Die Berlinale und die Entrüstung über "Neun-Euro-Terroristen"
Die "Letzte Generation" stört ein wenig die Berlinale. Man erinnert an die sich entfaltende Klimakrise. Die Forderungen sind eigentlich ganz harmlos. Nicht so die Reaktion. Ein Kommentar.
Ist es wirklich so schwer zu verstehen? Der Klimawandel bollert derzeit mal wieder mit der Faust an die Tür, und damit ist nicht nur der hiesige viel zu milde Winter gemeint, der nicht nur die Heizkosten drückt, sondern auch die Natur durcheinander bringt und der Ausbreitung von Zecken, Tigermücken und allerlei anderen teils gefährlichen Organismen Vorschub leistet.
Neuseeland hat zum Beispiel gerade einen landesweiten Notstand ausgerufen – was in seiner Geschichte erst zum dritten Mal vorkommt –, weil es nur zwei Wochen nach schweren Überschwemmungen in Auckland nun von einem mächtigen Tropensturm verheert wird, der seine Energie aus dem um die Inseln herum ungewöhnlich warmen Meer zieht.
Auf der anderen Seite des Pazifiks wird Chile seit Jahren von einer schweren Dürre gebeutelt, deren Ursache die dortigen Wissenschaftler im Klimawandel sehen. Derzeit beschert diese große Trockenheit dem Land extreme Waldbrände, die schon über 20 Tote gefordert und nach unterschiedlichen Quellen 450 bis 700 Quadratkilometer Wald vernichtet haben.
Kann das niemand sehen? Ist diese Gesellschaft wirklich unfähig, endlich Konsequenzen zu ziehen? Müssen wir stattdessen lieber den ersten Flüssiggastanker aus Katar feierlich begrüßen?
Sind wir gar wie die sprichwörtlichen Frösche, die es nicht verstehen, rechtzeitig aus dem sich langsam erhitzenden Wasser zu springen? Verharren wir, ängstlich vor jeder Veränderung, in träger Gemütlichkeit, weil die Veränderungen nur schrittweise erfolgen, nie die ganze Menschheit gleichzeitig betreffen, weil die vielen europäischen Hitzetoten in manchen Sommern leise und ohne spektakuläre Bilder vor sich hinsterben?
Einige unter uns nicht. Sie nennen sich „Letzte Generation“ und haben sich vorgenommen, den Alltag zu stören. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Schweden, den USA und manchem anderen Land.
Boulevard, schwarz gelbe Politiker und Rechtsradikale sind sich einig, dass es sich nur um Terroristen handeln kann, Polizeisprecher sehen in gewaltfreien Protesten Straftaten, und selbst manches sich seriös gebende Blatt verbreitet gerne Schauermärchen über die Straßenblockierer.
Nun hat es am gestrigen Donnerstag zur Abwechslung mal die Kulturszene getroffen. Bei der Eröffnung der Berlinale, dem jährlichen Schaulaufen der Filmbranche an der Spree, klebten sich zwei junge Mitglieder der Gruppe mit Sekundenkleber auf den roten Teppich, wie unter anderem der Berliner Tagesspiegel berichtet. Größere Behinderungen soll es nicht gegeben haben.
In einer Mitteilung der „Letzten Generation“ begründet die 20-jährige Lisa Winkelmann, weshalb sie an der Aktion teilgenommen hat:
Wir rasen ungebremst in eine unvorstellbare Katastrophe. Wir können es uns als Gesellschaft nicht länger leisten, den nahenden Kollaps zu ignorieren. Wenn wir uns noch länger der Realitätsflucht hingeben, werden wir die ersten Klimakipppunkte reißen und eine todbringende Lawine lostreten, aus der es kein Entkommen gibt.
Viele mögen derlei nicht hören, denn es ist beunruhigend, stört die Gemütlichkeit oder verbreitet ein Gefühl der Ohnmacht, wenn man spürt, dass die Aktivistinnen recht haben könnten.
Schuld an Letzterem ist auch eine Regierung, die LNG-Terminals und ein 100-Milliarden-Euro-Rüstungsprogramm aus dem Boden stampfen kann, aber nicht einmal auf die harmlosen Minimal-Forderungen des bundesweiten Netzwerks eingeht.
Die sind nämlich eigentlich recht simple: Ein Tempolimit von 100 Kilometern die Stunde, das es zum Beispiel bei den niederländischen Nachbarn schon seit langem gibt, und ein dauerhaftes Neun-Euro-Ticket, denn: „Bezahlbare Bahnen in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten sind nur gerecht.“
Aber derlei ist offensichtlich in Zeiten, in denen Panzerlieferungen Leben retten, und die EU das Grenzregime der Festung Europa noch rigider macht, damit noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken oder an polnischen Zäunen erfrieren, zu radikal, ja geradezu terroristisch.
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