Die Angst vor "den Roten"
Wie verhindert wird, dass die wichtigen Systemfragen gestellt werden
Bei ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag hat Angela Merkel für einen Kanzler Armin Laschet geworben und ausdrücklich vor einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei gewarnt [1] ("Ich sag ja nur die Wahrheit"). Damit stimmt sie in die Kampagne der Union ein, deren Attacken auf die SPD und die Grünen im Hinblick auf mögliche Koalitionen zunehmen.
Das Kalkül ist klar. Es soll das dunkelrote Angstbild einer linksradikalen, unverlässlichen Partei beschworen werden, die mit ihrer Politik die Stabilität unserer Gesellschaft gefährdet. Olaf Scholz erscheint dabei als Agent eines Linksrucks, der lediglich als Marionette der Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans agiert. Der linke Flügel um Kevin Kühnert hat in dieser Theatervorstellung das Sagen in der Partei - darauf spielt Laschet an, wenn er in derselben Bundestagssitzung sagt, man könne nicht mit der Raute durch die Gegend laufen und reden wie Saskia Esken [2].
Es wird suggeriert, dass unter dem bürgerlichen Mantel von Scholz die wahren, die radikalen Kräfte der Sozialdemokraten lauern, die bereits einen Pakt mit der Linkspartei geschlossen hätten. Dieses Schauspiel ist keine wirkliche politische Debatte, die es entlang von Sachthemen zu führen gelte. Auch wenn immer wieder betont wird, dass es doch um die Systemfrage gehe.
Die Ironie an diesem Argument: Die Aggressionen der Union führen gerade dazu, dass die Systemfrage nicht wirklich gestellt werden kann. So bleibt es bei einer strategischen Kampagne. Da unter dem derzeitig aufgesplitterten Parteiensystem ohnehin keine Partei mehr die Chance hat, mit deutlicher Mehrheit eine Regierung anzuführen, geschweige denn die alleinige Mehrheit zu erreichen, sollen nun unliebsame Optionen auf diesem Wege verunmöglicht werden.
Dieses Schüren von Ängsten vor den "Roten" zielt auf politisch ausgiebig gepflegte Affekte bei den Wählerinnen und Wählern, die Mobilisierung antikommunistischer Haltungen. Und die Medien führen dieses Stück bereitwillig mit auf.
In allen Talkshows des Landes wurde diese Frage nach den Koalitionen aufs Parkett geholt. Auch bei Markus Lanz wurde das Marionettentheater neu aufgeführt [3]. Lanz ging dabei sehr weit. Er löcherte den Hamburger SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher, dem Nachfolger von Olaf Scholz auf diesem Posten, derart penetrant, dass von einer objektiv kritischen Gesprächsführung kaum mehr die Rede sein konnte.
Da wird an vielen Stellen gehörig am Schreckensbild mitgezeichnet.
Vom ideologischen Unbehagen
Das große Unbehagen gegenüber der Linken ist ein ideologisches. Die FAZ-Korrespondentin Helene Bubrowski hat den Kern dieser ideologischen Angst in einem ihrer Redebeiträge bei Anne Will [4] freigelegt. Sie appellierte mit großer Vehemenz an die Einhaltung der ökonomischen Vernunft und erinnerte daran, dass Deutschland ja immer noch eine Marktwirtschaft [5] sei.
Die Pläne der Linken sind laut Bubrowski in ihrer planwirtschaftlichen Ausrichtung dazu gar nicht kompatibel. Folglich sei das Staatsverständnis der Linkspartei doch mindestens bedenklich, wenn sie dem Staat ein derartiges Durchgriffsrecht zugestehe. Die Frage mit der Enteignung, wie sie sich derzeit in Berlin gestellt wird, wollte Bubrowski nur am Rande erwähnen.
Über all diese Punkte könnte man auf einer sachlichen Ebene diskutieren. Frau Bubrowski aber malte in grellen Farben den Teufel einer planwirtschaftlichen Umstrukturierung der gesamten Wirtschaft an die Wand. All das klingt in den Ohren vieler Bürgerinnen und Bürger sofort nach DDR und Revolution.
Alternative finanz- und wirtschaftspolitische Lösungen, die als Antwort auf Kinderarmut, Klimakrise und Wohnungsmarkt gesehen werden können, werden mit einer abschätzigen Geste vom Tisch gewischt. Selbstverständlich wird ein System aufgerufen, das als freie Marktwirtschaft benannt, immer schon positiv konnotiert ist.
Diese umstandslose Rationalisierung des Marktes ist indessen vor allem in Zeiten eines entfesselten Finanzkapitalismus ein großes Problem. Wenn Dirk Kurbjuweit im Spiegel konstatiert, dass sich Merkel im Zuge der Finanzkrise einem Diskurs über die tieferen Ursachen verweigert hat, dann weist diese Feststellung bis in die Gegenwart der hier diskutierten Debatte.
Bloß nicht unter die Oberfläche schauen
Denn auch Union und FDP verweigern den Blick in die Tiefe vehement. Die Finanzkrise von 2008? Vergessen. Die Eurokrise mit ihren Spardiktaten ebenso. Es soll doch bitte schön mit den vertrauten Werkzeugen weiter gearbeitet werden. Das war vorher doch auch möglich. Dass uns damit die Krise überhaupt erst eingebrockt wurde? Geschenkt! Der Markt wird die Lösungen schon liefern. Man müsse ihn, so Laschet, nur entfesseln [6]. Das klingt schon verdächtig nach weiteren Deregulierungen.
Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat in seinem scharfsinnigen Buch Kapital und Ressentiment [7] diese selbstabdichtenden Mechanismen des Marktes herausgearbeitet und zu einem düsteren Tableau zusammengefügt. Diese Lektüre macht deutlich, vor welchen Dimensionen der Tiefe hier die Augen verschlossen werden sollen:
Moderne Markt- und Wirtschaftsgesellschaften sind nicht irgendwann "postdemokratisch" geworden, ihr Grundriss und ihre Architektur waren seit jeher durch die Beschränkung volkssouveräner und demokratischer Spielräume definiert. Die Wirklichkeit ‹marktkonformer› oder ‹liberaler› Demokratien besteht in der marktförmigen Beschlagnahme oder Einbettung ihrer Einrichtungen und Subjekte. (…) Die sogenannte Marktdisziplin ist zu einem grundlegenden Kriterium der Politik geworden und hat das Interventionsvermögen des Finanzregimes verschärft.
Joseph Vogl, Kapital und Ressentiment
Es ist also beileibe nicht ausgemacht, dass der Markt ein unschuldiger Ort des Warenaustausches ist. Vielmehr greifen Lobbygruppen, Finanzdienstleister und Ratingagenturen tief in politische Geschäfte [8] mit ein. Das starre Festhalten an der schwarzen Null ist dafür symptomatisch. Vogls Analyse lässt kaum einen anderen Schluss zu.
Die bisherigen Regulierungen sollten nur bedingt zu einer Eindämmung der negativen Auswüchse des Marktes beitragen, weil der Markt mittlerweile alles durchdringt. An einer Verbindung von Marktwirtschaft und planwirtschaftlichen Elementen, um alternative Weisen des Wirtschaftens auszutesten, besteht wenig Interesse. Genau dieses Experiment will die Linkspartei wagen.
Das fatale Ausbleiben einer Diskussion solcher Ideen, die fragwürdige Verengung des politischen Denkraums, hat der Philosoph Axel Honneth bereits vor einigen Wochen in einem umfangreichen Text in der Wochenzeitung Die Zeit kritisiert und damit den Finger in die Wunde gelegt. Nur scheint diese Wunde kaum jemanden in der Politik zu schmerzen.
Die Fehler der Linken
Man muss jedoch fair bleiben. Trotz eines nie zuvor da gewesen Willens des Spitzenpersonals zum Regieren, tut die Linkspartei selbst eine Menge dafür, immer genug Angriffsfläche zu bieten. Das erratische Abstimmungsverhalten der Linksfraktion im Bundestag zum Mandat für den Rettungseinsatz in Afghanistan kam einer Einladung zur Abgrenzung gleich (vgl. Die Linke und Afghanistan: Friedenspolitik am Pissoir [9]).
Weder Janine Wissler noch Dietmar Bartsch ist es bisher gelungen, diesen Elefanten vom Eis zu ziehen. In der Auswirkung entsteht bei den Wählerinnen und Wählern ein katastrophaler Eindruck, den nicht nur die CDU/CSU mit größter Genugtuung abschöpft. Auch die SPD und die Grünen stehen vor der schwierigen Aufgabe, ein Bündnis mit einer solchen Linken vor einem Teil der Wählerinnen und Wähler zu rechtfertigen.
Dabei mag es richtig sein, dass das Mandat zeitlich zu kurz und in Bezug auf den zu evakuierenden Personenkreis zu ungenau gewesen ist. Darauf hinzuweisen werden Wissler und Bartsch nicht müde. Doch dieser Kritik ausgerechnet mit Enthaltungen (und auch Nein-Stimmen) Ausdruck verleihen zu wollen, zeugt nicht von verantwortungsbewusster Politik, zu der auch immer die Einberechnung der Außenwirkung dazugehört.
Die Möglichkeit hätte bestanden, sich geschlossen hinter das Mandat zu stellen und darüber hinaus weitere Maßnahmen zu fordern. Um die Sache abzukürzen: Die Unterstützung des Mandats hätte ein starkes Signal der Verlässlichkeit sein können.
Vieles deutet darauf hin, dass es der Linken vor allem um die Wahrung einer kohärenten Position nach innen, also gegenüber ihren Mitgliedern gegangen ist. Dem parteiinternen Markenkern der radikalpazifistischen Opposition entspricht man unter Genossen nur allzu gern. Wenn damit die Chancen auf eine politische Umsetzung der eigenen Ziele torpediert werden? Egal. Die eigene Identität ist heilig.
Abgesehen von der Afghanistan-Abstimmung tut sich die Partei sicherlich auch keinen Gefallen, wenn Dietmar Bartsch in der Sendung bei Markus Lanz darauf pocht, dass die einzige linke Kraft im Land die Linkspartei sei. Er wehrt sich damit gegen die Bezeichnung von Rot-Rot-Grün als Linksbündnis. Die Grünen und die SPD würden die Mitte bedienen, so der Standpunkt des linken Spitzenkandidaten.
Abgrenzungsrhetorik und Progressive
Eine solche Abgrenzungsrhetorik gegenüber des erweiterten politisch linken Spektrums ist nur ein weiteres Einfalltor für die Attacken der Union und treibt die möglichen Partner in die Distanz. Dabei stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob ein solches Einziehen einer Mitte überhaupt für Orientierung sorgt.
Hält man sich die massiven Bedrohungen der Zukunft vor Augen, so läge nichts näher, als sich des Begriffs des "Progressiven" zu bedienen. Unter diesem könnten sich auch außerparlamentarische Kräfte wie Fridays for Future versammeln. Statt einer antagonistischen Abgrenzung wäre eine nachhaltige Ausgangslage für eine gemeinsame Arbeit an der Zukunft eröffnet.
Denn eine progressive Haltung zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass die realen Probleme nüchtern analysiert und neue Lösungen gesucht werden, die zu einer besseren Gesellschaft führen. Mit der Betonung einer strengen und letztlich wahren linken Identität stellt sich die Linkspartei selbst ein Bein.
Über neue Weisen des wirtschaftlichen Handelns nachzudenken, diese Gedankenspiele in der breiten Debatte im Wahlkampf zuzulassen, statt über die Bande einer phantasmagorischen Angst vor einem Linksruck die Diskussion von wirklichen Visionen zu verhindern - darin läge insgesamt die politische Verantwortung aller Parteien.
Nur scheinen letztlich auch SPD, die Grünen und die Linkspartei daran kein großes Interesse zu haben. Jeder müsse zunächst auf sich schauen, das beste Ergebnis holen und dann die Machtchancen ausloten, so schallt es aus allen Parteizentralen.
Bei den Koalitionsverhandlungen sind keine Wähler mehr dabei
Das Problem ist nur, dass die Wählerinnen und Wähler bei den Koalitionsverhandlungen gar nicht mehr wirklich partizipieren. Am Ende gibt es einen Vertrag, der von den Parteien und ihren jeweiligen Führungen (mit Urabstimmung oder nicht) ausgehandelt wurde. Was am Ende von den großen Ideen bleibt, ist fraglich.
Aber um für einen letzten Absatz bei der Angst vor dem "linken Wahnsinn" zu verweilen. In Thüringen hat die Linke bewiesen, dass sie vernünftig und mit Weitsicht regieren kann. Problematische Strömungen gibt es in jeder Partei, siehe Hans-Georg Maaßen aufseiten der Union. Es kommt darauf an, die richtigen Leute für eine gemeinsame Arbeit ins Boot zu holen. Und wenn es um die großen Differenzen Nato und Friedenspolitik geht, da dürfte auch der Linken klar sein, dass diese Projekte nur auf ganz lange Sicht und mit ganz viel Pragmatik realisierbar wären.
Eine rot-rot-grüne Koalition muss es nicht geben. So wie die Dinge derzeit stehen, wird offen verhandelt werden müssen. Eine Chance angesichts der massiven Umbrüche, die uns bevorstehen, wäre ein Linksbündnis allemal. Bis dahin kann man sich nur eine Debatte wünschen, die sich mehr an den Themen abarbeitet, statt Ausflüchte in Diffamierungen und abstrakten Kampagnen zu suchen.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=lhZ3-eEuO5Y
[2] https://www.welt.de/politik/bundestagswahl/article233640047/Laschet-attackiert-im-Bundestag-erst-Scholz-und-dann-Baerbock.html
[3] https://www.youtube.com/watch?v=GTKwlh-u8EQ
[4] https://daserste.ndr.de/annewill/videos/Mindestlohn-Reichensteuer-Schuldenbremse-steht-Deutschland-vor-einer-Richtungswahl,annewill7094.html
[5] https://www.youtube.com/watch?v=zFlbgTCuVNM
[6] https://www.welt.de/wirtschaft/plus233491146/Armin-Laschet-verspricht-Friedrich-Merz-wichtigen-Regierungsposten.html
[7] https://www.chbeck.de/vogl-kapitalismus-ressentiment/product/32045602
[8] https://www.heise.de/tp/features/Gekaufte-Politiker-Korruption-und-Lobbyismus-in-Deutschland-6188484.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-und-Afghanistan-Friedenspolitik-am-Pissoir-6172662.html
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