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"Die Eliten versagen, sie sind unfähig, auf die Klimakrise zu reagieren"

Klimagipfel in Glasgow November 2021. Der britische Premierminister Boris Johnson empfängt als Gastgeber die Staatschefs der Welt. Trotz hehrer Versprechungen wird seitdem sogar verstärkt nach Gas und Öl gebohrt. Bild: Andrew Parsons / CC BY-NC-ND 2.0

Klimaforscher Anderson sagt: Das "Davos-Cluster" blockt Klimaschutz und führt uns in die Katastrophe. Finanzinstitute täuschen bei der Energiewende. Warum die Kehrtwende nur von unten kommen kann. (Teil 2)

Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen und die Chefs mächtiger Regierungen geben zwar vor, gegen den Klimawandel vorzugehen. Doch tatsächlich legen sie die Hände in den Schoß und unternehmen nichts, sagt der renommierte Klimaforscher Kevin Anderson vom britischen Tyndall Center for Climate Change Research. Er berät Regierungen und auch Greta Thunberg in wissenschaftlichen Fragen.

Kevin Anderson [1] ist Klimawissenschaftler und ehemaliger Direktor des Tyndall Center for Climate Change Research.

Im Interview mit David Goeßmann von Telepolis erklärt Anderson, warum der Finanzsektor weiter Geld in Kohle, Gas und Öl investiert, wie das "Davos-Cluster" Klimaschutz blockiert und warum Bürger:innen die einzige Hoffnung auf eine Kehrwende bedeuten. Es braucht einen Marshallplan fürs Klima, der den Armen und Unterschichten zugute kommen muss.

Nicht nur die Regierungen halten schöne Reden, sondern auch Finanzinstitute und andere Unternehmen, wenn es um Klimaschutz geht. Sie wollen in Zukunft in die Energiewende investieren, sagen sie. Doch wohin fließt das Geld tatsächlich und wohin nicht?
Kevin Anderson: Zunächst einmal gibt es gar nicht so viel Geld. Wenn wir das Energiesystem dekarbonisieren wollen, ist das eine riesige Herausforderung, die weit über die Investitionen hinausgeht, über die geredet wird. Die Menschen denken immer noch, dass es sich beim Kampf gegen den Klimawandel nur um kleine Veränderungen handelt, aber das stimmt nicht. Es handelt sich um eine grundlegende Veränderung.
Ich verwende oft das Beispiel des Wiederaufbaus Europas nach dem Zweiten Weltkrieg oder Roosevelts New Deal, aber es geht um mehr als das. Jede Facette unserer Infrastruktur – vom Verkehr über Gebäude bis hin zur Industrie und Elektrifizierung des Energiesystems –, all das muss sich innerhalb von ein, zwei, höchstens drei Jahrzehnten verändern. Die dafür nötigen Investitionen fehlen aber weiter.
Sicherlich sind die Summen, über die gesprochen wird, recht groß. Aber sie dienen nicht immer dazu, Technologien voranzubringen. In Wirklichkeit handelt es sich eher um Finanzmechanismen, um letztendlich – wie bei Banken üblich – Geld für die Leute zu erwirtschaften, die die Instrumente in den Händen halten. Die notwendigen Veränderungen werden dadurch nicht erreicht.
Dieselben Leute, die mit Finanztricks gearbeitet haben, die uns in die Bankenkrise 2007/2008 geführt haben, entwickeln nun ähnliche, komplexe Finanzmechanismen, um dem Klimawandel zu begegnen. Die Gelder müssen aber transparent und ehrlich sein. Ich fürchte jedoch, dass das nicht der Fall ist. Zugleich folgt die Klimafinanzierung der Idee, dass wir andere, vor allem in Entwicklungsländern, dafür bezahlen, für uns die Veränderungen zu übernehmen.
Sie haben an einer Studie mitgewirkt, die herauszufinden versucht, warum echte Maßnahmen in Bezug auf die Klimakrise seit drei Jahrzehnten blockiert worden sind. Was sind die Ergebnisse und was können wir daraus lernen?
Kevin Anderson: 23 Autoren haben an der großen, ambitionierten Studie [2] teilgenommen. Wir haben die Frage von Forschern mehrerer Fachdisziplinen untersuchen lassen. Einige betrachteten psychologische Aspekte, andere technische Fragen, wieder andere die Staatsführung. Wir haben aus neun unterschiedlichen Perspektiven die Frage gestellt, warum die Emissionskurve nicht in die richtige Richtung gebogen werden konnte.
Wir kamen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Macht eine zentrale Rolle spielt. Es ist die Machtstruktur, dominiert von einer relativ kleinen Gruppe, die wir in der Studie das Davos-Cluster nennen. Wir sprechen von relativ wenigen Menschen, die man als die globalen mobilen Eliten bezeichnen könnte. Es sind die Direktoren großer Unternehmen, Chefs mächtiger Regierungen, die Vorstände von Finanzinstitutionen und auch einige einflussreiche Wissenschaftler.
Interview mit Kevin Anderson auf Kontext TV.
Und diese exklusive Gruppe hat viel Macht in der Gesellschaft. Ihr Interesse besteht nun darin, diese Macht zu erhalten. Es geht ihnen nicht darum, auf ökologische oder soziale Herausforderungen zu reagieren. Diese Gruppe ist auch gar nicht dazu fähig. Sie können nicht aus ihrer Haut, um bei der Bewältigung des Klimawandels zu helfen. Und doch reden sie so, als ob sie es könnten.
Die Frage ist also: "Woher könnte die Kraft kommen?" Was uns faszinierte: An der gesellschaftlichen Basis orientieren sich Gruppen bereits tatsächlich an den Forderungen der Wissenschaft. Darin involviert sind schon viele Menschen. Der Großteil der Bevölkerung ist nicht in Davos, es ist nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung.
Wenn also die Menschen beginnen würden, die Macht, die sie tatsächlich haben, zu mobilisieren, und sich mehr auf die wissenschaftliche Forschung einzulassen, könnten wir – statt der elitären Top-Down-Form – eine andere Machtstruktur schaffen, die offener ist und Veränderung von unten ermöglicht.
Das soll nicht heißen, dass Führungskräfte nicht wichtig sind. Das sind sie. Es geht vielmehr um das Verhältnis von Bottom-Up und Top-Down. Im Moment werden die Entscheidungen von oben getroffen. Doch die Eliten versagen, sie sind ungeeignet, auf die Klimakrise zu reagieren. Sie sind einer Denkweise und einem Modell verhaftet, die das Problem verursacht haben und einer Lösung im Weg stehen. Wir brauchen also eine Mobilisierung von unten, die uns aus dieser Sackgasse, in der wir stecken, herausführen kann.

Scheitern an zwei Grad Celsius ist das einzige, was wirtschaftlich nicht machbar ist

Welche politischen Maßnahmen sind erforderlich, um eine katastrophale Klimaerwärmung noch zu verhindern? Sind zwei Grad Celsius technisch und wirtschaftlich noch machbar? Wenn ja, wie kann das gehen?
Kevin Anderson: Es ist interessant, hier das Wort "wirtschaftlich" zu verwenden. Tatsächlich wäre ein Scheitern an zwei Grad das einzige, was wirtschaftlich nicht machbar ist. Wirtschaftlich betrachtet bedeutet Nichtstun Chaos.
Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube nicht, dass wir überhaupt eine große Chance haben, die Erwärmung noch auf 1,5 Grad begrenzen zu können. Ich hoffe, dass ich eines Besseren belehrt werde, und finde es gut, dass sich zivilgesellschaftliche Gruppen dafür stark machen. Ich glaube aber, dass wir die Erwärmung noch unter zwei Grad begrenzen können. Das ist nicht nur technisch, sondern politisch möglich. Wir wissen, was zu tun und notwendig ist, doch wir haben nicht den Mut, es umzusetzen. Wir können uns dafür nicht bis 2030, 2040 oder 2050 Zeit lassen, es muss vor 2030 passieren.
Wir stoßen bekanntlich jedes Jahr 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre aus. Um nicht über 1,5 Grad zu kommen, dürfen wir nur noch 320 Milliarden Tonnen ausstoßen (Das ist das Restbudget insgesamt; Anm. d. Red). Es ist nicht schwer zu berechnen, dass nur noch eine Handvoll Jahre dafür übrig bleiben. Daher muss sofort gehandelt werden. Das ist wissenschaftlich eindeutig belegt.
Wenn wir ernsthaft die Katastrophe verhindern wollen, müssen wir uns daher die Frage stellen: "Welche Emissionen können wir umgehend verringern?" Damit sollten wir anfangen. Ein großer Teil wird aus Vorschriften bestehen, die das Verhalten derjenigen von uns ändern werden, die für die meisten Emissionen verantwortlich sind.
Ihre Leser:innen sollten nämlich wissen, dass die Hälfte aller globalen Emissionen von nur zehn Prozent der Bevölkerung stammen und das oberste eine Prozent der Emittenten einen Kohlenstoff-Fußabdruck hat, der doppelt so groß ist wie der der unteren 50 Prozent der Weltbevölkerung. Einige der 0,01 Prozent – die Obamas und die Bidens und die Johnsons und die DiCaprios, und all diese überwiegend männlichen Größen –, sie fliegen zu Klimagipfeln und erzählen uns, was wir gegen den Klimawandel tun sollen. Sie und ihre Ansichten und Lebensentwürfe, die ihnen diesen sehr ressourcenintensiven Lebensstil ermöglichen, sind aber das Problem.
Wir werden am Klimawandel scheitern, wenn wir den Lebensstil derjenigen unter uns, die zu den oberen zehn Prozent und dem oberen einen Prozent gehören, nicht grundlegend ändern. Dazu gehören Leute wie ich und viele hier bei der Klimakonferenz. Das ist offensichtlich. Wir müssen also eine Politik machen, die die Emissionen von den Hochemittenten reduziert.
Gleichzeitig brauchen wir einen Strukturwandel in unserer Gesellschaft bezüglich der Gebäude, des Verkehrs und der Infrastruktur insgesamt. Wir müssen einen großen Teil unseres Energiesystems elektrifizieren. Nur 20 Prozent unserer Energie sind tatsächlich Elektrizität, die anderen 80 Prozent werden in der Regel direkt aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Wir müssen also fast alles elektrifizieren. Das ist eine gewaltige Herausforderung, zugleich ein großes Jobprogramm.
Wir müssen uns dabei von der Vorstellung lösen, dass die Maßnahmen jeden gleich treffen, das ist nicht der Fall. Für die meisten Menschen, worunter auch die durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Emittenten in den westlichen Ländern fallen, geht es nur um strukturelle Veränderungen. Was sich verändert für sie, sind ihre Häuser, Verkehrsmittel oder die Art, wie sie zur Arbeit kommen, wo ihre Arbeit liegt. Die aber, die für die meisten Emissionen verantwortlich sind, geht es um große Veränderungen im Lebensstil.
Das werden sie nicht freiwillig tun. Sie müssen durch Vorschriften dazu gezwungen werden. Wie auch immer wir diese bittere Pille versüßen: Es wird vorübergehend als Opfer erlebt werden. Wir bringen das Opfer für die armen Menschen auf der ganzen Welt, die bereits vom Klimawandel betroffen sind und manchmal auch jetzt schon sterben. Es ist für die Zukunft unserer Kinder, für die Zukunft ihrer Kinder und für die Zukunft der Artenvielfalt.
Meiner Meinung nach lohnt sich das Opfer wegen der enormen Vorteile, die das für die Gesellschaft haben wird – sowohl für die menschliche als auch für die nicht-menschliche.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Kevin Anderson: Vor drei Jahren fiel es mir wirklich schwer, diese Frage zu beantworten. Was mir nun Hoffnung gibt, sind die politischen Bewegungen, die Jugendbewegungen und das gesamte Spektrum der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es sind nicht nur die Märsche, die großen Demonstrationen, über die die Presse berichtet, sondern die Arbeit dahinter.
Immer mehr Leute analysieren die Politik, hinterfragen die Zahlen und entwickeln alternative Szenarien. Sie sind zahlenmäßig der kleinen Elite des Davoser Clusters überlegen. Ich hoffe, dass sie sich Gehör verschaffen und die Politik verändern können. Auf kommunaler Ebene sehen wir schon, dass Bürgermeister und Gemeinderäte eine Politik vorantreiben, die ambitionierter ist als die unserer nationalen Regierungen, auch wenn es bisher noch nicht reicht. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist absolut wichtig und gibt mir Hoffnung.

Prof. Kevin Anderson hat einen Lehrstuhl an der School of Engineering der Universität Manchester und am Centre for Environment and Development Studies (CEMUS) der Universität Uppsala inne. Er war zuvor Direktor des Tyndall Centre for Climate Change Research. Anderson veröffentlicht seine Forschungsberichte u.a. in Science, Nature und Nature Geosciences. Anderson berät diverse Regierungen und Behörden (EU, Großbritannien und Schweden) zu Themen wie Schiefergas, Luftfahrt und Schifffahrt bis hin zur Rolle der Klimamodellierung (IAMs), Kohlenstoffbudgets und "negativen Emissionstechnologien". Er hat Paris-konforme Kohlenstoffbudgets errechnet und Empfehlungen für das britische Klimaschutzgesetz erarbeitet. Zudem berät Anderson Greta Thunberg in wissenschaftlichen Fragen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7165581

Links in diesem Artikel:
[1] http://kevinanderson.info/blog/home-2/
[2] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14693062.2020.1728209