Deutschland - ein einziges Eigentor
Das alte Laster der Kritikunfähigkeit. Die Löw-Elf steht unter Druck; Belgien, Holland und natürlich Italien sind die Favoriten
Às armas, às armas!
Portugiesische Nationalhymne
Sobre a terra, sobre o mar,
Às armas, às armas!
Pela Pátria lutar!
Contra os canhões marchar, marchar!"
Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich weigert, das zu sein, was es ist.
Albert Camus
Deutschland unter Druck: Heute muss ein Sieg her gegen "Portuball" (Bild-Zeitung), sonst muss man fromm werden im deutschen Fußball und auf göttlichen Beistand vertrauen.
Wenn es heute nicht laufen sollte für die Jogi-Elf, dann dürfte Deutschland das einzige Land unter den favorisierten EM-Teilnehmern werden, das aus dem Tritt geraten und für den Einzug ins EM-Achtelfinale auf Glück angewiesen ist.
Debakel gegen Frankreich: Jogi Löw ist schon gegangen
Nichts Neues unter der Sonne. Was wir alle gegen abgezockte, bewegungsarme Franzosen sahen, waren breiige Breite, flache Hierarchien, aber nicht ein einziger wirklich steiler Pass, nicht ein einziges schnelles Kurzpassspiel. Alles wirkte so, als wolle die DFB-Elf den von Spanien 2010 auf die Spitze seiner Möglichkeiten getriebenen Tiki-Taka-Fußball elf Jahre zu spät nachäffen.
Punktsieger unter den Deutschen waren nicht Hummels oder Müller, sondern der Co-Kommentator des ZDF: Sandro Wagner, als Stürmer bei Darmstadt, Hoffenheim und Bayern eher ein schlichtes Gemüt im Strafraum, begeisterte mit konzisen Interpretationen, überraschenden Deutungen und klarer Sprache. "Wir brauchen mehr Tiefe!"
Schlimmer noch: Die deutsche Mannschaft hat keine Hierarchie, also auch keinen Aufbau, keine Struktur nach oben und unten. Falsche Gleichheit ist mal wieder der Name des deutschen Irrtums.
Gespiegelt wurde das Ganze einmal mehr durch die Körpersprache des Noch-Bundestrainers: Apathisch, gut gekleidet, aber spannungslos in sich zusammengesackt hockte Jogi Löw an der Seitenlinie. Keine Körpersprache trug das eigene Team nach vorn, keine Faser seines Leibes und kein Muskel seines Gesichts strahlte jene Spannung aus, die auch seiner Mannschaft fehlte.
15 Jahre nach dem "Sommermärchen", elf Jahre nach der besten deutschen Fußballnationalmannschaft unter Löw, sieben Jahre nach dem WM-Titel und drei Jahre nach dem schmählichen WM-Vorrunden-aus hat die Löw-Elf endgültig fertig. Jogi wird nicht gehen, er ist schon gegangen, und dass da stattdessen nun sein Zombie an der Außenlinie sitzt, macht die Sache noch schlimmer. Eigentlich ein Desaster, eigentlich ein Debakel.
Nur mit Glück verlor man nicht 0-3, selbst ein 0-5 wäre nicht völlig undenkbar gewesen anhand des bleischweren Auftritts. Unglückselig, uninspiriert, so traten die Deutschen am Dienstag gegen Frankreich auf. Der deutsche Spielraum war ohne Tiefe, ein zweidimensionaler Fußball, wo andere zumindest die dritte Dimension des Raumes ausloten und manchmal die vierte berühren.
Selbstüberschätzung: Deutschland weigert sich, zu sein, was es ist
Hinzu kommt das alte Laster der Kritikunfähigkeit, gepaart mit Selbstüberschätzung und Schönreden: Die sogenannte "Analyse", die Toni Kroos nach dem Spiel, erschöpft, aber etwas zu selbstbewusst und leicht patzig den ZDF-Kameras darbot, berührte die Realität nur an deren Seitenlinie: "Wir haben in meinen Augen ein gutes Spiel gemacht, wir hatten gute Chancen, nicht weniger als die Franzosen. Ein unglückliches Tor hat das Spiel entschieden. Wir haben vieles sehr gut kontrolliert, ich habe sehr wenige französische Konter gesehen. Was uns gefehlt hat, war ein Tor", behauptete Kroos. Das war noch nicht mal die halbe Wahrheit. Das ist viel eher jene Selbstüberschätzung, die Deutschland bereits 2010 und 2012 die Chance auf den Titel kostete.
So erlebte man bei der deutschen Mannschaft einmal mehr die Bestätigung jener Feststellung von Albert Camus: "Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich weigert, das zu sein, was es ist."
Auch die deutsche Fußball-Nationalmannschaft weigert sich gerade zu sein, was sie ist. Wie das ganze Land.
Vergangenheit gegen rasenden Stillstand
Aber was ist sie? "Die deutsche Mannschaft hatte nicht das, was sie haben könnte", sagte der Fußballkenner und Schriftsteller Albert Ostermeier im Deutschlandfunk zum Spiel: "Wenn Sie den Teamspirit hätte. Den bedingungslosen Glauben."
Es sei zwar erwartbar gewesen, aber trotzdem ein Desaster. "Alle unsere Stärken sind unsichtbar", analysierte Ostermeier. "Alle Spieler sind meilenweit von dem entfernt, was sie können. ... Wir haben eine deutsche Mannschaft gesehen, die völlig vercoacht wurde; in der alles konzentriert wurde auf einen Toni Kroos, der längst vorbei ist. Und deswegen haben wir verdient verloren. Dass wir das Tor noch selbst machen, passt zu dem französischen Effektiv-Fußball. Die Art, wie Frankreich das gemacht hat. Sie haben nur das gemacht, was absolut nötig ist, und deswegen mussten sie selbst das Tor nicht selber schießen. Wir waren ein einziges Eigentor. Wir haben hier eine Mannschaft, die einen neuen Trainer verdient hatte."
Es ist zu hoffen, dass Ostermeier Recht hat, und dies wirklich nur ein Trainer Problem ist. Blickt man wie er vor allem auf den FC Bayern, dann liegt diese Sichtweise nah. Beim Blick auf andere deutsche Mannschaften ist dies schon nicht mehr ganz so.
Trotzdem: Wenn man Jogi Löw am Spielfeldrand sitzen sah, dann hatte man - Sympathien hin oder her - den Eindruck eines Menschen, dessen Zeit schon lange vorüber ist.
Andererseits ist zu fragen: Welchen Stil spielen Franzosen eigentlich? Die Franzosen haben eigentlich so gespielt, wie man es von einer deutschen Mannschaft erwartet hätte: Nicht zu viel, nur das Nötigste, alles in allem Kontrollfetischismus und viel Langeweile.
Man muss von "kontrollierter Kontrolle" sprechen, also davon, das Bewegungsspiel stillzustellen. Es ist, als ob das Tiki-Taka von Pep Guardiola auf die Spitze getrieben wurde, so schnell und passsicher, dass Bewegung nicht mehr zu erkennen ist. Ein rasender Stillstand (Paul Virilio).
Deutschland seit 1989/90 fußballerisch gehemmt
Die eigentliche narzisstische Kränkung dieses Nachbarschafts-Duells mit dem großen Rivalen liegt darin, dass Deutschland von den Franzosen auf seinem ureigensten Feld geschlagen wird. In dem einen Bereich, in dem man sich mit gutem Recht jahrzehntelang überlegen fühlen konnte. Nach 1982 und dem Halbfinale, auch nach 1984 und dem EM-Titel für die Franzosen, auch nach 1998 und dem ersten WM-Titel für Frankreich, auch nach 2006.
Für die Deutschen lebt immer schon "Gott in Frankreich" (Friedrich Sieburg): Die französische Lebensart ist besser, das französische Essen ist besser, die französische Politik ist erfolgreicher, und die französische Kultur ist auf fast allen Belangen überlegen - Ausnahmen sind Lyrik, vielleicht Musik und einige Jahrzehnte Philosophie.
In Deutschland hat Fußball eine zentrale soziokulturelle Bedeutung, ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo Fußball eine von vielen Sportarten ist, wo Tennis und Rugby ähnlich hoch anzusiedeln sind in der nationalen Wertschätzung. Fußball war das eine Feld, das einzige, auf dem man die Franzosen nicht beneiden musste, auf dem man den Franzosen eindeutig überlegen war. Seit Mitte der Zehner-Jahre ist dies nun auch vorbei.
Die deutsche Fußball-Überlegenheit in Europa nach dem Krieg war verbunden mit der westdeutschen Wirtschaftsüberlegenheit im gleichen Zeitraum, dem "Wirtschaftswunder". Wirtschafts- und sozialpolitisch spricht man von den "Grandes Glorieuses", den 30 glorreichen Jahren zwischen 1945 und 1975. Fußballerisch dann waren es für Deutschland vielleicht sogar 45 glorreiche Jahre, bis hin zum Weltmeistertitel 1990. Alles, was danach kam, war schon schwieriger, war immer weniger ein selbstverständliches "Am Ende gewinnen immer die Deutschen", auch wenn Gary Linekers Satz erst aus dem Jahr 1996 stammt. Genaugenommen ist Deutschland seit der Wiedervereinigung 1989/90 fußballerisch gehemmt.
Vor bleischwerem deutschen Abend: erste Favoriten zeichnen sich ab
"Helden des Meeres, unsterbliche Nation", singen die Portugiesen in ihrer Nationalhymne. "Aus den Nebeln der Erinnerung." Heute Abend werden wir Portugiesen sehen, die hart, aber ratlos spielen. Wir werden viele, viele Fehlpässe sehen. Zähes, breiiges Abgetaste. Wieder einmal, wie bei der EM 2012, spielt Deutschland in der "Todesgruppe". Auch damals mit Portugal und statt Frankreich mit Holland. Mal sehen, ob Deutschland nicht das Holland von 2021 wird.
Die ersten Favoriten schälen sich zugleich heraus: Italien wirkt wie die aktuell stärkste aller starken Mannschaften des Turniers. Wie die einzigen, die in der Lage sein könnten, den eiskalten, aber abgeklärten französischen Weltmeistern Paroli zu bieten. Und den Franzosen manchmal noch Sand ins allzu flutschig geschmierte Getriebe zu streuen.
Spanien könnte an starken Gegnern noch wachsen. Die Engländer könnten an einem guten Tag mit etwas Glück jeden Gegner beinahe schlagen. Nur die Kroaten, Überraschungsmannschaft der letzten WM, haben ihre besten Tage hinter sich. Bleiben die ewigen Favoriten, die großen Unbekannten: Die vereinigten Niederlande; also Holland und Belgien.
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