest die Geringverdiener/innen und Sozialleistungsbezieher/innen müssen den Gürtel künftig enger schnallen, denn Hochrüstung heizt die Inflation weiter an und aufgrund ihrer enormen Kosten nötig werdende Leistungskürzungen des Staates beeinträchtigen den Lebensstandard von Einkommensschwachen ebenfalls.

Während der Beschäftigungseffekt von Rüstungsausgaben vergleichsweise gering ist, wirken diese als Inflationstreiber, weil die Kosten neuer Waffensysteme erfahrungsgemäß aus dem Ruder laufen. Die durchschnittlichen Preissteigerungen liegen bei Rüstungsgütern deutlich höher als bei zivilen.

Es ist außerdem eine Illusion zu glauben, Sozialleistungen würden nicht gekürzt, weil das Sondervermögen für die Bundeswehr den Staatshaushalt nicht belaste. Christian Lindner geht nämlich von "Einsparungen an anderer Stelle" aus, wie der Finanzminister gleich verlauten ließ.

Wenn es schon ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro gibt, warum dann nicht für die Bekämpfung von Obdachlosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit und Kinderarmut, für Bildung, Betreuung und Pflege, für die Alterssicherung von Geringverdiener(inne)n oder für den öffentlichen Wohnungsbau?

Der russischen Militär- und Staatsführung um Präsident Wladimir Putin kann die deutsche Friedensbewegung nicht in den Arm fallen, weil sie keinen Einfluss auf dessen Politik hat. Aber deutschen Rüstungsfanatikern, Kalten Kriegern und Militaristen kann man noch in den Arm fallen.

Dies ist umso notwendiger, als der soziale Frieden in Deutschland nicht blindem Rüstungswahn geopfert werden darf. Denn auf Rüstung folgt irgendwann Krieg, wie die Ukrainer:innen derzeit leidvoll erfahren.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt gemeinsam mit seiner Frau Dr. Carolin Butterwegge bei Campus das Buch "Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt" veröffentlicht.


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