Die Barbarei des Normalzustands

Suizid als Klassenkampf? Weil eine bestimmte chinesische Firma das iPad herstellt, fällt es auf, wenn sich ihre Mitarbeiter reihenweise in den Tod stürzen

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Wenn man den Moment nennen sollte, in dem in den USA der Arbeitsschutz einsetzte, dann könnte man leicht auf den Zigarettenstummel verweisen, der am 25.3.1911 auf einen Kleiderhaufen fiel. Der befand sich in der Triangle Shirtwaist Factory, ein Unternehmen, das man heutzutage als Sweatshop bezeichnen würde: Junge Immigrantinnen nähten im Akkord Hemden, die Türen waren während der Arbeitszeit geschlossen, der Brandschutz lächerlich ungenügend. Arbeitsbedingungen, die im Zusammenhang mit dem Zigarettenstummel für 146 Leichen sorgten. Die Feuerwehr war vor Ort, aber ihre längste Leiter reichte nur bis zum sechsten Stock. Von den Stockwerken darüber warfen sich viele der Arbeiterinnen aus Angst vor dem Verbrennen in den Tod.

Hundert Jahre später sind wir so viel weiter nicht gekommen. Derzeit fallen keine amerikanischen Näherinnen von den Dächern, sondern junge Chinesen, in den "Sonderwirtschaftszonen" der "Volksrepublik China", in denen sie einer Sonderbehandlung ausgesetzt sind, die viel Volk braucht und verbraucht, aber ganz ohne Republik auskommt. Das Feuer, das die jungen Wanderarbeiter und -arbeiterinnen zu verzehren droht, wird in der Regel nicht durch Zigarettenstummel hervorgerufen - die Triangle Shirtwaist Factories von heute heißen KTS Chittagong und Sayem Fashions.

Das Feuer, das die jungen Chinesen auf die Dächer treibt, hat eine Arbeiterin mit einem Satz so beschrieben: "Mein Leben ist dennoch leer, und ich arbeite wie eine Maschine." "Dennoch", weil zu einem Monatsverdienst von 240 Euro bei sechs 12-Stunden-Tagen in der Woche (plus Überstunden) immerhin noch Essen und Übernachtung inbegriffen sind. In anderen Quellen ist noch von viel geringeren Löhnen die Rede. Sprechverbote während der Arbeit, Demütigungen, zu schnelle Bandgeschwindigkeiten und "militärischer" Führungsstil werden beklagt. Ein kaltes Feuer scheint es zu sein, ein eher seelenfressendes als Fleisch verbrennendes, eines, das kenntlich wird in den Maßnahmen zu seiner Unkenntlichmachung. Für solche Maßnahmen steht Terry Gou, seines Zeichens Aufsichtsratschef bei Foxconn. Er bekennt, durch die Selbstmorde "traumatisiert" zu sein (siehe Weiterer Suizid beim taiwanesischen Apple-Zulieferer Foxconn). Zu einer Pressekonferenz, die diesem schweren Trauma Ausdruck verleihen sollte, wird berichtet:

"Generell steigt die Suizidrate, wenn in einer Gesellschaft das Bruttoinlandsprodukt ansteigt", sagte Gou, der im Helikopter zu einem Treffen mit 200 Reportern angereist war, die er durch eine Fabrik führte. Gou war von Leibwächtern umringt.

Eine Gemütslage, die solches Verhalten möglich macht, muss erst einmal beschrieben werden, um sie vielleicht irgendwann zu verstehen, und wer nach Beschreibungen sucht, wird in der chinesischen Gegenwartsliteratur fündig. Zum Beispiel in "Chengdu, vergiss mich heute Nacht" von Murong Xuecun.

Der Roman beschreibt keine Typen vom Kaliber Terry Gous, sondern eher die kleinen Haie des neuen chinesischen Kapitalismus, aber das Gemisch aus Leere, Totalkorruption, Zynismus und Verantwortungslosigkeit ist sehr schön beschrieben - zusammen mit dem spezifisch chinesischen Mummenschanz, der immer darauf hinausläuft, "das Gesicht nicht zu verlieren" - so sehr die Kloake auch stinkt, sie soll wenigstens schön gestrichen sein.

Fast noch widerlicher sind die Verlautbarungen von Apple zum Thema. Man wolle jetzt die Lage unabhängig untersuchen, heißt es. Was die PR-Abteilung so sagt, wenn der Laden unter Druck ist.

Apple und die unangenehme Wahrheit

Die Untersuchung könnte leicht abgeschlossen werden. Wenn ihr, Sportsfreunde von Apple, die Margen herausholen wollt, die ihr braucht, um größer als Microsoft zu werden, dann geht das nur, indem eure Zulieferer ihre Arbeiter alle machen. Natürlich wisst ihr das. Und natürlich seid ihr keine bösen Menschen, und die nichtbösen Menschen von Dell, HP, Sony usw. machen es genauso. Es ist nur so, dass euer Businessmodell von Cupertino aus in China die Arbeiter auf die Dächer treibt.

Aber solange ihr öffentlich weint, eure Besorgnis ausdrückt, Untersuchungen veranstaltet, und im Fall der Fälle die Verantwortung auf die Schlitzaugen abschiebt, braucht sich keiner dieser unangenehmen Wahrheit zu stellen. Was auch der Zweck eurer Betroffenheit, eurer Wirtschaftsethik, eurer Zertifikate, Untersuchungen und all der anderen Alibi-Aktivitäten ist - sie erlauben euch, gleichzeitig zur wertvollsten Technologie-Firma der Welt zu gehören, und gute Menschen zu sein. Ist das nicht fein?

Die Gewaltmaschine

Wie immer gibt es für europäische Überlegenheitsgefühle nicht den geringsten Anlass. Eine ganz ähnliche Selbstmordserie bei der France Telekom ist noch relativ frisch (siehe Mörderische Arbeitsbedingungen und individuelle Verzweiflungsakte), aber da die sich nicht mehr so unvorteilhaft häufen wie noch vor kurzem, ist das alles kein Thema mehr. Die betreffenden Berichte werden gerade abgeheftet.

Wenn man die Seriensuizide als letzte, verzweifelte, unfreiwillige Form von Klassenkampf begreifen würde - wie viele Tote bräuchte es, damit sich etwas ändert? 146, wie damals bei der Triangle Shirtwaist Factory? Was sich verändert hat seit 1911 ist das statistische Rauschen - es hat ja so sehr zugenommen. Die Abgebrühtheit ebenso. Wieder ein Blick in die Literatur. In seinem Roman "2666" verarbeitete der chilenische Schriftsteller Roberto Bolano eine reale Mordserie im mexikanischen Ciudad Juarez. Als ab 1993 eine Frau nach der anderen bestialisch umgebracht wurde, geschah bis 2004 so gut wie nichts.

Bezeichnenderweise waren die Opfer meistens Arbeiterinnen aus den örtlichen Sweatshops ("maquiladoras"), die für multinationale Konzerne produzieren. Erst als die Zahl der Ermordeten so groß wurde, dass sich internationale Aufmerksamkeit nicht mehr vermeiden ließ, begann die Kosmetik: mehr Polizisten, bessere Forensik, einige Verhaftungen. Mindestens 126 Fälle sind bisher nicht aufgeklärt, und die Morde gehen weiter.

Wer sich fragt, wie so was sein kann, wie so eine Gewaltmaschine funktioniert, dem sei der Roman von Bolano an's Herz gelegt. Aber wenn das iPad im Spiel ist, beginnt die Kosmetik schon früher.

Ob das kalte Feuer bald erlischt, das die chinesischen Wanderarbeiter und -arbeiterinnen auf die Dächer treibt? Wer das glaubt, glaubt auch an den Weihnachtsmann.