Deutschlands Nahost-Konflikt: Verhärtung politischer Fronten

Olaf Scholz auf einer Rednertribüne im Hintergrund die israelische und die deutsche Flagge

Olaf Scholz auf einer Solidaritätskundgebung für Israel, Pariser Platz, Berlin, Mai 2021. Bild: Timeckert /Shutterstock.com

Die Debatte spitzt sich zu: Warum aus Migrations-Kritik Islamophobie wird und aus Israel-Kritik Antisemitismus. Analyse einer Spiegelbewegung, die das Land spaltet.

Seit dem 7. Oktober 2023 füllt sich der deutsche Debattenkollisionsraum mit einer Reihe von hochsensiblen Fragen, die das ambivalente Verhältnis des Landes zum neu entbrannten Nahost-Konflikt widerspiegeln – tatsächlich sogar: spiegeln. Zu den Wesentlichen dürften folgende gehören:

Kann man …
… das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza und Libanon kritisieren, ohne die Hamas und ihren blutrünstigen Anschlag vom 7. Oktober zu verharmlosen?
… die israelische Regierung für die Expansion des Staatsgebietes über die Grenzen von 1967 hinweg und die Unterstützung der Siedlungspolitik durch die rechtskonservative Regierungspartei Likud kritisieren, ohne dem völkerrechtswidrig-totalen Gebietsanspruch auf der Seite der Palästinenser, wie er auf Transparenten bei Protestaktionen plakatiert wird, beizupflichten?
… die Achtung des Völkerrechts einfordern, ohne die deutsche Staatsräson, die Verpflichtung auf das Existenzrecht Israels und die historische Verantwortung zu untergraben, die aus dem Holocaust folgt?
… islamistische Terror-Anschläge wie zuletzt in Solingen, Kalifats-Demos vor der blauen Moschee, Kriminalität unter migrantischen Gruppen und irreguläre Migration kritisieren, ohne den Islam als solchen zu verurteilen?

Schließlich:
Kann man in Deutschland rechts-konservativ sein, ohne den Kampf einer israelischen Zivilisation gegen eine Barbarei des Islam bedingungslos zu unterstützen?
Und kann man in Deutschland links-progressiv sein, ohne durch den Rekurs auf das Völkerrecht die brutalen Angriffe der Hamas und des Iran zu unterstützen?

Man gewinnt immer mehr den Eindruck: offenbar nicht.

Denn je häufiger und drängender sich diese außenpolitischen Fragen stellen, desto schärfer wird der Ton, desto tiefer der innenpolitische Graben in Deutschland.

Mehr Spaltung, weniger kritsche Masse

Diese Frontlinien, die Telepolis bereits im April versucht hatte nachzuzeichnen, bedrohen nicht nur den Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung, sondern zunehmend auch die politische Konsens- und Handlungsfähigkeit in den Parlamenten (speziell der ostdeutschen Bundesländer).

Aus der Cancel-Kultur, die beide Seiten zu Recht beklagen, folgt eine politische Lähmung des Demos. Es ist die umgekehrte Logik der Kernphysik: mehr Spaltung, weniger kritische Masse. Eine Bevölkerung, die sich teilen lässt, verzichtet auf Herrschaft.

Die Übertragung des Konflikts auf Deutschland

Als paradigmatisch für hoch erhitzte Zuspitzungen in der deutschen Diskussion kann der Schlagabtausch gelten, den sich der rechtskonservative Zeitungsherausgeber und Wirtschaftswoche-Veteran Roland Tichy zuletzt mit einem X-User namens Peter Bondau lieferte, welcher angesichts des Che-Guevara-Zitats in seiner Profilbeschreibung wohl dem sozialistischen Lager zugeordnet werden kann.

Tichy beklagte die (je nach Nachrichtenquelle mehr oder weniger erfolgreichen) jüngsten Angriffe des Iran auf Israel und verortete sich im Konflikt als Gegner eines "schwarzen Islams". Darauf folgte eine polemische Replik Bondaus, der "das zionistische Regime (…) einen (sic) Mörder, Verbrecher und Apartheid-Regime (sic)" nannte.

Tichy antwortete darauf lakonisch und beleidigend mit der Frage "Soll ich dir eine Ziege leihen?" Auf die Intervention durch den Journalisten Henning Rosenbusch, wonach man zwar anderer Meinung als Bondau sein dürfe, dennoch aber gewisse Niveaugrenzen einhalten solle, folgte die Anschuldigung Tichys, Rosenbusch sei Antisemit.

Man kann diese Episode/Eskapade als extremen Einzelfall abtun. Damit macht man es sich aus Sicht des Verfassers aber viel zu einfach.

Denn ebenso oft, wie identitätsstiftenden Figuren der modernen Linken, etwa Greta Thunberg, eine Nähe zum palästinensischen Anti-Zionismus nachgesagt wird, so sehr scheinen identitäre Fürsprecher der radikalen Rechten dem Zionismus nahezustehen. So etwa der Gründer der "English Defense League", die nach dem Attentat von Southport die Unruhen mit islamfeindlichen Parolen anheizte.

Auch Israels Premier selbst hat wohl seinen Teil zu der in rechten Kreisen häufig zu findenden Gleichführung der Kritik an kriminellen muslimischen Migranten mit einem Kampf gegen den Islamismus oder gar den Islam als solchen beigetragen. So sah Benjamin Netanjahu Deutschland 2023 in einem Bild-Interview an der Seite Israels in einem "gemeinsamen Zivilisationskrieg gegen die Barbaren".

Vom Anti-Zionismus zur offenen Judenfeindlichkeit

Lange vor dem innenpolitischen Paradigmenwechsel durch den brutalen Anschlag in Solingen warnte der Premier außerdem davor, dass Deutschland "als Nächstes dran" sein werde. Netanjahu wiederum, für den der Staat Israel sich in erster Linie dem Unabhängigkeitskrieg von 1947 verdankt, entstammt einer Familie selbst erklärter "(revisionistischer) Zionisten", was neben seinem Vater Benzion (Sohn Zions) auch seinen Urgroßvater Nathan (hebraisiert: Netanjahu) einschließt, der bereits in den 1920er-Jahren unter den ersten Siedlern des damaligen britischen Mandatsgebietes war.

Dass die Gleichsetzung von Zionismus mit jüdischer Identität und Anti-Zionismus mit Antisemitismus gleichermaßen unhaltbar ist, hat Telepolis zuletzt am Beispiel der von der englischen Wikipedia für unzuverlässig erachteten Anti-Defamation-League (ADL) ausgeführt.

Allerdings finden – auch auf deutschen Straßen – immer häufiger Proteste von Palästinensern und deren Sympathisanten statt, auf denen nicht nur hegemoniale – und damit völkerrechtswidrige – Parolen skandiert werden, sondern auch unzweifelhaft antisemitische Bekundungen wie die "Khaybar"-Gesänge, die in spiegelbildlicher Weise einen Glaubenskrieg zwischen Juden und Muslimen (herauf-)beschwören.

Die Frage der Waffenlieferungen in Kriegsgebiete

Im deutschen Diskurs der extremen Wahlverwandtschaften spielt besonders die AfD eine bemerkenswerte Rolle, wo sie offensichtlich der Herausforderung gegenübersteht, die Brücke zu schlagen zwischen der ans islamophobe grenzenden Haltung zu "Kopftuchmädchen und alimentierten Messermännern" (Alice Weidel) sowie der starken Fürsprache für das Selbstverteidigungsrecht Israels einerseits und der bisherigen Parteilinie zu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete andererseits.

In der Frage des Ukraine-Kriegs positioniert sich die AfD bekanntlich eindeutig gegen Waffenlieferungen. In der viel beachteten Fernseh-Debatte zwischen den Parteivorsitzenden Alice Weidel (AfD) und Sahra Wagenknecht (BSW) schien ein Widerspruch auf zwischen Weidels scheinbar klarem Bekenntnis zum Selbstverteidigungsrecht Israels und der geäußerten Ablehnung "deutsche(r) Waffen nach Israel".

Die "Achse Moskau-Teheran"

Wagenknecht suchte diesen mutmaßlichen Widerspruch strategisch zur eigenen Profilierung auszunutzen, indem sie darauf hinwies, dass Weidel einem BSW-Antrag auf ein Waffen-Embargo nicht zugestimmt hatte.

Nun macht Weidel mit ihrer Haltung in der Partei aber keine Ausnahme. Gerade in der Führungsriege der Rechtsnationalen trifft man immer wieder auf die Forderung eines Lieferstopps.

So sprach sich zuletzt auch der Ko-Vorsitzende Tino Chrupalla gegen die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigten Waffenlieferungen aus. Zusammen mit dem BSW, was den Fraktionsvorsitzenden der FDP, Christian Dürr, dazu verleitete, die beiden Parteien als "Achse Moskau-Teheran" zu bezeichnen.

Wohl aber sucht die AfD in Gestalt ihres Parteimitglieds und ehemaligen Generalleutnants Joachim Wundrak mindestens an der Lieferung von Rüstungsgütern (wie etwa Schutzwesten und Panzerglas) festzuhalten. Auch die humanitäre Situation im Gaza-Streifen scheint die AfD ihren Bedenken gegenüber einem Erstarken der Hamas unterzuordnen, wie zuletzt eine Befragung im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestags zum UNRWA-Hilfswerk nahezulegen schien.

Dieser Konflikt zeigt sich allerdings nicht nur bei den Rechtsnationalen, wenn er auch dort besondere Aufmerksamkeit bekommt – er droht auch zwischen die amtierenden Regierungsfraktionen einen weiteren Keil zu treiben.

Waffenlieferungen und das Völkerrecht: Die Positionierung der deutschen Regierung

Der Tod des Hamas-Führers "schürt Hoffnung", schreibt die Deutsche Presseagentur. Dass nach der Tötung von Jahia Sinwar, der als maßgeblich verantwortlich für den verachtenswerten Anschlag der Hamas vom 7. Oktober gilt, Frieden in der Region einkehren wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Das scheint auch die Zusage zu weiteren Waffenlieferungen seitens des Bundeskanzlers zu bezeugen.

Denn hinter der großen Ankündigung von Olaf Scholz bahnte sich bereits ein großer Konflikt an, den nicht nur die größte Oppositionspartei als Beweis für ein Regierungsversagen aufnahm.

Der Internationale Strafgerichtshof (IGH) hatte im Juli nach der Klage Nicaraguas eine einstweilige Anordnung verfügt, die vorsieht, dass Deutschland nicht dazu verpflichtet ist, Waffenlieferungen an Israel einzustellen.

In Reaktion auf die "Völkermord"-Klage Südafrikas vor dem IGH hatte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Januar beteuert, dass sie bei den israelischen Streitkräften keine Anzeichen eines solchen Vorgehens erkennen könne.

Dennoch seien laut den jüngsten Ausführungen der erklärten Expertin für Völkerrecht, deren Partei sich vor der Bundestagswahl gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ausgesprochen hatte, die Zusagen an Israel mit der Bedingung verbunden gewesen, das humanitäre Völkerrecht zu achten.

Auf der Oppositionsbank wurden jene Ausführungen Baerbocks allerdings als inakzeptable Begründung für eine Lieferverzögerung aufgenommen. Und das sorgte entsprechend für Empörung.

Eben nicht nur in den Reihen der Union, wo sich Johann Wadephul (CDU) echauffierte, man habe sich mit diesem Vorgehen gegen die neuerliche Zusage an Israel "versündigt", sondern auch von Parlamentspräsident Wolfgang Kubicki (FDP), der darin eine Anmaßung erkannte und meinte, Deutschland blamiere sich aufgrund seiner "historischen Schuld", wenn es in dieser Weise öffentlich Misstrauen gegenüber Israel äußere.

Fadenscheinig wirkt die Begründung der Regierung aber vor allem vor dem Hintergrund der jüngsten Äußerungen des Bundeskanzlers auf dem EU-Gipfel. Dort nannte Kanzler Scholz den jüngsten Beschuss des israelischen Militärs von Mitarbeitern der Hilfsorganisation UNIFIL einen "schweren Verstoß gegen das Völkerrecht".

Ob das (nun doch?) die Entscheidung zu weiteren Waffenlieferungen beeinflussen wird, die die politischen Lager Deutschlands so sehr spaltet, bleibt abzuwarten.