Die "Bonner Erklärung"
Wirtschaftsliberalismus im Internet
In der "Bonner Erklärung" zum Abschluß der zweitägigen Konferenz "Global Information Networks" in Bonn erklärten Minister aus 29 europäischen Staaten am Dienstag, daß das Wachstum der Netze nicht durch staatliche Vorgaben behindert werden solle. Keine Einigung wurde in Sachen Kryptographie erreicht. Mit der Konferenz wurde ein deutliches Signal gegeben, daß Europa "beim Aufbruch in das globale Informationszeitalter ganz vorne in der Weltliga mitspielen" will, sagte Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP).
Zwar soll keine Freihandelszone nach den Vorstellungen von Bill Clintons Framework for Global Internet Commerce eingerichtet werden, doch dürfe der Warenaustauch über das Internet nicht gegenüber anderen Einkaufsmöglichkeiten benachteiligt werden, sagte Rexrodt weiter. Keine neuen Steuern und Abgaben sollen das Internet belasten. "Einen weltweiten Duty-free-Shop" werde es nicht geben. Waren, die über das Internet bestellt und außerhalb des Internet geliefert werden, unterfallen weiterhin Zöllen und anderen Abgaben. Hier gelte der Grundsatz: "Was offline gilt, gilt auch online". Jedoch werde der amerikanische Vorschlag der Zollfreiheit für Internetprodukte diskutiert. Für Information, Konstruktionszeichnungen und andere informationelle Ausarbeitungen, deren ausschließliche Leistung im Internet erfolge, sollen über die World Trade Organization (WTO) Regelungen "ohne diskriminierende Wirkungen" gefunden werden. Der Handel in den Computernetzen soll auch künftig nicht größeren Einschränkungen als der herkömmliche Handel unterliegen.
In der weltweit umstrittenen Kryptographiefrage konnten sich die Minster der europäischen Länder nur auf die kürzlich vereinbarten OECD-Leitlinien zur Kryptographiepolitik verständigen. Sie sollen als Grundlage für nationale und internationale Regelungen dienen. Dabei wird den Ländern unter der Vorgabe der Verhältnismäßigkeit ein gesetzmäßiger Zugang zu Nachschlüsseln eingeräumt. Die OECD-Kompromißformel kann in der Praxis jedoch sehr unterschiedlich ausgelegt werden, befürchten Kritiker. So zeigten sich sogar Frankreich und die USA mit dieser Lösung einverstanden. In Deutschland gäbe es "noch Diskussionsbedarf innerhalb der Bundesregierung", so Rexrodt in Hinblick auf Kanthers Kryptopläne. Industrievertreter hatten sich vehement gegen staatliche Eingriffe ausgesprochen. Telekom-Chef Ron Sommer betonte, daß Forderungen wie die nach der Hinterlegung der Schlüssel für die Verschlüsselungssysteme größeren Schaden anrichten als vermeiden würden. US-Handelsminister William Daley sah zwar "keine grundsätzlichen Unterschiede" zwischen der europäischen und US-amerikanischen Politik, doch sei die Krypto-Frage nach wie vor ein "sehr schwieriges Thema".
Amerikanische Firmen müssen derzeit für jedes exportierte Programm einen Zweitschlüssel bei staatlichen Behörden hinterlegen. Vor allem in Punkten wie Providerverantwortlichkeit und Datenschutz orientierte sich die ministerielle Erklärung am deutschen Informations- und Kommunikationsdienstegesetz, das erst Mitte Juni im Bonn verabschiedet worden war. So soll künftig auch europaweit zwischen der Verantwortlichkeit des Inhalteproduzenten sowie der des Zugangsvermittlers "deutlich" unterschieden werden. Eine Vorzensur seitens der Online-Dienste sollte von staatlichen Stellen nicht erwartet werden. Bislang gibt es keine internationale Vereinbarung, wer die Verantwortung für illegale Inhalte im Internet trägt. Personenbezogene Daten der Nutzer sollen nur dann gesammelt und verarbeitet werden, wenn der Benutzer dazu seine ausdrückliche Genehmigung gegeben hat oder wenn die Sammlung und Verarbeitung legal ist. Rechtliche und technische Einrichtungen sollen den Schutz der Privatsphäre ermöglichen. Auch sollten Nutzer die Möglichkeit haben, im Online-Bereich anonym zu bleiben. Anonymes Browsing, E-Mail und elektronischer Zahlungsverkehr sollten technisch ermöglicht werden.
Die Minister begrüßten auch Maßnahmen, die die Beteiligung aller Bürger an den globalen Netzen ermöglichen. So soll die Informationstechnik für Bürger beiderlei Geschlechts, aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten zugänglich werden. Bibliotheken spielen hierbei eine besondere Rolle. Öffentliche Dienstleistungen im Bildungswesen, in der Gesundheitsvorsorge und im Umweltschutz sollen aufgebaut, die Entstehung einer "elektronischen Demokratie" gefördert werden. Vor allem Informationen des öffentlichen Sektors sollen Bürgern und Wirstschaft zu erschwinglichen Preisen zugänglich gemacht werden. Eine Regelung wie das Freedom Information Act oder das schwedische Informationsgesetz wurde jedoch explitzit nicht angesprochen. Immerhin sollen auch soziale Randgruppen via Informationstechnik integriert werden. Langzeitarbeitslose, Behinderte und ältere Mitbürger sowie die Einwohner abgelegener Regionen sollen in der jeweiligen Landessprache angesprochen werden. Lehrer sollen kompetent genug sein, um Multimedia schon in der Grundschule in die Lehrpläne aufzunehmen. Kindern sollen so möglichst früh Medienkompetenz erwerben.
Grundsätzlich galt das Prinzip für alle angesprochenen Bereiche, daß Regeln und Rechte im Offline-Bereich auch im Online-Bereich gewährt werden sollten. Damit distanzierten sich die Europäer von Clintons Vision des Internets als "Wilden Westen", der nun auf die ganze Welt übergreifen soll. Für die USA waren die Konferenzergebnisse daher nicht in allen Punkten zufriedenstellend. Doch wurde grundsätzlich das Credo des Liberalismus begeistert aufgegriffen.
Zwar ist die "Bonner Erklärung" durchaus als richtiger Schritt in die richtige Richtung zu werten, viele Formulierungen sind allerdings noch zu vage. Der gute Wille, die schönen Formulierungen dieser Erklärung allein werden künftig nicht genügen, wenn es darum geht, Informationsmonopole aufzubrechen, Randgruppen zu integrieren, staatliche Paranoia in Sachen Kryptographie abzubauen. Die praktische Realisierung muß in jedem einzelnen Land auf demokratischem Wege mühsam erkämpft werden. Wirtschaft wie Bürger sind hier gefragt, ihre Interessen lautstark zu vertreten.