Die Angst der Eliten vor der Demokratie
- Die Angst der Eliten vor der Demokratie
- Demokratiepanik
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Man könne "die Demokratie nicht vor dem Volk schützen" warnt der ehemalige Bundesverfassungsverfassungsrichter Peter Müller. Demokratiepanik zielt jedoch genau in diese fatale Richtung. Gastbeitrag.
Die Demokratie sei in Gefahr, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), weswegen nun auch er zu einem breiten Bündnis für Demokratie und gegen Extremismus aufgerufen hat.
Jetzt müsse "die demokratische Mitte, die große Mehrheit unserer Gesellschaft, Position beziehen", denn "wenn unsere Demokratie angegriffen wird, dann ist eine Grenze überschritten, bei der Gegensätze hinten anstehen", sagte er Ende Januar bei einem Treffen mit Gewerkschaften und Arbeitgebern im Schloss Bellevue.
Und er hatte eine weitere wichtige Botschaft:
Wir lassen uns dieses Land nicht von extremistischen Rattenfängern kaputtmachen.
Grimmiger Schlagabtausch: Von Volksverhetzern und Ratten
In der Generaldebatte des Bundestags, die wenige Tage später stattfand, leitete die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel daraus ab, Steinmeier habe die Wähler der AfD als Ratten bezeichnet.
In ihrer Rede wies sie im gleichen Atemzug darauf hin, dass die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Wähler der AfD auf dem Neujahrsempfang der FDP als "Schmeißfliegen" bezeichnet hatte und – was Weidel nicht aufgriff – die AfD als den dazugehörigen "Haufen Scheiße".
Vermutlich zielte Steinmeiers Attacke, im Unterschied zu der Strack-Zimmermanns, nicht direkt darauf ab, die AfD-Wähler als lästige Biester oder niederes Getier abzuwerten. Denn er beabsichtigte wohl eher eine Bezugnahme auf das Märchen der Brüder Grimm vom Rattenfänger von Hameln.
Für die Wähler ist das jedoch kaum weniger schmeichelhaft, da er damit deren Demokratiefähigkeit infrage stellt.
Denn schon seit dem 19. Jahrhundert wird die Sage metaphorisch eingesetzt, um zu sagen, dass es verführerischen Gestalten und Demagogen gelingen kann, die Leichtgläubigkeit, Naivität oder sogar Dummheit der Menschen zu nutzen, um diese irrezuleiten oder zu verführen.
Die aktuelle Bedrohung der Demokratie geht nach Steinmeiers Auffassung demnach offenbar einerseits von den Volksverhetzern, andererseits jedoch von den Bürgern aus, die nicht den Intellekt oder die politische Urteilsfähigkeit mitbringen, um diesen nicht auf den Leim zu gehen.
Wehrhafte Demokratie: Die historische Lehre
Um die, der Steinmeierschen Maxime zufolge, letztlich von den Bürgern ausgehenden Gefahren für die Demokratie eindämmen zu können, hat sich in Deutschland bereits nach dem Ende des Nationalsozialismus das politische Konzept einer wehrhaften Demokratie durchgesetzt.
Im Kampf gegen den Extremismus, so der Bundespräsident in seiner letztjährigen Rede zur Würdigung des 75. Jahrestags des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, gelte folgende historische Lehre, die sich wie ein roter Faden durch den damals erarbeiteten Verfassungsentwurf für die Bundesrepublik Deutschland ziehe:
Eine Demokratie muss wehrhaft sein gegenüber ihren Feinden. Niemals wieder sollen demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen.
Frank-Walter Steinmeier
Und der Gastgeber der Veranstaltung, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ergänzte im gleichen Duktus:
Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit.
Der von Söder und Steinmeiner vorgebrachte Einwand, dass denjenigen, die danach trachten oder im Verdacht stehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuschaffen oder Auffassungen vertreten, die dieser widersprechen, nicht die verfassungsrechtlich gewährten Freiheitsrechte beanspruchen können, ist im Konzept der wehrhaften Demokratie institutionell verankert.
Löwensteins Argument
Einen prägenden Einfluss auf diese politische Konzeption hatte der Verfassungsrechtler Karl Löwenstein. Er argumentierte, der Aufstieg der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik hätte verhindert werden können, wenn man damals weniger Achtung vor demokratischen Rechten gehabt hätte. In einem 1937 veröffentlichten Beitrag1 schrieb er:
Die mangelnde Militanz der Weimarer Republik gegen subversive Bewegungen, auch gegen solche, die eindeutig als subversiv verstanden werden, bildet im Nachkriegsdilemma der Demokratie Beispiel wie Warnung (…).
Es muss offen gesagt werden, dass der Nationalsozialismus von der katastrophalen Erfahrung der Weimarer Republik zu profitieren wusste. Das Einparteiensystem war die logische Antwort auf die demokratische Toleranz der zerstörten Republik.
Karl Löwenstein
Diese Sichtweise ist sehr einseitig, denn zwar war die Verfassung der Weimarer Republik aus dem Jahr 1919 von dem Bestreben geprägt, den Bürgern über die Ausweitung des Wahlrechts und die Rolle des Parlaments deutlich mehr Mitspracherecht zu geben.
Gleichzeitig wurde das Parlament jedoch neuen Restriktionen unterworfen, um die Volkssouveränität zu begrenzen. So legte der erste Artikel der Weimarer Verfassung Deutschland als Republik fest und stellte klar:
Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Weimarer Errungenschaften und die Kehrseite
Erstmalig gab es vollständig demokratische Wahlen, eine nominell unabhängige Justiz, eine freie Presse und – wie in nur wenigen Ländern zuvor – allgemeines Wahlrecht für alle Männer und Frauen über 20 Jahren. Die verschiedenen Artikel der Verfassung schränkten jedoch die zuvor gewährten Rechte wiederum ein, wie etwa der Artikel 118.
Dieser räumt zwar jedem Deutschen das Recht ein, "seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern", allerdings nur "innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze".
Artikel 48 räumte dem Präsidenten weitreichende Befugnisse ein, per Dekret zu entscheiden und Gesetze wie Bürgerrechte für ungültig zu erklären, und zwar "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung".
Von diesen Möglichkeiten, demokratische Rechte zu beschneiden, machte die Weimarer Republik von Beginn an reichlich Gebrauch. So hatte der direkt vom Volk gewählte Präsident die Funktion des Verfassungswächters inne. Er konnte per Erlass regieren und nach Belieben Regierungen entlassen.
Diese Funktion als Wächter der Verfassung nutzte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert als erster Reichspräsident sehr umfangreich, indem er solche Dekrete vielfach einsetzte und auf diesem Weg unter anderem für die Absetzung der rechtmäßig gewählten Regierungen Sachsens und Thüringens sorgte.2
Während des Ruhraufstands 1920 datierte er einen Erlass zurück, der für Verletzungen der öffentlichen Ordnung die Todesstrafe vorsah.
Vom Schatten Hitlers zur Lehre Kelsens
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 – die zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die Wählergunst für die NSDAP bereits ihren Höhepunkt überschritten hatte – durch den damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und der anschließende Schrecken des Nationalsozialismus diskreditierte die Rolle eines Präsidenten als Verfassungswächter jedoch.
Später orientierte man sich daher an den Vorstellungen des Rechtswissenschaftlers Hans Kelsen. Dieser gilt als Architekt der österreichischen Bundesverfassung von 1920, die als eine der ersten Verfassungen überhaupt dem Verfassungsgerichtshof eine herausragende Rolle zuerkannte und diesem auch die Macht gab, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären.
Kelsens Vorstellung eines Verfassungsgerichts als Wächter, das Grundrechte durchsetzen und gesetzliche Bestimmungen für ungültig erklären kann, wurde in Deutschland und später in anderen Ländern übernommen. Denn nach den Erfahrungen des Dritten Reichs war man sich auch weiterhin darin einig, dass das politische System vom Einfluss der Bürger abgeschirmt werden muss.
Notfalls muss die Demokratie demnach sogar mit undemokratischen Mitteln verteidigt werden, wie Steinmeier und Söder auf Herrenchiemsee erklärten, indem man den Feinden der Freiheit die Freiheit verwehrt, so dass "demokratische Freiheitsrechte (…) niemals wieder missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen".
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