Die Angst der Parteien vor dem Wahlvolk
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Demokratische Wahlen gelten bei etablierten Parteien zunehmend als riskant, weshalb man Zweifel am Wahlvolk schürt und dessen Einfluss begrenzt. Gastbeitrag.
Die diesjährigen Ergebnisse der Europawahlen wie auch der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sind für die Antipopulisten von der Linken bis zur CDU/CSU harte Kost. Bei durchweg hoher Wahlbeteiligung sind SPD (außer in Brandenburg), Grüne und FDP von den Wählern regelrecht abgestraft worden.
Bei den Europawahlen machte nicht einmal mehr jeder dritte Wähler ein Kreuz für die Regierungsparteien. In keinem der drei ostdeutschen Länderparlamente ist die FDP nun noch vertreten, die Grünen haben nur in Sachsen mit gerade einmal 5,1 Prozent den Einzug in den Landtag geschafft und die SPD konnte in Thüringen und Sachsen mit 6,1 bzw. 7,3 Prozent froh sein, die Fünf-Prozent Hürde geschafft zu haben.
Vom Debakel der Regierungsparteien können jedoch weder die Antipopulisten von CDU/CSU noch die Linke profitieren. Während es der CDU/CSU bei den vier Wahlen gerade so eben gelang, die Stimmenanteile im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren in etwa zu halten (in Brandenburg nicht einmal dies), haben die Wähler den Stimmenanteil der Linken durchweg um über die Hälfte geschrumpft, bei der Europawahl auf nur noch 2,7 Prozent.
In den ostdeutschen Bundesländern mit Ausnahme Berlins erreichen die Rechts- und Linkspopulisten von AfD und BSW zusammengenommen inzwischen knapp die Hälfte der Wählerstimmen.
Ungnädige Wahlverlierer
Auf diese Zurückweisung reagieren die Antipopulisten jedoch weder mit Demut noch mit erkennbaren oder gar grundlegenden Veränderungen ihres Politikangebots. So streben die Grünen, die mit dem angekündigten Rücktritt ihres Bundesvorstandes bisher wohl am deutlichsten reagiert haben, nicht etwa inhaltliche Veränderungen an, sondern setzen auf ein Facelift.
Nach den Worten der noch amtierenden Co-Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang, gehe es nun darum, "neue Gesichter" zu präsentieren, die die Partei aus ihrer "tiefsten Krise" seit einer Dekade herausführen.
Typisch sind auch die überheblichen Reaktionen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), die ihrerseits auf der Richtigkeit ihrer politischen Linie bestehen.
Obwohl sie sich damit sogar immer deutlicher gegen die Wählermeinung stellen, geben sie sich überzeugt, dass es ihnen dennoch irgendwie gelingen könne, im nächsten Jahr Bundeskanzler zu werden.
Zwar sind die etablierten Parteien nicht immun gegenüber der Wählermeinung und können sich – jedenfalls in einer Demokratie - nicht dauerhaft darüber hinwegsetzen. Letztlich sind sie geerdet, da sie Mehrheiten benötigen, um regieren zu können.
Im Zuge des aufstrebenden Populismus und der damit verbundenen Schwierigkeiten, die eigenen Narrative durchzusetzen und zu etablieren, reagieren sie jedoch ihrerseits – in einer Mischung aus Frust und politischem Kalkül – auf ihre eigene Zurückweisung durch die Wähler, indem sie deren Votum infrage stellen und abwerten.
In einer Situation – in der den etablierten Parteien jedenfalls in den ostdeutschen Bundesländern die politische Kontrolle zu entgleiten droht – zielen sie auf die moralische Abwertung der Wähler, um es legitim oder zur Rettung der Demokratie sogar notwendig erscheinen zu lassen, den Einfluss der Wähler und den ihrer populistischen Repräsentanten auf den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess weitestmöglich einzudämmen und abzuwehren.
Delegitimierung des Wählervotums
Die Attacken zur Aushöhlung der moralischen Integrität der Wähler haben in den vergangenen Monaten eine neue Stufe erreicht. So ist es inzwischen nicht mehr nur opportun, die von den Bürgern gewählten AfD-Abgeordneten im Bundestag als Feinde der Demokratie zu beschimpfen, um deren Wählern einzutrichtern, dass sie mit ihrer Wahl gegen die Demokratie votieren.
In der Elefantenrunde am Wahlabend nach der für SPD, Grüne und FDP gleichermaßen verheerenden Europawahl eskalierte der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil die Gangart gegenüber der AfD, indem er die Partei und deren Bundesvorsitzende Alice Weidel als "Nazis" bezeichnete.
Diesen Vorwurf verteidigte er am Tag darauf und fügte noch hinzu, dass man die AfD – in der "SS-Rhetorik geschwungen" werde – "nicht wie eine normale demokratische Partei behandeln dürfe".
Kurz nach Klingbeils Attacke schaltete auch der EVP-Parteivorsitzende und Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber, einen Gang rauf. "Wir werden Europa gegen die Neonazis der AfD verteidigen", sagte der CSU-Politiker im ZDF.
Seit der Zurückweisung der Wähler in den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen – wo sich nur noch etwa jeder zehnte Wähler dazu durchringen konnte, entweder SPD, FDP oder Grüne zu wählen – reagieren vor allem SPD und Grüne mit verschärften Angriffen auf die Wähler.
Das Wahlergebnis sei ähnlich wie die Europawahl, die die Grünen als "demokratische Katastrophe" bezeichneten, "eine demokratische Zäsur" – ganz so als sei die Wahl nicht etwa eine demokratische Abstimmung gewesen, sondern eine Abstimmung über die Demokratie.
Erstmals in der Geschichte der BRD hätten die Wähler (in Thüringen) eine "rechtsextremistische, demokratiefeindliche Partei" zur stärksten Kraft in einem Landesparlament gemacht.
Verbotsantrag des Bundestages gegen die AfD
Um den fehlgeleiteten Wählern einen Riegel vorzuschieben, streben nun insgesamt 37 Bundestagsabgeordnete von SPD, Union, Grünen und Linken einen Verbotsantrag des Bundestages gegen die AfD an, um ein Verbot der Partei durch das Bundesverfassungsgericht zu erwirken.
Die Abgeordneten werfen der AfD in ihrem Antrag vor, die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen zu wollen und gegenüber dieser Grundordnung eine "aktiv kämpferisch-aggressive Haltung" einzunehmen.
Der noch Grünen-Chef Nouripour befürwortet ein Verbotsverfahren, denn alleine das, was an öffentlicher Beweislast gegen die AfD vorliege, sei "erdrückend groß". Nouripour weiter:
Eine wehrhafte Demokratie kann ihrer eigenen Zersetzung durch Antidemokraten nicht folgenlos zuschauen.
Die Tatsache, dass die AfD bei Wahlen inzwischen in allen Bundesländern stabil zweistellige Anteile der Wählerstimmen erreicht und der Wählerzuspruch in den ostdeutschen Bundesländern ebenfalls stabil bei sogar etwa 30 Prozent liegt, gilt vielen Antipopulisten als Beleg für eine qualitativ zunehmende Bedrohung der Demokratie.
Denn nun zeige sich, so Anton Hofreiter (Grüne), Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, dass die AfD-Wähler nicht mehr unzufriedene "singuläre Protestwähler" seien, sondern dass "etwa zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler der AfD es einfach für richtig finden, was die AfD sagt".
"Verfestigtes rechtsradikales Weltbild"
Daraus leitete er mit Verweis auf die Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ab, dass ein "erheblicher Teil" der AfD-Wähler über ein verfestigtes rechtsradikales Weltbild verfüge.
Zwar geht es den etablierten Parteien in erster Linie um die Delegitimierung des Wählervotums für die populistischen Parteien und dabei insbesondere der AfD. Die Angriffe auf die Wähler stellen jedoch ganz generell deren Rolle als demokratischer Souverän einer funktionierenden Demokratie infrage, denn sie nähren Zweifel an der moralischen Integrität und am intellektuellen Niveau einfacher Bürger.
So bewertet Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Leichtgläubigkeit und Naivität der Bürger als so schwerwiegend, dass sie ihnen nicht zutraut, diese Schwächen durch gesunden Menschenverstand, den geistigen Austausch mit anderen und eine hinreichende moralische Fundierung zu kompensieren.
Daher führt sie im Namen der Bundesregierung seit dem Beginn ihrer Amtszeit einen virulenten Kampf gegen "Desinformation" sowie "Hass und Hetze" – wie auch die EU-Kommission.
Da Faeser die Bürger offenbar nicht dazu imstande sieht, sich unabhängig von irgendwelcher Bevormundung die eigene Meinung zu bilden, zielt sie darauf ab, Meinungsäußerungen zu unterbinden, um die Bürger vor Einflüssen zu schützen, die ihnen angeblich mehr schaden, als sie ihnen nützen könnten.
Wie steht es um eine offene Debatte?
Aufgrund der Geringschätzung der moralischen und geistigen Kapazitäten einfacher Bürger erscheinen offene Debatten und politischer Streit nicht mehr als elementare Grundlage, sondern sogar als Gefahr für die Demokratie.
Auf der Basis bewusst schwammig gehaltener Begriffe wie "Hass und Hetze" werden längst in großem Stil Meinungsäußerungen unterbunden, die durch das vom Grundgesetz geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind.
Ganz im Duktus Faesers analysierte Bundeaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach den Landtagswahlen, am Wahlergebnis des BSW sei zu erkennen, wie sehr bei den Wählern die "russische Propaganda verfängt".
Deutschland riskiere seine Sicherheit, wenn die Bürger Parteien wie das BSW wählen, "die autokratischem Denken näherstehen, als unserem deutschen Grundgesetz".
Die verlorene Europawahl hatte Baerbock damit erklärt, dass die Bürger kaum verstünden, dass "unsere Welt (…) komplex" sei und sie daher – zumal in Zeiten von Veränderung und Verunsicherung – einfache Antworten suchten, die der "Populismus bietet".