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"Die Diskussion über Atomwaffen ist von Legenden und Mythen bestimmt"

Interview mit Dieter Deiseroth zur nuklearen Bedrohung und einer U.N.-Konferenz, die derzeit einen Atomwaffenverbotsvertrag ausarbeitet

Bei den Vereinten Nationen in New York findet derzeit eine Konferenz statt, die sich zum Ziel gesetzt hat einen Atomwaffenverbotsvertrag zu erarbeiten. 134 Staaten nehmen an der Konferenz teil, aber nur ein Mitgliedsland der NATO befindet sich darunter: die Niederlande.

Im Interview mit Telepolis erklärt Dieter Deiseroth, Richter a.D. am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und Mitglied von IALANA Deutschland [1], was es mit dieser Initiative auf sich hat und verweist auf die gefährlichen Irrtümer und Gefahren, die die Diskussion zum Thema Abschaffung von Atomwaffen im öffentlichen Diskurs bestimmen. Deiseroth sagt: Das Prinzip der Abschreckungslogik greife nicht. In den vergangenen 70 Jahren sei die Welt mindestens 20 Mal nur durch Zufall und glückliche Fügungen einer nuklearen Katastrophe entkommen.

Derzeit findet bei den U.N. eine internationale Konferenz statt, bei der es um nichts Geringeres geht als darum, einen Atomwaffen-Verbotsvertrag zu erstellen. Das Ziel ist es, alle Atomwaffen abzuschaffen. An dieser Konferenz nehmen 134 Staaten teil. Wie schätzen Sie diese Initiative ein? Welche Bedeutung hat sie?
Dieter Deiseroth: Diese Konferenz über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag ist die überfällige Reaktion der großen Mehrheit der Nicht-Atomwaffenstaaten auf einen skandalösen und zudem höchst gefährlichen völkerrechtlichen Vertragsbruch, der bis heute andauert. Das, was zur Zeit in New York stattfindet, ist seit dem 1970 erfolgten Inkrafttreten des Nichtverbreitungsvertrags (NPT), auch Atomwaffensperrvertrag genannt, die wichtigste Staateninitiative zur nuklearen Abrüstung. Es geht dabei letztlich um das Überleben der Menschheit und dieses Planeten.
Können Sie das näher erläutern?
Dieter Deiseroth: 1968 wurde der Nichtverbreitungsvertrag abgeschlossen. Man fürchtete damals zu Recht, dass es ohne diesen Vertrag aufgrund der expandierenden Entwicklung der Atomwirtschaft und der mit dem Besitz von Nuklearwaffen verbundenen politischen Aussichten auf erheblichen Machtgewinn bald weltweit mehr als 30 Atomwaffen-Staaten geben würde, darunter unter anderem die früheren Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien sowie eine Reihe von damals diktatorischen Regimen wie Brasilien, Argentinien und Südafrika.
Um dies zu verhindern, sind die damals bestehenden fünf Atomwaffenstaaten USA, Sowjetunion/Russland, Frankreich, China und das Vereinigte Königreich, die zugleich ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates waren und sind, eine zentrale bindende völkerrechtliche Verpflichtung eingegangen.
Sie haben im NPT rechtsverbindlich zugesagt, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle" (Art. VI NPT). Sie erklärten sich damit also 1968/70 für die "nahe Zukunft" zur Aufnahme von redlichen Verhandlungen und deren Abschluss über die Abschaffung ihrer eigenen Atomwaffen, also für eine "atomare Nulllösung" bereit. Der Internationale Gerichtshof hat dazu in seinem von der UN-Generalverstammlung 1996 erstellten Rechtsgutachten ausgeführt: "Es besteht die völkerrechtliche Verpflichtung, Verhandlungen in redlicher Absicht aufzunehmen und zu einem Abschluss zu bringen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen."

Die fünf Nuklearstaaten haben ihre Abrüstungs-Zusage bis heute nicht eingehalten

Was war die Gegenleistung der anderen Vertragspartner?
Dieter Deiseroth: Die fünf bestehenden Atomwaffenmächte konnten mit dieser ihrer Zusage und politischem Druck seit 1970 nahezu alle anderen Staaten davon überzeugen, als Nicht-Atomwaffenstaaten ihrerseits völkerrechtlich verbindlich auf den Erwerb, die Herstellung, den Besitz sowie jede unmittelbare und mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen zu verzichten.
Ferner wurde vereinbart, dass die Einhaltung dieses Verzichts der nuklearen "Habenichtse" auf Atomwaffen international wirksam kontrolliert wird - durch die Internationale Atomenenergieagentur IAEA mit Sitz in Wien. Diesem Vertragswerk sind bis heute fast alle Staaten dieser Welt beigetreten, insgesamt 191.
Die fünf Nuklearstaaten haben ihre Abrüstungs-Zusage aus Art. VI NPT bis heute nicht eingehalten und diese damit treuwidrig gebrochen. Denn sie haben über nunmehr fast fünf Jahrzehnte ihre völkerrechtliche Verpflichtung zur Aufnahme und zum baldmöglichsten Abschluss redlicher Verhandlungen über eine atomare Nulllösung nicht erfüllt. Unter wechselnden Ausflüchten und Vorwänden haben sie sich davor gedrückt.
Welche Folgen hatte dies?
Dieter Deiseroth: Für Indien und Pakistan war dieses Verhalten der fünf Atomwaffenstaaten Grund und Anlass, trotz ihrer grundsätzlich erklärten Beitrittsbereitschaft dem NPT schließlich nicht beizutreten und selbst eigene Atomwaffen zu entwickeln.
Nordkorea, das zunächst dem NPT beigetreten war, ist vor einigen Jahren einen anderen Weg gegangen. Es hat seine Mitgliedschaft gekündigt und entwickelt nun ebenfalls Nuklearwaffen und Trägersysteme. Dies geschieht unter anderem mit dem Argument, Nordkorea beanspruche Atomwaffen mit dem gleichen Recht wie auch die USA, die sich einer Abschaffung der Atomwaffen nachhaltig verweigerten. Daraus resultieren die aktuellen Konflikte um das nordkoreanische Atomprogramm, von dem sich vor allem Südkorea, Japan und die USA bedroht sehen. Gegenwärtig ist offen, wie sich dieser Konflikt weiter entwickeln wird.
Und die anderen bisherigen Nicht-Atomwaffenstaaten?
Dieter Deiseroth: Die große Mehrheit der anderen Nicht-Atomwaffenstaaten steht bisher nach wie vor zum NPT mit seinen beiden zentralen Zielen der Verhinderung des Entstehens weiterer Atommächte und der Durchsetzung der nuklearen Abrüstungsverpflichtung in Art. VI NPT. Sie haben aber immer wieder die Vertragsbrüchigkeit der Nuklearstaaten kritisiert. Ihre Geduld ist nun am Ende.
Deshalb ist es jetzt nach mehreren Vorbereitungskonferenzen zu diesem New Yorker Verhandlungsmarathon über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag gekommen. Man will die großen Gefahren für die Menschheit und diesen Planeten Erde, die mit der Existenz und der ständigen Bereithaltung der fortlaufend modernisierten Atomwaffen für einen militärischen Einsatz verbunden sind, nicht länger hinnehmen.

Konferenz verlangt Aufnahme von Verhandlungen über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag

Wie kam es nun zu dieser Konferenz?
Dieter Deiseroth: Zunächst fanden 2013 und 2014 mehrere unter anderem von Österreich, Mexiko und Norwegen initiierte internationale Tagungen über die katastrophalen Auswirkungen eines Atomwaffeneinsatzes auf Klima, Gesundheit und Menschenrechte in Oslo, Nayarit (Mexiko) und Wien statt. Sie mündeten auf der Wiener Tagung 2014 im "Vienna Pledge", mit dem die Atomwaffenstaaten aufgefordert wurden, angesichts des bedrohlichen atomaren Gefahrenpotenzials, das in Zeiten des Terrorismus noch um ein Vielfaches gewachsen ist, ihre nuklearen Abrüstungsverpflichtungen aus Art. VI NPT zu erfüllen.
Im Oktober 2015 setzte dann die UN-Generalversammlung eine "Open-Ended Working Group" ein, um endlich konkrete Schritte hin zu multilateralen Abrüstungsverhandlungen mit dem Ziel einer Welt ohne Atomwaffen voranzubringen. Das Gremium, das sowohl UN-Mitgliedstaaten als auch zur Mitwirkung Organisationen der Zivilgesellschaft offenstand, empfahl dann im August 2016 (per Mehrheitsbeschluss) der UN-Generalversammlung, von allen UN-Mitgliedsstaaten die Aufnahme von Verhandlungen über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag im Jahr 2017 zu verlangen.
Wie ist der bisherige Verlauf der Verhandlungen auf dieser von der UNO beschlossenen Konferenz?
Dieter Deiseroth: Nach einer ersten Verhandlungsrunde im März dieses Jahres 2017 findet jetzt vom 15. Juni bis 7. Juli 2017 die zweite Konferenzrunde in New York statt. Das Verhandlungsergebnis der ersten Runde - ein von der Konferenzpräsidentin, der Botschafterin Costa Ricas, formulierter Vertragsentwurf - liegt seit dem 22. Mai 2017 vor und dient als Grundlage der Beratungen in der zweiten Verhandlungsrunde.
Wie schon in der ersten Runde haben die UNO und die verhandelnden Staatenvertreter jeweils Vertreter der Zivilgesellschaften zur Mitwirkung eingeladen. Zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) haben dazu in internationalen Arbeitsgruppen Argumentationspapiere und Verbesserungsvorschläge erstellt, die von der UN-Organisation den Staaten-Delegationen als offizielle Tagungsunterlagen zur Verfügung gestellt werden und über das Internet weltweit zugänglich sind.
Die Präsidentin der Konferenz hat einen Vertragsentwurf [2] vorgelegt. Was halten Sie davon?
Dieter Deiseroth: Das ist insgesamt ein sehr erfreulicher Vertragsentwurf. Er kann und sollte freilich noch verbessert werden. Dies gilt u.a. für den Umfang des angestrebten Atomwaffenverbots, das sich nicht nur auf die Produktion, den Erwerb, den Vertrieb und den Besitz von Atomwaffen, sondern auch auf ihre Entwicklung sowie vor allem auf ihren Einsatz sowie dessen Androhung beziehen muss.
Ferner müssen noch institutionelle Fragen einer Überprüfung der Einhaltung eines vertraglichen Atomwaffenverbots geklärt werden. Dazu gehört insbesondere, ob diese Aufgabe einer internationalen Sonderbehörde ähnlich der IAEA oder dem UN-Generalsekretär übertragen werden soll. Dazu gehört in jedem Falle auch, dass Whistleblower, die Vertragsverletzungen aufdecken und darüber den zuständigen Stellen berichten, vor Repressionen wirksam geschützt werden müssen. Ferner müssen die Probleme der Wiedergutmachung und Entschädigung von bisherigen Atomwaffen-Opfern sowie die Möglichkeit von Rechtsbehelfen gegen entstandene und künftige Schädigungen zufriedenstellend gelöst werden.
Eine internationale Arbeitsgruppe der IALANA, der ich angehöre, aber auch andere NGOs haben den Delegationen dazu konkrete Vorschläge unterbreitet, die zwischenzeitlich von der UNO in den offiziellen Kongressmaterialien publiziert worden sind (prohibitions and preamble [3] und nuclear-armed states and other issues [4]).

Alle NATO-Staaten mit Ausnahme der Niederlande haben sich dem Druck der USA gebeugt

Bis auf die Niederlande nehmen an den Verhandlungen keine anderen NATO-Staaten teil - auch Deutschland nicht. Wie erklären Sie sich das?
Dieter Deiseroth: Zwischenzeitlich sind dazu wichtige Dokumente öffentlich bekannt geworden. Daraus ergibt sich, dass die US-Regierung noch unter Präsident Obama durch ein Schreiben ihrer Ständigen Vertretung bei der NATO in Brüssel vom 17. Oktober 2016 die Regierungen aller NATO- Staaten eindringlich davor gewarnt hat, bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung der Resolution, mit der die Aufnahme der Verhandlungen über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag beschlossen werden sollte, zuzustimmen oder sich auch nur zu enthalten.
Des Weiteren hat sie gefordert, im Falle einer Annahme der UN-Resolution keinesfalls an den Verhandlungen über einen Atomwaffen-Verbotsvertrag teilzunehmen. Anderenfalls sei aus den im Einzelnen dargelegten Gründen die NATO-Nuklearpolitik in Gefahr, delegitimiert zu werden.
Alle NATO-Staaten mit Ausnahme der Niederlande haben sich diesem Druck gebeugt. Die große Mehrheit der Staatenvertreter in der UN-Generalversammlung hat dagegen am 23.12.2016 bzw. 24.12.2016 deutscher Zeit beschlossen, dass über ein solches vertragliches Atomwaffenverbot verhandelt werden soll, was jetzt seit März 2017 geschieht.
Was halten Sie davon, dass Medien bisher kaum über die Konferenz und die Verhandlungen über den Atomwaffen-Verbotsvertrag berichten?
Dieter Deiseroth: Die Diskussion über Atomwaffen in unseren westlichen Demokratien ist heute weitgehend von Legenden und Mythen bestimmt, die auch in den Medien wirksam sind. Zu der am weitesten verbreiteten Legende gehört die These, das nukleare Abschreckungssystem habe in den Zeiten des Kalten Krieges und darüber hinaus bis heute seine Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt und so für uns den Frieden in der Welt gesichert.
Das scheint für viele Menschen, auch in den Medien, evident und einsichtig zu sein. Dabei ist es schon ein logischer Fehlschluss, umstandslos von einem "post quod", also von einem zeitlichen Nacheinander ("erst Atomwaffen und danach Frieden") auf ein "quod quod", also eine Kausalität ("weil Atomwaffen, deshalb Frieden") zu schließen.
Vor allem aber missachtet diese Legende das Faktum, dass es in den vergangenen mehr als 70 Jahren des Atomwaffenzeitalters zumindest 20 äußerst kritischer Situationen - im Osten wie im Westen - gab, in denen die Welt am Rande des nuklearen Infernos stand. Allein aufgrund sehr glücklicher Umstände und Zufälligkeiten, wie es der frühere US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara formuliert hat, entging unsere Welt einer nuklearen Katastrophe.
Und die weiteren Legenden?
Dieter Deiseroth: Eine weitere, zudem sehr weit verbreitete Legende besteht in dem Glauben, ein in der nuklearen Abschreckungspolitik der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten angedrohter Einsatz von Atomwaffen sei legal. Auch diese Legende, die viele rechtschaffende Menschen - auch in den Medien - beruhigt, ist nicht richtig, wie sich gerade aus der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs ergibt, der dazu im Juli 1996 auf Anforderung der UN-Generalversammlung ein Rechtsgutachten vorgelegt hat, das die geltende Rechtslage eingehend darlegt.
Diese beiden von mir angesprochenen Haupt-Legenden sind wirksam und tragen gerade auch in vielen Medien dazu bei, Gehirne zu vernebeln und wichtige Vorgänge wie die aktuellen Verhandlungen in New York demgegenüber zu einem peripheren Randereignis einzustufen, über das zu berichten sich nicht lohne.
Wie kann man sich die augenscheinliche Wirksamkeit dieser - wie Sie sagen - Legenden erklären?
Dieter Deiseroth: Die Ursachen dafür sind wissenschaftlich bisher nur unzureichend erforscht. Es gibt aber einige plausible Hypothesen.
Welche Erklärungsversuche meinen Sie?
Dieter Deiseroth: Fakt ist: Die weitaus meisten derjenigen, die in den Medien, vor allem in den sogenannten Leitmedien arbeiten, versagen sich bisher weitgehend einer kritischen Hinterfragung dieser beiden Legenden. Wer aus dem "Mainstream" heraustreten und nicht einfach "mitschwimmen" will, muss kritisch "nachbohren". Das kostet Zeit und Kraft. Und man muss sich persönlich exponieren - vor allem in der Redaktion, gegenüber der Kollegenschaft, in beruflichen und privaten Kontaktzirkeln, im Umgang mit einflussreichen Entscheidungsträgern in den Medien und in der Politik.
Die Sozialisations- und Ausbildungsbedingungen von Journalisten sind vielfach nicht auf ein Erlernen und Einüben solcher Interaktionsmodi ausgerichtet, die gerade auch kritische Standfestigkeit und Konfliktbereitschaft erfordern. Um wieviel leichter und kräftesparender ist demgegenüber für viele Medienleute dagegen eine Orientierung am Status quo, an der Hegemonie des vorherrschenden "Zeitgeistes" und den ihm zugrunde liegenden Einfluss- und Interessenstrukturen.
Zudem wissen wir etwa aus der Netzwerk-Studie des Leipziger Medienwissenschaftlers Uwe Krüger, dass es zum Beispiel einflussreiche transatlantische Verflechtungen von Journalisten, Publizisten, Politikern und wichtigen Entscheidungsträgern gibt, die gerade auf dem Felde der nuklearen Sicherheitspolitik zusammenwirken, sich abstimmen und sich gegenseitig unterstützen und stabilisieren. Dabei geht es auch um Reputationsgewinn, Geld, medialen Einfluss und künftige lukrative Engagements.

Das Abschreckungskonzept kann nach seiner eigenen "Logik" nicht funktionieren

Sie sind Mitglied bei IALANA Deutschland, einem Zusammenschluss von Juristen, die sich gegen Atomwaffen einsetzen. Warum dieser Einsatz?
Dieter Deiseroth: Eine Veränderung zum Besseren kommt nicht von allein. Sie muss erstritten werden. Das erfordert ein vielfältiges Engagement. Man muss dabei die Menschen dort "abholen", wo sie sich befinden und sie mit ihren Argumenten ernst nehmen, aber nicht allein lassen.
Lassen Sie mich das an Hand einer Reaktion erläutern, die mich kürzlich von einem von mir sehr geschätzten, inzwischen pensionierten Juraprofessor der Berliner Humboldt-Universität erreichte, den ich um seine Unterschrift unter einen internationalen Aufruf zur Unterstützung der New Yorker Verhandlungen über den Atomwaffen-Verbotsvertrag gebeten hatte.
Er schrieb mir: "Es wäre schön, in einer Welt ohne Atomwaffen leben zu können. Leider ist die Welt so, wie sie ist. Solange es Staaten gibt, die fröhlich Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag unterschreiben und weiterhin an Atomwaffen basteln, ist es mir nicht ganz unlieb, dass es Natostaaten gibt, die Atomwaffen haben und bis heute einigermaßen verantwortungsvoll damit umgehen. Deshalb kann ich mich der von Ihnen beschriebenen Position der Nato nicht von vornherein verschließen. Also teile ich Ihnen mit einem nur halb schlechten Gewissen mit, dass ich nicht unterschreibe."
Diese Reaktion entspricht einer weit verbreiteten Einstellung in der Bevölkerung, gerade auch unter Juristinnen und Juristen. Dabei beruhen alle ihre Grundannahmen auf Fehlinformationen. Damit muss man sich ernsthaft auseinandersetzen.
Welche Fehlannahmen meinen Sie vor allem?
Dieter Deiseroth: Lassen Sie mich dazu drei Punkte herausgreifen. Zum Einen: Konstitutiver Bestandteil für ein "Funktionieren" der Abschreckungs-"Logik" aller Atomwaffenstaaten, auch der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten, ist denknotwendig stets, dass man es mit einem rational kalkulierenden Gegner zu tun hat, der auf der Basis hinreichender und ihm auch ad hoc zur Verfügung stehender Informationen ausschließlich rationale Entscheidungen trifft.
Das Abschreckungskonzept kann mithin schon nach seiner eigenen "Logik" nicht funktionieren, wenn es um die Abschreckung eines "irrationalen" Gegners geht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn dieser für "rationale" Argumente nicht zugänglich ist, also wenn er - aus welchen Gründen auch immer - zur Benutzung rationaler Abwägungskalküle nicht imstande oder nicht willens ist.
Und Ihre anderen Gegenargumente?
Dieter Deiseroth: Auch dann, wenn man es mit einem prinzipiell "rationalen Gegner" zu tun hat, ist die Funktionsfähigkeit der nuklearen (wie auch der sogenannten konventionellen) Abschreckung davon abhängig, dass diesem Gegner nach den konkreten Umständen hinreichende zeitliche und informatorische Kapazitäten zur Verfügung stehen, um kritische Entscheidungssituationen in dem erforderlichen Maß abzuschätzen und beurteilen zu können sowie hieraus in der zur Verfügung stehenden knappen Zeit verantwortliche Folgerungen zu ziehen. Es ist äußerst fraglich und ungewiss, dass dies - wenn es für das Überleben der Menschheit darauf ankommt - der Fall ist.
Die Abschreckungs-"Logik" funktioniert - drittens - auch dann nicht und stößt an gefährliche Grenzen, wenn menschliche Fehleinschätzungen oder "technisches Versagen" wirksam werden. Dies ist etwa der Fall, wenn sich elektronische Fehlinformationen in Kommunikationssysteme einschleichen oder andere Defekte dort wirksam werden, die es für die jeweils andere Seite angesichts sehr kurzer Vorwarnzeiten sehr schwer oder sogar unmöglich machen, sicher zu diagnostizieren ob in der konkreten Entscheidungssituation die z.B. aus den Computersystemen verfügbaren Daten auf einen gegnerischen Angriff schließen lassen oder nicht.
Und schließlich: Auch gegen solche terroristischen Gruppen oder Selbstmordtäter, die vor einem Einsatz nuklearer Explosivstoffe und vor dem eigenen Tod nicht zurückschrecken, hilft keine nukleare Abschreckung.
Wie lautet Ihre Alternative?
Dieter Deiseroth: Die sog. Palme-Kommission, an der neunzehn bedeutende Politiker und Fachleute aus Ost und West, Nord und Süd, darunter der frühere deutsche Bundesminister und Abrüstungsexperte Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat Anfang der 1980er Jahre in der Hochphase des Kalten Krieges die lebensbedrohlichen Konsequenzen der Abschreckungsdoktrin eingehend analysiert und daraus bemerkenswerte Schlussfolgerungen gezogen, die sie in einem Alternativ-Konzept "gemeinsamer Sicherheit" zusammen gefasst hat: "In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren politische, ökonomische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmendem Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen."
Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung ist Sicherheit deshalb nicht mehr vor dem potentiellen Gegner, sondern nur noch mit ihm zu erreichen. Gemeinsame Sicherheit bewirkt Entspannung und braucht Entspannung. Sie zielt auf die Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen und eine drastische Verringerung und Umstrukturierung der konventionellen Streitkräfte bis hin zur beiderseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit.

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[2] http://www.ialana.de/images/pdf/arbeitsfelder/atomwaffen/atomare%20abruestung/ban%20treaty/BanDraft.pdf
[3] https://s3.amazonaws.com/unoda-web/wp-content/uploads/2017/06/A-CONF.229-2017-NGO-WP.37.pdf
[4] https://s3.amazonaws.com/unoda-web/wp-content/uploads/2017/06/A-CONF.229-2017-NGO-WP.381.pdf