Diderots Traumtagebuch
Seite 3: Traumland
Wie wir gesehen haben, sind viele E2-Artikel Fiktion, Meinung oder purer Nonsens. Für jeden Tag gibt es außerdem ein sogenanntes "Day Log" (Beispiel: 21. Mai 2003), in dem Nutzer ihr Online-Tagebuch führen können. Daneben gibt es auch ein "Dream Log", wo Nutzer ihre Träume aufzeichnen können (Beispiel).
Es wäre falsch, aus diesem Wust an persönlichen Aufzeichnungen zu schließen, es befänden sich keine enzyklopädischen Informationen auf E2. Das System macht es jedoch nicht besonders leicht, diese Texte zu finden. Eine Kategorisierung findet nur nach "Person", "Place", "Idea" und "Thing" statt, Oberverzeichnisse gibt es kaum. Und all die Bewertungen nützen nicht viel, da sie für den Normalbenutzer unsichtbar sind. Selbst wenn man sich registriert hat, kann man die Bewertung eines Artikels erst einsehen, wenn man selbst eine abgegeben hat. Die einzigen offen sichtbaren Bewertungen sind die sogenannten "Chings" oder "Cools", das sind besondere Auszeichnungen, die Nutzer höherer Stufen, Redakteure und Götter vergeben können. Doch diese sind so häufig, dass sie wenig hilfreich sind; auch einige der oben zitierten Texte sind "gecoolt" worden.
Bleibt noch die direkte Suche. Was taugt E2, wenn man nach konkreten Fakteninformationen sucht? Beispiel Homöopathie (Homeopathy): Der entsprechende E2-Node besteht aus sechs Write-Ups, die der Leser für sich zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenfügen muss. Der erste Text ist eine Mini-Zusammenfassung, der zweite erwähnt pro-homöopathische Forschungen zum "Gedächtnis des Wassers", der dritte bezeichnet die Idee als Quatsch und verweist auf die extreme Verdünnung der "Wirksubstanz", der vierte ist ein längerer pro-homöopathischer Text, der seine Haltung damit begründet, ein Placebo könne ja keinen Schaden anrichten und einige Homöopathie-freundliche Websites auflistet (in kleiner Schrift, damit sich niemand über die externen Links beschwert), der fünfte erklärt schließlich mathematisch, warum Homöopathie nicht funktionieren kann, und der sechste ist wieder einmal eine 1913-Webster-Definition (Homöopathie stammt ja aus dem 19. Jahrhundert).
Ähnlich sieht es bei fast allen kontroversen Themen aus. Über "Abortion" gibt es 15 Einträge, die vom Gedicht bis zum ausführlichen philosophischen Essay reichen. Der Text über "Spanking" (das Verhauen des Hinterteils, was in den USA gerne zur "Disziplinierung" von Kindern praktiziert wird, in einigen Bundesstaaten auch noch in Schulen) besteht dagegen aus zwei Benutzereinträgen, von denen der erste Spanking deutlich befürwortet (es gäbe weniger "verwöhnte Gören", wenn Schulen noch ordentlich den Kindern den Hintern versohlen würden; er selbst habe noch vernarbte Haut von einer seiner heftigsten Bestrafungen) und der andere das Thema Kinderbestrafung nur kurz behandelt und sich dann ausführlich über Spanking als Praxis unter Sado-Masochisten auslässt.
Viele Noder tragen in E2 ihre Hausaufgaben ein, so dass man mitunter komplette Essays mit Fußnoten findet (Beispiel: Frankenstein). Die meisten E2-Artikel behandeln jedoch nur einen Teil des jeweiligen Themas und überlassen es anderen Autoren, den Rest zu ergänzen.
Everything but an encyclopedia
Während bei Wikipedia die NPOV-Doktrin (vgl. Alle gegen Brockhaus) dazu führt, dass unterschiedliche Meinungen zu einem Artikel vereint werden und ein Text nicht den Schwerpunkt auf einen bloßen Teilaspekt eines Themas legen darf, gibt es bei E2 kein Neutralitätsgebot. Zweifellos haben die "Noder" Spaß am Schreiben, ob für den Leser aber etwas Brauchbares übrig bleibt, ist von Text zu Text unterschiedlich.
E2 wird niemals eine Enzyklopädie sein, sondern stets nur eine Sammlung von unterschiedlichen Informations-Häppchen über bestimmte Themen. Einzelne Texte mögen es wert sein, referenziert zu werden - sicherlich ist E2 eine gute Quelle für TV-Episodenlisten, Technik-Terminologie und dergleichen. Und wer an Lyrik und Prosa interessiert ist, findet dort täglich neue Inspiration. Als Community ist E2 nur begrenzt zu verstehen, da Diskussionen innerhalb der Nodes rigoros unterbunden werden. Sogar im Chat taucht ab und zu der "Everything Death Borg" auf, der Benutzer rausschmeißt, wenn sie nach Meinung eines der E2-Götter etwas Unangemessenes gesagt haben. Das kann schon einfache Kritik an E2 selbst sein oder die Bitte, einen bestimmten Node anzuschauen.
Das System mit seinen zahlreichen Ebenen, Räumen und Machtstrukturen erinnert stark an Slashdot selbst, wo mit massivsten Moderations-Maßnahmen, Filtern und Bewertungssystemen gegen Trolle und andere unerwünschte Gäste gekämpft wird. Die Macher verstehen sich als Autorität, deren Regeln Folge geleistet werden muss - sonst folgen Konsequenzen. Während bei Wikipedia eine produktive Anarchie "herrscht" und lediglich ab und zu Eigner Jimbo Wales eine Entscheidung verkündet, gibt es bei E2 täglich willkürliche Löschungen, Beförderungen, Herabsetzungen und Drohungen. Alles dreht sich um den Einsatz und den Erwerb von Macht über andere Nutzer. Wer nicht genügend Write-Ups produziert, hat weniger Privilegien und verdient weniger Respekt.
Trotz der Bewertungen geht Quantität vor Qualität. Erst im März 2002 wurde ein komplexes System namens Honor Roll eingeführt, das es Benutzern mit Artikeln sehr hoher Bewertung erlaubt, auch mit weniger Write-Ups zur nächsten Stufe aufzusteigen. Doch lange Artikel mit vielen Fakten und Quellenangaben genießen nicht unbedingt eine hohe Reputation. Es ist zwar nicht möglich, ohne selbst abzustimmen, die Bewertung eines Artikels einzusehen; man kann sich jedoch die Artikel eines einzelnen Benutzers nach Bewertung sortiert anzeigen. In vielen Fällen sind das humorvolle und emotionale Texte, ungewöhnliche Fakten und Anleitungen wie How to win a knife fight. Und selbst Biographien oder beschreibende Texte sind oft nicht enzyklopädisch, sondern streng subjektiv gefasst. Was bei Wikipedia als Patzer gilt - Einschübe wie "bin mir nicht sicher" - ist bei Everything2 die Norm.
Klar: Würde der große Enzyklopädist Denis Diderot heute leben, würde er die Wikipedia als Volksenzyklopädie dem chaotischen Datenhaufen von Everything2 vorziehen. Doch sein Traumtagebuch würde er dort nicht führen können.