Die Disneyfizierung Nordkoreas
Kapriolen zwischen einer Politik der Abschottung und Bedrohung sowie der Öffnung und Verhandlungen
Die gebauten Utopien unserer Zeit zeugen in den meisten Fällen vom Scheitern der Zivilisation. Auch das megalomanische Pjöngjang ist dafür ein Paradebeispiel: Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die nordkoreanische Hauptstadt, stellvertretend für den von Misswirtschaft, diversen gesellschaftlichen Verfallserscheinungen und Hungersnöten geplagten Staat, in sich zusammenbricht.
Während das kommunistische Nordkorea, das vor dem Afghanistan- und Irak-Krieg noch das am meisten unterstützte Land der Welt war, um sein Überleben kämpft, finden zahlreiche Annäherungsversuche statt. Es ist von Kooperation die Rede und von Öffnung. Im Zuge einer vermeintlich neuen Politik wurde in Nordkorea sogar ein Institut für Joint Ventures eingerichtet. Die Sun Shine-Policy des Südens hat im Zuge dessen zahlreiche Projekte hervorgebracht, die nicht nur den größenwahnsinnig-utopistischen Charakter des zum Scheitern Verurteilten tragen, sondern in einer für die Geschichte der Utopien besonderen Kulisse entstehen: Es ist der permanente Kriegszustand, der ihren Charakter entscheidend prägt.
Permanenter Kriegszustand
Beobachter weisen immer wieder darauf hin, dass in Nordkorea allein die Rüstungsindustrie Fortschritte gemacht hat und zum tragenden Sektor der nordkoreanischen Wirtschaft avanciert ist. Doch ist auch Südkorea inzwischen ein hochgerüstetes Land. Mit US-amerikanischer Unterstützung konnte eine moderne und starke Armee aufgebaut werden. Zusätzlich sind 37.000 amerikanische Soldaten an der Grenze zum Norden stationiert, wo sie in regelmäßigen Abständen Kriegsspiele durchführen. Pierre Rigoulot, einer der führenden europäischen Fernost-Experten, notiert:
Südkorea verhält sich wie ein Land im Kriegszustand: Die Kommunistische Partei ist verboten, die nationalen Werte stehen hoch im Kurs, der Militärdienst ist mit zweieinhalb Jahren lang und schwer, weil das Land gut ausgebildete Soldaten benötigt, die Geheimdienste sind auf der Hut. Die unterschiedlichen autoritären Regimes, die das Land bis 1986 regierten, haben die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten häufig mit der Nähe des Feindes begründet, dessen Truppen und Raketen sich nur 40 Kilometer vom Herzen der südkoreanischen Hauptstadt Seoul entfernt befanden und immer noch befinden.
Wenn heutzutage immer wieder von Studentenunruhen zu lesen ist, wird die Aufmerksamkeit der westlichen Beobachter immer am meisten von der Art gefesselt, wie solche Demonstrationen ausgetragen und von den Ordnungskräften behandelt werden. Die Zusammenstöße mit der Polizei, die sich bei diesen Massenaufläufen zwangsläufig ergeben, folgen einer ganz bestimmten Choreographie, an die sich beide Seiten zu halten scheinen. Der Journalist Jonathan Watts spricht von einem "ungeschriebenen Regelbuch der Eskalation":
Zunächst werden die Protestierenden mit einem Riegel von Polizeifrauen konfrontiert, die, mit Lippenstift geschminkt, eine zarte Kordon-Schnur in den Händen halten. Was daraufhin folgt, ist ein vorsichtiges territoriales Geben und Nehmen, ein sanftes Ziehen und Drücken, begleitet von leisem Singen. Nur wenn Steine und Petroleumbomben geworfen werden, kommt die Riot Police zum Einsatz.
Utopie Joint Venture
Unter diesen Umständen, in denen Krieg und Fiktion wie selbstverständlich miteinander verschmelzen, werden Räume in Nordkorea erschlossen. In November 1998 etwa konnte der südkoreanische Industriekonzern Hyundai die nordkoreanische Regierung davon überzeugen, Kreuzfahrten im Südosten Nordkoreas zu organisieren. So wurden unter korporativer Führung südkoreanische Touristen in das vom Militär hermetisch abgeriegelte Gebiet rund um den Kumgang (den Diamantenberg) verfrachtet, wo sie von nordkoreanischen Reisebegleitern in Empfang genommen wurden, die ihnen eiserne Disziplin und bedingungslosen Gehorsam abforderten.
Wer auf die nordkoreanischen Reisebegleiter nicht hören wollte, wurde bestraft: Geldstrafen wurden gegen Touristen verhängt, weil sie ein Stück Papier auf den Boden fallen gelassen, weil sie sich ein paar Meter von den vorgeschriebenen Wegen entfernt, weil sie auf den Boden gespuckt oder weil sie ihre Schuhe an kleinen Wasserläufen gesäubert haben. Eine Besucherin soll sogar wegen einer regierungskritischen Bemerkung für zwei oder drei Tage verhaftet worden sein. Pierre Rigoulot notiert:
In dem Vertrag war festgelegt worden, dass Hyundai monatlich 12 Millionen Dollar an Nordkorea zahlen sollte, wobei der Konzern davon ausging, dass das Unternehmen rentabel sein würde. Als Hyundai innerhalb eines Jahres riesige Summen verloren hatte, wollte der Konzern das Experiment beenden. Ein Abbruch der Kreuzfahrten konnte nur dank der Unterstützung der südkoreanischen Steuerzahler vermieden werden, die von der Regierung in Seoul freundlich in die Pflicht genommen wurden, weil sie fand, dass dieses Unternehmen ihren Zielen zu gute kam.
Zu den ebenso Aufsehen erregenden wie folgenlosen Zeichen einer neuen Öffnungspolitik gehört auch, südkoreanischen Motorradfahrern Zugang zum besagten Kumgang zu ermöglichen. Einer der Vorsitzenden der Vereinigung der südkoreanischen Motorradfahrer erklärte daraufhin feierlich, dass die "Freiheit der Motorradfahrer Symbol der Freiheit des Landes" sei. Auch in diesem Fall waren ahnsehnliche Summen im Spiel. Die Vereinigung zahlte für das Recht, einen von der Armee komplett abgesperrten Parcours befahren zu dürfen.
Little Hongkong
Zuletzt machte das Vorhaben von sich reden, eine neue Sonderzone in Nordkorea zu etablieren. Nachdem das Rajin-Sonbong-Projekt als gescheitert zu den Akten gelegt werden kann, heißt die neue Hoffnung Sinuiju, eine Stadt an der Grenze zu China, die Nordkoreas Testlabor für die Globalisierung werden soll.
Joseph Steinberg von der Dong-eui University nannte es mal etwas zynisch ein "fairy-tale island of prosperity in a desert of incompetence". Die nordkoreanische Regierung pflegt hingegen in hoffnungsvollen Tönen von einem eigenen Hongkong zu sprechen. Die Korea Trade-Investment Promotion Agency (KOTRA) hatte immerhin positive Prognosen abgegeben:
Over the next two to three years, investments into the North Korean city will largely come from Chinese and overseas Chinese entrepreneurs, rather than Western firms. Western companies' investments in Sinuiju are expected to shift into full swing four to five years later, when improvements in infrastructures and business environment become more visible and the city's economic structure stabilizes.
Nach dem bewährten Motto "Ein Land - zwei Systeme" soll Sinuiju eine Sonderwirtschaftszone werden, ein internationales Zentrum für Finanzen, Handel, IT-Industrie, moderne Wissenschaft, Unterhaltung und Tourismus. Um das zu realisieren, erhält die Stadt bis zum 31. Dezember 2052 eine weitgehend autonome Regierung - mit Wahlen und einem gesetzgebenden Rat. Eigene Reisepässe werden ausgestellt und eine eigene Währung. Auch eine eigene Fahne soll es geben: mit Pfingstrose auf blauem Grund, was nicht zufällig an Hongkong erinnert. Chinesisch, Koreanisch und Englisch sollen die offiziellen Sprachen werden.
Ein chinesischer Kaufmann mit niederländischem und nordkoreanischem Pass und Wohnsitz in China wurde als Gouverneur von Sinuiju berufen: Der schwerreiche Orchideenhändler Yang Bing, ein Entrepreneur mit Ruf, nicht zuletzt bekannt dafür, in der Nähe der nordostchinesischen Stadt Shenyang ein 34 Hektar großes "Holland-Dorf" mit Grachtenhäusern, einer Kopie des Amsterdamer Bahnhofs und Windmühle errichtet zu haben.
Doch standen von Anbeginn Probleme im Weg: Weil es nur wenige Kilometer entfernt ist von Seoul, bevorzugt Südkorea Gaesong gegenüber Sinuiju und will lieber dort den kapitalistischen Traum auf kommunistischen Boden wahr werden lassen. China wiederum empfindet Sinuiju als unnötige Konkurrenz, während der Westen die Glaubwürdigkeit des nordkoreanischen way of business anzweifelt. Die Föderation Amerikanischer Wissenschaftler gibt derweil zu Bedenken, dass im Sinuiju Chemical Fiber Complex chemische Waffen hergestellt werden, darüber hinaus, dass noch andere militärische Fabriken im Industriebezirk von Sinuiju angesiedelt sind.
Politik der Öffnung
Yang Bing wurde in der Zwischenzeit wegen Korruption verhaftet und die Ende August 2002 so ruhmreich beschlossenen Pläne, etwa die Eisenbahnlinie Sinuiju-Pjöngjang-Seoul bis Ende desselben Jahres fertig zu stellen, sind nicht umgesetzt worden. Wie Pierre Rigoulot augenzwinkernd festhält: "Selbst verständlich hatte Südkorea zugesagt, die nötigen 330 Milliarden Wong (275 Millionen Euro) zu übernehmen."
Bild 5: Auch Nordkoreas Sozialdesaster ist mittlerweile Bestandteil des popkulturellen Zeichenarsenals (Diesel-Werbung)
Und so bleibt eine Randnotiz aus einer Pressemitteilung des World Economic Forum bezeichnend für den theatralisch-comichaften Charakter der nordkoreanischen Öffnungspolitik:
The Mongolia Prime Minister said that when he was Head of Parliament he was invited to North Korea and was told he might meet the President in Pyongyang. He asked what would be an appropriate gift and was told, perhaps a leather coat. "What size?" he asked. "That's classified information," he was told. Since then the President had been photographed receiving a number of emissaries. "We now know what size he is," he pointed out.
Während Kim Jong-Il zur Pop-Ikone avanciert, unter den trendbewussten Jugendlichen Seouls das Sonnenbrillenmodell des nordkoreanischen Diktators sogar ein richtiger Verkaufsschlager geworden ist und die nordkoreanischen Restaurants der Hauptstadt des Südens einen nie gekannten Gästeansturm erleben, bleibt es, um abermals mit Rigoulot zu sprechen, "Ziel der Führung in Pjöngjang, das Überleben des eigenen Regimes zu sichern. Dazu wechselt es zwischen einer Politik der Abschottung und Bedrohung einerseits und der Öffnung und Verhandlungen andererseits."
Pierre Rigoulot: Nordkorea. Steinzeitkommunismus und Atomwaffen - Anatomie einer Krise. KiWi 2003. 128 Seiten. Euro (D) 6,90 | sFr 12,40 | Euro (A) 7,10