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Die Angst der Medien vor der Wahrheit

Soldaten der US-Armee laufen zu Black-Hawk-Hubschraubern, nachdem sie in Albu Issa, Irak, am 12. März 2008 Razzien durchgeführt haben. Bild: Luke Thornberry / CC BY 2.0

Die Parallelen zwischen Ukraine- und Irakkrieg sind frappierend. Zum 20. Jahrestag des US-Überfalls versuchen Journalisten daher, Brandmauern zu "Paria-Putin" zu errichten. Die Kriegserzählungen im Ideologie-Check.

Vor fast exakt zwanzig Jahren, am 19. März 2003, verkündete der Präsident der Vereinigten Staaten George W. Bush der amerikanischen Nation in einer Fernsehansprache [1]:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, in dieser Stunde befinden sich die amerikanischen Streitkräfte und die Koalitionstruppen in der Anfangsphase der militärischen Operationen zur Entwaffnung des Irak, zur Befreiung seines Volkes und zur Verteidigung der Welt vor großen Gefahren.

"Militärische Operation", "Entwaffnung", "Befreiung", "Verteidigung": Es sind Worte, die an den russischen Präsidenten Wladimir Putin 19 Jahre später erinnern, als er die russische "Spezialoperation" in der Ukraine 2022 ankündigte.

Eine Ähnlichkeit, die für westliche Journalisten unangenehm wirken muss. Die USA als Vorbild für die russische Aggression, den "Paria-Putin"? Schauen wir genauer hin.

Die USA starteten mit ihren Verbündeten vor zwei Jahrzehnten einen brutalen Angriffskrieg. Dabei wurde die größte Militärmaschinerie der Weltgeschichte auf ein verarmtes und wehrloses Dritte-Welt-Land losgelassen.

Der Überfall auf den Irak erzeugte nicht nur Hunderttausende zivile Opfer, sondern die größte Flüchtlingskrise der Region in ihrer Geschichte [2]. Ein verheerender Bürgerkrieg wurde zugleich in Gang gesetzt, der letztlich in die von geschassten sunnitischen Generälen unterstützte Terrororganisation ISIS mündete [3], die Terror in der ganzen Levante bis nach Syrien verbreitete.

Das ist ein offen zutage liegender Tatbestand, eine schlichte Wahrheit. Aber die Leitmedien hierzulande sehen sich nicht imstande, den Krieg der USA und seiner Alliierten als das zu benennen, was er ist: ein abscheuliches Kriegsverbrechen, für das alle, die daran entscheidend mitgewirkt haben, zur Verantwortung gezogen werden sollten.

Sicherlich, heute, zwanzig Jahre danach, kann aus sicherer historischer Distanz manches Zugeständnis an die Realität gemacht werden. Einige Medien erinnern sich anlässlich des Jahrestages an Abu Ghraib und die Lügen von den Massenvernichtungswaffen. Aber die alten, propagandistischen Narrative sind weiter am Werk. So schreibt Die Zeit [4]:

Eines der Motive der USA für den Krieg war es, Saddams "Republik der Angst" ein Ende zu setzen.

Natürlich hatte die US-Regierung wohlmeinende Absichten, als sie daran gingen, den Irak dem Erdboden gleichzumachen. Genau so, wie sie zuvor Saddam Hussein bei seinen schlimmsten Verbrechen gegen Kurden und im Iran unterstützten.

Juan Cole hat auf Telepolis eindringlich geschildert [5], wie die USA ab 2003 im Irak ihre eigene "Republik der Angst" installierten, siehe vor allem die schonungslose, fast schon sadistische Auslöschung der Stadt Falludscha.

Im Deutschlandfunk wird währenddessen bedauert, dass der Irak immer noch instabil sei [6]:

Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg der USA-geführten "Koalition der Willigen" gegen den Irak hat das Land noch immer keine dauerhafte Stabilität gefunden. Das liegt auch daran, dass der Irak heute so viele Krisen und Konflikte gleichzeitig bewältigen muss.

Zu diesen Krisen werden Korruption, ethnische Spaltungen, Milizen und IS, Klimakrise und Wasserknappheit gezählt, was im Beitrag dann ausführlich dargelegt wird. Diese Krisen sollen also laut DLF schuld daran sein, dass der Irak zwanzig Jahre später "immer noch keine Stabilität gefunden" hat?

Wie wäre es damit, die Instabilität auf den brutalen Angriffskrieg, die militärische Besatzung, fehlende Aufbauarbeit der Aggressoren und nicht geleistete Reparationen [7] zurückzuführen?

Vorsicht: Unterschiede zum russischen Diktator

Die Rheinische Post verspricht uns eine schonungslose, historischen Abrechnung. Sie nennt den Krieg einen "verlogenen Krieg" [8]. Man bezeichnet ihn sogar als einen "Angriffskrieg" – was eine absolute Seltenheit ist –, der, so der Leitartikel, nur durch das Attentat auf das World Trade Center erklärt werden könne. Denn "Amerika stand unter Schock".

Politikchef Martin Kessler beabsichtigt jedoch nicht, die USA, wie Russland, wegen des "verlogenen Kriegs" zum Paria der Weltgeschichte zu ernennen. Ein paar Zitate aus Kesslers Artikel müssen reichen, um das zu belegen. So schreibt er u.a.:

Tatsächlich waren es Lügen, unkritisch verbreitet von den Massenmedien, um den Krieg damals zu legitimieren.

Natürlich gab es jede Menge Gegenmeinungen, Proteste und Antikriegsstimmen [9]. Es war auch kein Fehlschluss, sondern ein bewusster Aggressionsakt, mit vollem Wissen darüber geplant und ausgeführt, welche Folgen der Krieg bewirken werde.

Der Artikel ist durchzogen von derartiger Copy-And-Paste-Aggressoren-Perspektive, bei der die Opfer Randerscheinung sind, während die USA mit ihren guten Intentionen und Imageverlusten zu Opfern stilisiert werden. Zahlen von Getöteten und Verwundeten usw. liefert Kessler in seiner Abrechnung übrigens nicht.

Auch nicht, was die Iraker:innen über die Invasion dachten. So ergaben Umfragen des Pentagon und des britischen Verteidigungsministeriums [10]: Nur drei Prozent der Iraker glaubten während des US-Kriegs und der Okkupation, dass die USA eine legitime Sicherheitsrolle in der Region spielen.

Nur drei Prozent waren der Meinung, dass die "Koalition der Willigen" gut für ihre Sicherheit sei. 80 Prozent lehnten die Präsenz von Koalitionstruppen in ihrem Land ab. Eine Mehrheit unterstützte sogar Angriffe auf sie.

Es ist die perfekte Beschönigungs- und Normalisierungsformel, eine Art Blankoscheck: Wenn westliche Demokratien wie die USA und ihre Nato-Verbündeten verheerende Angriffskriege führen, sind es im äußersten Fall Verirrungen einer Demokratie im Zuge von "Terrorschocks", Fehlschlüssen und wohlmeinenden Absichten, einen Diktator zu stürzen. Diese Formel gilt aber nur für den Westen und seine befreundeten Länder. Andere haben keinen Anspruch darauf.

Was ebenfalls bis heute mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt wird: die Verantwortung Deutschlands beim Irak-Krieg.

Deutschland hat für die Durchführung des Angriffskriegs ab 2003 die komplette militärische Infrastruktur der Vereinigten Staaten auf deutschem Boden [11] zur Verfügung gestellt, inklusive der für den Einsatz wichtigen US-Militärbasis in Ramstein/Rheinland-Pfalz (mit dem größten Militärkrankenhaus außerhalb der USA), des Africom-Stützpunkts bei Stuttgart ("Afrikanisches Kommando" der USA seit 2007, wie Ramstein zentral für Spezialeinsätze und den globalen Drohnenkrieg) und des Flughafens Leipzig/Halle [12].

Über diesen Flughafen wurde im Verlauf des Irak-Kriegs der militärische Nachschub abgewickelt, weil die Iren ihr Land und ihren Luftraum dafür nicht mehr bereitstellen wollten. Die deutsche Regierung sprang ein. Die US-amerikanische Logistik in Deutschland wird u.a. vom deutschen Steuerzahler mit geschätzt rund einer Milliarde Dollar pro Jahr [13] (so die New York Times) finanziert.

Deutschland ist also mitverantwortlich als Sponsor und Mithelfer beim größten Kriegsverbrechen im 21. Jahrhundert, angeführt von den Vereinigten Staaten.

Medien als integralen Bestandteil des Irak-Kriegs

Und auch die Rolle der Medien bei der Rechtfertigung des Kriegs bleibt unerwähnt. Aus gutem Grund. Ohne die Beihilfe der Leitmedien, vor allem in den USA, wäre der Krieg nicht durchführbar gewesen. Sie sorgten dafür, dass die Bevölkerung und Gesellschaft zumindest passiv blieb und nicht gegen den Angriffskrieg rebellierte. Der Krieg war nämlich insgesamt unpopulär [14]. Je länger er dauerte, umso stärker nahm die Ablehnung zu [15].

Auch in Deutschland sollte keine Anti-USA- sowie Antikriegsstimmung aufkommen. Daher brauchte es einen angemessenen Verstehenshorizont, indem sich das brutale Kriegsverbrechen nicht wie ein Verbrechen anfühlen sollte. Nur ein Beispiel. So versuchte sich das Nachrichtenmagazin Der Spiegel nach Erscheinen der Wikileaks-Pentagon-Protokolle zum Irak-Krieg im Oktober 2010 an einer Erklärung des Scheiterns der Befriedung [16] nach der erfolgreichen Beseitigung des Diktators Saddam Husseins.

Die "letzte verbliebene Supermacht der Welt" habe sich durch die "allgegenwärtige Angst, dass gleich an der nächsten Straßenecke eine weitere Sprengfalle hochgehen könnte" lähmen lassen. "Diese kurzen, nüchternen Protokolle addieren sich zu dem genauen Abbild eines asymmetrischen Kriegs, in dem eine hochgerüstete Supermacht eher hilflos auf dem Schlachtfeld steht und nicht weiß, wie ihr geschieht."

Auf dem Spiegel-Titelbild stand die Überschrift [17]: „Über 100 000 Tote und immer noch kein Frieden. War es das wert?“. Alexander Smoltczyk und Bernhard Zand bilanzierten: Das legitime Ziel, den Tyrannen zu stürzen, wurde durch den Krieg erreicht. Die "Entwaffnung" Saddam Husseins sei jedoch "den Krieg nicht wert" gewesen.

Die USA hätten zudem verzweifelt versucht, dem Irak Menschenrechte zu bringen, aber dieses Ziel sei nur formal in Form von freien Wahlen, Meinungsfreiheit usw. erreicht worden. "Der Plan, im Irak einen Brückenkopf der Demokratie im Nahen Osten zu errichten" sei darüber hinaus trotz einiger Erfolge vor allem durch den Einfluss des Irans zunichtegemacht worden.

Amerika könnte mit seinem "Sachverstand über den Nahen Osten, den es schon damals hatte, aber auf seinem überstürzten Weg nach Bagdad so fahrlässig zur Seite wischte", einen neuen Anfang im Irak machen. Aber dem "Demokrat und Menschenrechtler Barack Obama" höre heute keiner mehr zu, wenn er über "Demokratie und Menschenrechte spricht".

"Der Irak-Krieg kam zum falschen Zeitpunkt, er kam mit falschen Gründen, er hat katastrophale Folgen. Vieles davon konnte man vorher wissen. Deshalb war es ein dummer Krieg", resümiert der Spiegel.

Im Klartext: Ein "dummer Krieg" mit hehren Idealen gefochten, gescheitert im Wüstensand und Häuserkampf. Ein klassisches Erklärmuster, wenn Kriege die erwünschte Wirkung, Kontrolle über eine als wichtig erachtete Region zu erhalten, nicht erbringen wollen.

Die Amerikaner, "Hauptakteure in diesem Krieg – als Täter und als Opfer", so der Spiegel, seien immer tiefer in einen blutigen Bürgerkrieg hineingezogen worden, hätten durch "Nervosität" an Checkpoints, permanente "Hinterhalte" des Gegners auch überreagiert.

Bei den "katastrophalen Folgen" hielt sich der Spiegel nicht lange auf. Er listete einige "Irrtümer" und Tragödien des US-Militärs, wie man sie in den Pentagon-Dokumenten fand, auf, bei denen zivile Opfer zu beklagen waren. Ihnen stellte man die Morde an GIs gegenüber, die heimtückisch aus dem Hinterhalt begangen wurden.

Der Spiegel bot derart ein "ausgewogenes" Opfer-Resümee nach dem Motto: Sowohl die USA als auch der Irak hatten Federn gelassen. Dass die Krebsrate und Kindersterblichkeit in der irakischen Stadt Falludscha nach dem gnadenlosen Beschuss des britischen und US-Militärs, vermutlich verursacht durch massiven Gebrauch von Uranmunition und weißem Phosphor, höher liegt als in Hiroshima und Nagasaki [18] nach dem Atombombenabwurf 1945 und Mütter dort verstümmelte und entstellte Kinder gebären, gehörte nicht in diese oder andere Irak-Bilanzen.

Ebenso nicht die Tatsache, dass zwei renommierte Opferstudien der Johns Hopkins University in Washington D.C. und des angesehenen britischen Meinungsforschungsinstituts "Opinion Research Business" (ORB) 2006 und 2008 schon weit höhere Opferzahlen dokumentierten, als der Spiegel Ende 2010 mit Bezug auf die Pentagon-Protokolle suggerierte.

Die Forscher der Johns Hopkins University errechneten aus repräsentativen Untersuchungen vor Ort, im angesehenen britischen Medizinjournal Lancet peer-reviewed erschienen, dass 601.027 Iraker [19], größtenteils Zivilisten, zwischen März 2003 und Juli 2006 im Krieg gewaltsam getötet wurden. ORB kam 2008 auf Grundlage von repräsentativen Umfragen irakischer Haushalte auf eine Opferzahl von rund einer Million Iraker als Folge des Kriegs [20].

Wie viele US-amerikanische Zivilisten wurden von Irakern demgegenüber getötet? Welche Schäden erlitten San Francisco, Washington D.C. oder Boston durch irakisches Militär? Soviel zur ausgewogenen Opfer-Arithmetik des Spiegels.

Die Medien haben bis heute Angst vor der Wahrheit, weil sie selbst zu einem integralen Bestandteil des Irak-Kriegs geworden sind – wie auch bei den anderen westlichen Kriegsmärchen [21]. Sie haben weggeschaut und gerechtfertigt – und tun es weiter, mit wenigen Abstrichen. Zugleich operieren sie auf offener Bühne mit doppelten Standards.

Sie erklären Russland unisono zum Paria der Weltgeschichte, während sie das globale Großverbrechen der USA zum 20. Jahrestag wegschwurbeln – wie auch viele andere Verbrechen, die bis heute andauern, siehe den Drohnenkrieg. Sie fordern ein Sondertribunal für die russischen Kriegsverbrechen. Und für die Kriegsverbrecher und Kriegsverbrecherinnen zu Hause heißt es: Schwamm drüber.

Sicherlich, für Kritiker:innen dieser Heuchelei gibt es Gegenmittel: "Whataboutism" zum Beispiel. Aber niemand zwingt uns, die irrationale und zynische Haltung einzunehmen und wegzuschauen, wenn es uns betrifft.


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https://www.heise.de/-7548635

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=EjARcMqFRBg
[2] https://www.telepolis.de/features/Vor-zwanzig-Jahren-als-die-USA-Putin-waren-7546965.html
[3] http://www.kontext-tv.de/de/sendungen/der-komplizierte-syrienkrieg-der-und-das-terrorzuechtungsprogramm-der-usa
[4] https://www.zeit.de/2023/12/irak-krieg-abu-ghuraib-folter-gefaengnis-us-armee/komplettansicht
[5] https://www.telepolis.de/features/Vor-zwanzig-Jahren-als-die-USA-Putin-waren-7546965.html
[6] https://www.deutschlandfunk.de/aktuelle-lage-irak-krieg-folgen-100.html
[7] https://www.commondreams.org/news/iraq-war-reparations-20-years
[8] https://rp-online.de/politik/analyse-und-meinung/20-jahre-angriff-auf-irak-der-verlogene-krieg-der-usa_aid-86339569
[9] https://www.history.com/this-day-in-history/millions-protest-iraq-war-february-15
[10] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/mepo.12157
[11] https://www.democracynow.org/2008/12/12/us_use_of_bases_in_germany
[12] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Standorte/leipzig3.html
[13] https://www.nytimes.com/2004/06/14/opinion/military-bases-in-germany.html
[14] https://web.archive.org/web/20060303233436/http://washingtontimes.com/upi-breaking/20040820-115103-7559r.htm
[15] https://www.nytimes.com/2007/05/25/washington/25view.html
[16] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74735248.html
[17] https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2010-43.html
[18] http://www.democracynow.org/2010/7/29/patrick_cockburn_on_missing_billions_in
[19] https://www.nytimes.com/2006/10/11/world/middleeast/11casualties.html?_r=0
[20] http://www.reuters.com/article/2008/01/30/us-iraq-deaths-survey-idUSL3048857920080130
[21] https://www.hintergrund.de/magazin/heft-42014/