"Die Atempause": Eine Odyssee durch die Trümmer der Menschheit
Stacheldraht-Umzäunung in der Nähe der Einfahrt in das Konzentrationslager Auschwitz. Bild: Pimke / CC BY 2.5 PL Deed
Primo Levis Buch über die Befreiung aus dem KZ Auschwitz und die Zeit danach als tiefgründige Reflexion über Krieg, Überleben und Menschlichkeit.
Aus Anlass des 80. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz lese ich Primo Levis Bericht über seine Befreiung aus diesem Lager.
"Die Atempause" beginnt damit, dass vier junge Sowjetsoldaten sich zu Pferd dem Lager nähern, am Stacheldraht anhalten und "von seltsamer Befangenheit gebannt, auf die durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf die wenigen Lebenden" blickten.
Wenig später verlässt Levi in Gesellschaft eines Griechen, den er in diesen Tagen der Auflösung und des Umbruchs kennengelernt hat, das Lager und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise durch verwüstete Landschaften, die ihn zurück nach Italien führen soll.
Ab und zu verkehren Züge, aber niemand weiß, wohin sie fahren. Manchmal stehen sie stundenlang in irgendeinem Niemandsland. Die Insassen ernähren sich von Pilzen und Beeren und dem, was sie auf ihren Streifzügen finden oder von freundlichen Menschen geschenkt bekommen.
Wie und was Primo Levi von den Begegnungen auf dieser neun Monate währenden Odyssee erzählt, ist atemberaubend.
Was der Krieg aus und mit Menschen macht
Sein Bericht ist eine ethnologische Studie darüber, was der Krieg aus und mit Menschen macht und wie schwer es ihnen fällt, aus der Verwilderung wieder in ein halbwegs geordnetes Leben zurückzufinden. Mitunter hat Levi in dem bunten Menschengewirr das Gefühl, Teil eines gigantischen Wanderzirkus‘ zu sein.
Seine wichtigsten Überlebensmittel sind seine präzise Beobachtungsgabe und sein Humor, der ihn selbst in scheinbar ausweglosen Situationen nicht verlässt.
Die "Atempause" bezieht sich auf ein eigenartiges Interregnum: Der Krieg ist zwar vorbei, aber es ist auch noch kein wirklicher Friede. In einem der vielen Züge trifft er auf zwei junge Frauen aus Minsk.
"Jeden Tag neu zu leben"
Ihre Mutter war gestorben, der Vater vom Krieg weg- und irgendwohin gerissen worden. Sie hatten gelernt, "jeden Tag neu zu leben, mit einem einzigen Köfferchen durch Kontinente zu reisen, wie die Vögel unter dem Himmel, sie nicht säen, nicht ernten und sich um das Morgen nicht kümmern".
Der Wind wehte sie hin und her. Alle waren den Launen eines "fernen, unbekannten und wetterwendischen Schicksals ausgeliefert, dessen Symbol die Räder schienen, die sie und uns trugen, in der sinnlosen Perfektion des Kreises, ohne Anfang und ohne Ende."
So schnell, wie man sich begegnet und kennenlernt, trennt man sich auch wieder und jeder geht seines Weges, von dem er hofft, dass er ihn eines Tages nach Hause führt. Mitunter blieb ein Zug irgendwo einfach stehen, Manchmal für Stunden, manchmal auch für Tage.
Levi und seine Mitfahrer landen eines Tages auf einem ehemaligen Exerzierplatz.
Unter der sengenden Sonne des heißen russischen Sommers spielte sich das Leben hauptsächlich auf diesem Platz ab: man schlief, entlauste sich, stopfte seine Kleider, kochte auf primitiven Feuerstellen, manche aktivere Gruppen spielten Ball oder kegelten und belebten so das Bild.
Immer wieder trifft Levi auch auf Menschen, die sich ihre Menschlichkeit durch die wirren Zeitläufte bewahrt haben und zu Akten der Solidarität in der Lage sind. Sie springen anderen, deren Not groß ist, bei und helfen selbstlos und manchmal sogar mit Freude. Levi spricht von der "biblischen Gastfreundschaft der Bauern".
In einem das Beste, in einem anderen das Schlimmste und Schlechteste
Je nach individueller Vorgeschichte und Prägung wecken vergleichbare äußere Umstände in dem einen Menschen das Beste, in einem anderen das Schlimmste und Schlechteste.
Irgendwo auf seiner Irrfahrt trifft er Flora wieder, die ihm bereits im zu Auschwitz gehörenden Lager Buna begegnet war, wo er als Chemiker und sie zum Putzen der Sanitätsräume eingesetzt waren. In Italien war sie Prostituierte gewesen, bis sie den Deutschen in die Hände fiel und von der Organisation Todt in die Ukraine transportiert wurde.
Nun treffen sie sich hier entlang des Schienenstrangs irgendwo in einer aufgelassenen weißrussischen Kaserne, dem sogenannten Roten Haus, wieder. Dort existiert eine ziemlich ramponierte Bühne mit ansteigenden Zuschauerrängen. Die Gestrandeten richten eine Theatergruppe ein und hauchen dem Theater neues Leben ein. Besonderer Beliebtheit erfreut sich das neapolitanische Volkslied "Mein Hut, der hat drei Ecken".
Es wurde vom überwiegend italienischen Publikum allabendlich eingefordert und mit starkem Applaus bedacht.
Warum? Vielleicht, weil unter der grotesken Vermummung der schwere Atem eines kollektiven Traums spürbar wurde, des Traums, der aus dem Exils und aus dem Nichtstun aufsteigt, wenn Arbeit und Schmerz aufhören und sich nichts mehr als Schutz zwischen den Menschen und sein eigenes Ich stellt; vielleicht, weil die Ohnmacht und Nichtigkeit unseres Lebens, des Lebens überhaupt, sichtbar wurden und das bucklige und verzerrte Profil der aus dem Schlaf der Vernunft geborenen Ungeheuer.
Eines Nachmittags taucht vor dem Roten Haus ein Wagen auf, der auf seiner Ladefläche ein mobiles Kino transportiert, das nun drei Abende lang in der Kaserne gastiert und mehr oder weniger sehenswerte Filme vorführt. So vergeht für die dort Untergebrachten die Zeit ein klein wenig schneller und leichter.
Die Reise
Manches am Bericht von Levi ist neben aller Tragik auch grotesk und komisch. Ich fühle mich gelegentlich an Wladimir und Estragon aus Becketts "Warten auf Godot" erinnert, die ja ebenfalls ihre Zeit mit Warten zubringen.
Während bei Godot bis zum Schluss unklar bleibt, ob er überhaupt existiert, taucht in der weißrussischen Steppe eines Tages tatsächlich ein Zug auf, der sich dann etappenweise auf den Weg macht. Die Reise zieht sich immer noch Wochen hin, führt über Rumänien, Ungarn, Österreich und München schließlich über den Brenner.
Irgendwann werden die Insassen der Waggons den Amerikanern übergeben, die sie umgehend mit DDT desinfizierten.
Es war schon Nacht, als wir über den Brenner fuhren … Am 19. Oktober 1945, nach fünfunddreißig Tagen Reise, traf ich in Turin ein: das Haus stand noch, alle Familienangehörigen waren am Leben, niemand hatte mich erwartet.
Das Buch "Ist das ein Mensch?", in dem er sein Jahr in Auschwitz zu beschreiben versucht, hat Levi gleich nach seiner Rückkehr zu schreiben begonnen. Seinen abenteuerlichen Rückweg aus Auschwitz beschreibt er 1963. 1987 stürzte er sich beim Blick in das vertraute Treppenhaus seiner Wohnung in Turin über das Geländer in die Tiefe und setzte seinem Leben ein Ende.
"Es ist immer Krieg"
"Es ist immer Krieg", hatte der Grieche gesagt, mit dem Levi nach dem Ende des Lagers Auschwitz eine nomadische Zeit verbracht hatte, die für ihn auch eine Lehrzeit in Sachen Dissidenz und Überlebenskunst gewesen war.
Der Historiker Volkhard Knigge, der längere Zeit die Gedenkstätte Buchenwald geleitet hat, hat viele Gespräche mit ehemaligen Lagerinsassen geführt. Aus ihnen hat er gelernt: Die meisten, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wollten fortan Herren ihres Schicksals sein, stärker als der Tod, dem sie im KZ entronnen sind.
Sie wollten entweder ewig leben, oder sie wollten dem Tod zuvorkommen. Unsere Erklärungsversuche reichen an ein Phänomen wie den Suizid nicht wirklich heran. Er wird in jedem einzelnen Fall etwas Rätselhaftes behalten, das sich unseren Erklärungsversuchen entzieht. Auch die Suizide von Jean Améry und Primo Levi bilden da keine Ausnahme.
Ich hoffe, dass die Art und Weise, wie ich dieses Buch vorgestellt habe und wie ich über es gesprochen, beziehungsweise geschrieben habe, schon hat deutlich werden lassen, dass "Die Atempause" ein ganz besonderes Buch eines ganz besonderen Autors ist.
Es ist sicher meine bemerkenswerteste und bedeutsamste Lektüre der letzten Zeit. Sie hat mich tagelang in ihren Bann gezogen und in Atem gehalten. Es war das richtige Buch in diesen Tagen.
Götz Eisenberg betreibt seit einigen Jahren unter dem Titel "Durchhalteprosa" einen eigenen Blog.