zurück zum Artikel

Die Entdeckung der Vaterschaft

Peter Paul Rubens: Adam und Eva

Nur Weniges hat die Geschichte der Menschheit so geprägt wie die Zeugungserkenntnis

Das Selbstverständliche ist oft unsichtbar. Wie viele Äpfel mussten zu Boden fallen, bevor sich jemand über diesen Vorgang wunderte – und wie viele weitere, bis Isaac Newton davon zur Erkenntnis des Gravitationsgesetzes inspiriert wurde? Für die frühen Menschen, die noch nicht gezielt nach Erkenntnissen suchten, sondern Unerklärliches Dämonen und Geistern in die Schuhe schoben, war schon die Erkenntnis des (eigenen) Todes eine ungeheure geistige Leistung.

Sie unterschied vor etwa 100.000 Jahren den neuen "vernünftigen" Homo sapiens vom Homo erectus und war wohl in erster Linie ein Schock, aber mit Folgen. Erst die Todeserkenntnis führte zur Ausbildung von Religionen mit ihren Vorstellungen von Jenseits und Wiedergeburt sowie zum Bau von bald ins Pyramidale wachsenden Grabmälern.

Die Entdeckung der Vaterschaft

Der zweite große Erkenntnisschritt der Menschheit hat dagegen kaum fossile Spuren hinterlassen, soziale und kulturelle jedoch umso mehr. Irgendwann vor etwa 10.000 oder etwas mehr Jahren muss einer Frau – sicherlich war es eine Frau – die Ahnung gekommen sein, dass es zwischen der flüchtigen Kopulation, die sie und ihre Geschlechtsgenossinnen mit den Männern der Gruppe fast täglich vollzogen, und der Schwangerschaft einen Zusammenhang geben könnte. Es spricht vieles dafür, dass die Sippen der Steinzeit promiskuitiv lebten, heutige Schimpansen und Bonobos (beide Arten sind Nachfahren unserer Vorfahren) tun das jedenfalls.

Väter waren in den Wildbeutergesellschaften unbekannt (und sind es in manchen Naturvölkern noch heute). Schwangerschaft wurde mythisch erklärt, verantwortlich waren Dämonen oder Götter, denen man opfern musste, sollte es mit dem Kinderwunsch nicht klappen (auch heute noch beten ja Gläubige dazu an ihren Gott). Das männliche Glied spielte in der damaligen Gedankenwelt höchstens eine unterstützende Rolle, etwa zur Defloration, oder der männliche Samen diente der Ernährung des Fötus.

Erst mit den Erfahrungen bei der Haltung und schließlich Züchtung von (Haus-)Tieren und mit der Beobachtung des Wachsens von Früchten aus den allerkleinsten Samenkörnern werden solche Ahnungen weiser Frauen zu Erkenntnissen gereift sein. Bei Simone de Beauvoir liest sich das so:

Bei den Nomaden scheint die Fortpflanzung kaum mehr als eine beiläufige Begebenheit gewesen zu sein, und die Schätze des Bodens werden noch nicht erkannt; der Ackerbauer aber bewundert das Geheimnis der Fruchtbarkeit, die in den Ackerfurchen und im Mutterleibe quillt; er weiß, daß er gezeugt hat in der Weise, wie es bei seinem Vieh und seiner Saat sich vollzieht,…

Worin sie irrt: Es war nicht der Bauer, sondern die Bäuerin, welche sich in die Ackerfurchen hocken musste, die meiste schwere Arbeit war und ist in "primitiven" Ackerbaukulturen Sache der Frau. Ausgenommen das Pflügen. Wieder de Beauvoir:

Mit dem Tage also, wo der Ackerbau aufhört, eine wesensmäßig magische Handlung zu sein und zum ersten Male schöpferische Tätigkeit wird, empfindet sich der Mann als Erzeuger; im gleichen Augenblick wie seine Ernten beansprucht er auch seine Kinder für sich. Ebenso wie die Frau der Ackerfurche gleichgesetzt wird, kommt der Vergleich des Phallus mit dem Pfluge auf und umgekehrt. Auf einer Zeichnung der kassitischen Epoche, die einen Pflug darstellt, sind die Symbole des Zeugungsaktes zu erkennen; späterhin ist die Gleichsetzung von Phallus und Pflug häufig plastisch dargestellt worden. In einigen ostasiatischen Sprachen bedeutet das Wort Jak zugleich Phallus und Grabscheit.

Die Frage ist aber, ab wann der Mann seine Potenz – auf dem Acker wie daheim – wirklich als Schöpferkraft begriff, begreifen wollte. Lange Zeit wird es den Frauen, die den Zusammenhang von Sex und Schwangerschaft erkannten, genauso ergangen sein wie allen, die neue Ideen äußern, welche das alte Weltbild auf den Kopf stellen. Erst wurden sie verlacht, dann ignoriert, dann bekämpft. Und das vermutlich von Männern, vielleicht auch schon pflügenden Männern, denen es nicht in den Kopf wollte und vor allem nicht in den Kram passte, nun auch noch für die kleinen Bälger verantwortlich zu sein, um die sie sich ja bisher auch nicht kümmern mussten.

Erst mit Sesshaftigkeit, Ackerbau und Nutztierhaltung wurde die Fruchtbarkeit zur Grundlage der Ökonomie und in der Folge auch der Religion. Ein Paradoxon: Fruchtbarkeitskulte und Mutterverehrung gelangten wahrscheinlich erst dann zu ihrer Blüte, als die Rolle des Mannes bei der Zeugung schon lange durchschaut war. Wenn es Matriarchate gab – und es gab sie, denn einige haben bis heute überlebt –, dann nicht in grauer Vorzeit, sondern in den ersten sesshaften Kulturen, die in der "Neolithischen Revolution" nach dem Ende der letzten Eiszeit entstanden.

Das Matriarchat – ein Paradies für Männer!

Noch vor wenigen Jahrzehnten sahen die meisten Anthropologen das anders. Die "große Muttergöttin" sollte die erste religiöse Institution und das Matriarchat die ursprüngliche Gesellschaftsform gewesen sein. Johann Jakob Bachofen, August Bebel und andere hatten diese Ideen im 19. Jahrhundert populär gemacht, in manchen feministischen Kreisen überleben sie bis heute. Frühe "Venusfiguren" wie die knapp 30.000 Jahre alte Venus von Willendorf werden als Belege angeführt.

Heute zweifelt man allerdings an solchen Interpretationen. Vielleicht waren die üppigen Steinfiguren "begreifbare" Schönheitsideale für das Überleben in einer karger werdenden Umwelt (Eiszeit?), vielleicht auch nur die "Pin-up-Girls" der Steinzeitmänner? Schließlich fand man auch Gegenstücke, wie den etwa 28.000 Jahre alten, recht naturalistischen steinernen Dildo [1] aus der Schwäbischen Alb.

Keinen Zweifel gibt es allerdings daran, dass alle Gesellschaften vor der Entdeckung der Vaterschaft matrilinear organisiert waren. Das heißt, die Abstammungslinie wird allein über die Mütter definiert – wie auch anders? Besitz und Privilegien werden von Müttern auf Töchter vererbt. Manchmal ziehen auch die Ehemänner, so es Ehen überhaupt gibt, in den Haushalt der Frau (Matrilokalität). Heute noch sind laut Wikipedia 13 Prozent der weltweit bekannten 1.300 Ethnien matrilinear organisiert, ein Drittel davon auch matrilokal. Was keineswegs heißt, dass die Frauen damit automatisch die Macht haben, echte Matriarchate gibt es vermutlich nur (noch) eine Handvoll.

Ricardo Coler hat eines besucht und beschreibt in dem Buch Das Paradies ist weiblich. Eine faszinierende Reise ins Matriarchat seinen Aufenthalt bei den Musuo, einem Volk von 35.000 Menschen in Yunnan in Westchina. Hier haben die Frauen die Verantwortung für alles, viele Vorrechte, machen jedoch auch die meiste Arbeit. Die Männer arbeiten auf Zuruf, strengen sich dabei nicht übermäßig an und treffen sich, wenn die Aufgabe erfüllt ist, sofort wieder zum Plausch oder Spiel oder machen ein Nickerchen. Sie wohnen lebenslang im Haus ihrer Mutter, zusammen mit Brüdern und Schwestern und deren Kindern.

Herkömmliche Ehen gibt es nicht, lediglich Besuchsehen: Der Mann klopft nachts an die Tür der Auserwählten, die ihn – vielleicht – einlässt. Neben One-Night-Stands und Gelegenheitslieben gibt es aber auch Beziehungen über viele Jahre. Dass der Mann ins Haus der Frau zieht, ist dennoch eine absolute Ausnahme und nur dann möglich, wenn ihn seine eigene Familie nicht mehr versorgen kann.

Die Vererbung erfolgt rein matrilinear von der Mutter auf die Töchter. Die Vaterschaft ist unwichtig und oft nicht einmal bekannt. Die von Corel interviewten Männer waren mit ihrem Los sehr zufrieden, sorgten sich aber darum, dass ihre Lebensweise nicht dauerhaft anerkannt werden könnte. Zu Maos Zeiten sollten die Musuo mit Zwangsehen patriarchalisiert werden, was letztlich misslang.

Coler findet in seinem Bericht das Urteil vieler Altertumsforscher (und vor allem -forscherinnen) bestätigt, die das Matriarchat für die perfektere und vor allem friedlichere Gesellschaftsform halten. Dabei spielt allerdings wohl auch eine gewisse Idealisierung eine Rolle. Niemand weiß, ob Matriarchate, wenn sie sich durchgesetzt hätten, nicht genauso rücksichtslos ihre Machtinteressen verfolgen würden wie die gegenwärtigen patriarchalen Staaten.

Immerhin zeigen die zwar wenigen, aber lebensfähigen existierenden Matriarchate, dass die Entwicklung zum Patriarchat keine unbedingte Notwendigkeit war. Was den Männern im Matriarchat abgenommen ist, ist die Verantwortung. Und das finden viele offenbar ganz bequem, wenn nicht "paradiesisch".

Der Verlust des Paradieses: das Patriarchat

Neue Gesellschaftsformen setzen sich, wenn sie nicht mit Gewalt übergestülpt werden, nur langsam durch. Die sesshaften Ackerbaukulturen werden die Matrilinearität und Matrilokalität ihrer Vorfahren noch eine ganze Weile beibehalten haben, zumal der neue Fruchtbarkeitskult die Rolle der Mütter stärkte. Doch irgendwann kam die Wende, der Elitentausch – und das sehr radikal. Die Männer, im Bewusstsein ihrer neuentdeckten Schöpferkraft, übernahmen die Macht.

Die Spuren davon finden wir in den Mythen, Religionen und Götterwelten der Völker. Diese sind mehr oder weniger patriarchalisch, doch erzählen sie meist auch sehr fantasievoll, wie es dazu kam. Ganz am Anfang steht immer eine Urmutter, oft identisch mit der Erde (Gaia), oder wenigstens ein Götterpaar (Tiamat und Abzu in der babylonischen Religion). Männliche Götter erringen erst nach meist recht blutigen Kämpfen die Macht. Gemeinsam ist den Schöpfungsmythen auch, dass in ihnen die Zeugung bekannt ist und eine wichtige, oft detailliert beschriebene Rolle spielt.

Die große Ausnahme ist die Bibel. Gott ist von Anfang an da, er ist männlich, und von biologischer Zeugung ist in der Schöpfungsgeschichte (Genesis [2] Kap. 1 bis 3) nirgendwo die Rede, wenn man von der Aufforderung "Seid fruchtbar und mehret euch!" absieht. Vermutlich haben die Autoren, welche im ersten Jahrtausend vor Christi ältere Mythen zu den Texten des Alten Testaments zusammenfassten, alle Details getilgt, welche das Bild vom alleinigen, allmächtigen und durchgeistigten, jeder Fleischeslust abholden Gott stören könnten.

Dabei blieben allerdings zahlreiche Widersprüche, an denen sich Theologen und Philosophen seit 2000 Jahren abarbeiten. Kurt Flasch gibt in Eva und Adam (2004) einen ebenso ausführlichen wie unterhaltsamen Überblick dazu.

Trotz oder gar wegen dieser Zensur gehört die Geschichte von Erschaffung, Versuchung und Sündenfall von Adam und Eva zu den bekanntesten und wirkmächtigsten Geschichten der Welt. Sie ist fast nach Belieben ausdeutbar, und davon haben neben Theologen auch Natur- und Geisteswissenschaftler regen Gebrauch gemacht, oft mit dem ihrem Fach entsprechenden Tunnelblick.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm interpretierte den Sündenfall beispielsweise als Ödipuskonflikt. Er sei "die Darstellung der Verwandlung des Säuglings in den sich mit dem Vater identifizierenden Knaben, die Darstellung der Aufrichtung der Inzestschranke vonseiten des Vaters als Folge des Erwachsenwerdens des Sohnes." Das ist wohl genauso abwegig wie die Interpretation als "Entdeckung der Sexualität" oder des Verbots von Sex mit Minderjährigen.

Unstrittig selbst bei Theologen ist, dass Gott in der Sündenfall-Geschichte das Patriarchat etabliert: "Du hast Verlangen nach deinem Mann; / er aber wird über dich herrschen", ist eine psychologisch perfekt ausgedachte Mischung, denn durch ihr Verlangen kann sich die Frau dieser Herrschaft nicht entziehen.

Natürlich wird umgekehrt ein Schuh draus: Zu der Zeit, als diese perfide Story niedergeschrieben wurde, war das Patriarchat längst ökonomisch und machtpolitisch etabliert, es musste nur noch ideologisch legitimiert werden. Nie gelingt das besser, als wenn man gleich den Benachteiligten selbst die Schuld gibt.

Aber auch den Mann trifft Unbill. "Im Schweiße deines Angesichts / sollst du dein Brot essen", und zwar vom Acker! Damit ist eindeutig der Übergang zur Ackerbaugesellschaft beschrieben. Nichts mehr mit Jagd und Beerensammeln nach Bedarf, jetzt ruft die Arbeit! Der neue Bauer sieht neidvoll auf die sicher noch lange benachbarten, aber vermutlich verfeindeten Wildbeuter-Sippen, die wiederrum die Bauern wegen ihrer seltsamen Erfindung "Arbeit" verachten.

Auch heute noch ist das Jägerhandwerk Inbegriff von Freiheit. Der US-amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins bezeichnete die historischen Wildbeuterkulturen als ursprüngliche Wohlstandsgesellschaften [3]. Die durchschnittlich notwendige Zeit für die Nahrungsbeschaffung und -zubereitung betrug nur zwei bis drei Stunden täglich. Paradiesische Verhältnisse, aus heutiger Sicht.

Als paradiesisch wird auch die sexuelle Freiheit in den Wildbeutergesellschaften erinnert (und romantisiert) worden sein. Im Islam immerhin passen sexuelle Freiheit und Paradies gut zusammen, dort sollen ja die berühmten 72 Jungfrauen [4] auf den Rechtgläubigen warten, während es im christlichen Himmel lediglich Hosianna singende Engel [5] sind – aber wer weiß, vielleicht ist auch hier "die Hauptsache" aus den alten Mythen herauszensiert worden.

Steht die Zeugungserkenntnis in der Bibel?

Nachdem mir vor einigen Jahren aufgefallen war, dass im "Baum der Erkenntnis" die Erkenntnis der Vaterschaft aufscheinen könnte, wunderte ich mich, dass sich darüber in der Literatur nichts fand. Sollte noch niemandem dieser Gedanke gekommen sein? Doch, das war er, zumindest so ähnlich – allerdings einem Außenseiter, dem Schriftsteller und Drehbuchautor Paul Hengge. Hengge veröffentlichte schon 1977 in mehreren Radiosendungen und später in einem Buch seine provokanten Bibelauslegungen, die er mit den hebräischen Urtexten begründete. Im Zentrum steht bei ihm die Zeugungserkenntnis, die den Menschen aus dem Tierreich erhebt. Und er findet diese Zeugungserkenntnis gleich im zweiten Kapitel der Genesis (Gen. 2.21 und 2.22):

Da Ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, und er entschlief, und er nahm ihm eine seiner Rippen und verschloß die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Manne nahm, und brachte sie zu ihm.

Nach Hengge ist mit der Rippe, aus der Gott Eva "baute", ursprünglich der Penis gemeint: Hengge schreibt:

Man darf schon einen ganz anderen Inhalt vermuten, wenn man statt "er nahm eine seiner Rippen" sagt "er nahm etwas von seinem Bogen". Die Wahrscheinlichkeit, daß das hebräische Wort ursprünglich den Penis bezeichnen sollte, ergibt sich aus den beiden anderen Begriffen in diesem Vers: "Stätte" und "Fleisch"

Dies seien nämlich im Hebräischen gebräuchliche Hüllwörter für die Vulva und den weiblichen Leib. Eine triviale, sexistische Interpretation zwar, aber sie könnte passen – die Menschen vor 10.000 Jahren dachten trivial und waren sexistisch.

Hengge zeigt auch, dass dort, wo in der Bibel "nackt" steht (Gen. 2.25):

Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und sie schämeten sich nicht.

ursprünglich vermutlich "klug" gemeint war, denn wenig später stehe für die "Listigkeit" der Schlange das gleiche hebräische Wort (Gen. 3.1):

Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde…

Noch ein paar Verse weiter hat Hengge jedoch gegen die übliche Übersetzung nichts einzuwenden (Gen. 3.7):

Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren; und flochten Feigenblätter zusammen, und machten sich Schurze.

Er erklärt dies so, dass es im Paradies kälter geworden sein könne, und bringt dann auch noch gleich das Feuer ins Spiel, als es nämlich um den Baum der Erkenntnis geht (Gen. 2.16 und 2.17):

Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.

Weil Feuer gut und böse zugleich sei, erklärt Hengge diese Warnung so:

Der Satz, mit dem im Namen Jhwh Elohim den Menschen am Anfang der Kulturentwicklung geboten wird, den Baum des Wissens von dem, was gut und böse zugleich ist, unberührt zu lassen, war vermutlich die Erkenntnis der lebensvernichtenden Gefahr, die aus dem Mißbrauch des Feuers und aller aus der Natur zu gewinnenden Energien für die Gemeinschaft entstehen würde.

So erhellend die Gedanken Henggs oft sind, so überstrapaziert wirken seine Auslegungen hier und an anderen Stellen, so zweifelhaft ist sein Ansatz, die Bibeltexte wörtlich zu nehmen – zwar mit anderen Ergebnissen, aber methodisch doch gleich dem Vorgehen der christlichen Theologen.

In Mythen zeigt sich aber nicht (anders als in Legenden) das Wetterleuchten vergangener Großtaten, Umbrüche und Katastrophen. Es sind keine Geschichtserzählungen, sie sagen uns (nach Günter Dux) nichts über die Zeit, in der sie zu handeln scheinen, aber viel über die Zeit, in der sie selbst entstanden sind. Dort muss etwas Ungewöhnliches passiert sein, das der Erklärung, Rechtfertigung und Legitimation bedurfte. Eben dies leistet ein Mythos mithilfe einer phantastischen Erzählung.

Was also ist passiert zu der Zeit, als die Mythen entstanden, welche den Stoff für die Genesis-Erzählung der Bibel lieferten?

Skandal im Paradies

Es war die Zeit der großen Umbrüche und Erfindungen, die sich zwar über fast 10.000 Jahre hinzog, dennoch heute meist unter dem Begriff "neolithische Revolution" zusammengefasst wird. Die neue, auf Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung beruhende Lebensweise erlaubte den Bau von Tempeln, Siedlungen und Städten und die Unterhaltung von Heeren. Die Sklaverei wurde erfunden, aber auch Töpferei, Münzgeld, Papier und Schrift. Die monotheistischen Religionen lösten schließlich die Vielgötterwelten ab.

Der eigentliche Epochenwechsel bestand aber in der "Erfindung" des Privateigentums, damit von Arbeit und Ausbeutung. Folgt man den Autoren Carel van Schaik und Kai Michel (sie wurden jüngst in Telepolis zu ihrem neuen Buch Die Wahrheit über Eva interviewt [6]), ich zitiere jedoch aus dem 2017 erschienenen Buch Das Tagebuch der Menschheit), so ist es das Privateigentum, das gesichert werden musste. Denn offenbar fehlte den damaligen Menschen die Einsicht:

Mit dem Sesshaftwerden wurde eines der fundamentalen Gesetze menschlichen Zusammenlebens ausgehebelt, eines, das eine halbe Ewigkeit lang ein alltägliches Gebot gewesen war: Nahrung muss geteilt werden! Die neue Idee des Eigentums unterläuft die urmenschliche Solidarität. Plötzlich wird ein Allgemeingut - das Nahrungsangebot der Natur - monopolisiert. Das ist der Skandal! Hier wird eine alltägliche, lebensnotwendige Handlung - das Sammeln von Früchten - nicht nur untersagt; sie wird kriminalisiert.

Die Sünde der beiden naiven ("nackten") Erstmenschen, die noch der Ethik der Wildbeutergesellschaft verhaftet waren und sich dieser Naivität nicht schämten, bestand also darin, fremdes Eigentum – das Eigentum Gottes – angerührt zu haben. Die Strafe war so hart wie der Mundraub banal, doch es ging ja ums Prinzip und um die Abschreckung. Immerhin blieb ihnen der angedrohte Tod erspart. So milde war später die weltliche Justiz nicht mehr. In England stand bis ins 16. Jahrhundert, berichtet Mark Twain, auf Diebstahl im Wert von mehr als 13,5 Pence die Todesstrafe.

(Am Rande: Erinnert Sie das nicht auch an die gegenwärtigen Kämpfe um eine andere Ressource, die Allgemeingut sein sollte: Wissen? An das Gerangel um Zeichen- und Sekundenzahlen bei Zitaten und an die harten Strafen für "Raubkopierer"?)

Das einzige, was gegen die Interpretation des Sündenfalls als Eigentumsdelikt spricht, ist, dass sie nicht schon lange von Priestern und Kirchenvätern selbst vertreten wird. Schließlich stehen die ja zum größten Teil auf der Seite der jeweiligen "gottgegebenen" Eigentumsordnung, egal ob feudal oder kapitalistisch. Selbst der große Reformer Luther predigte gegen die "räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" und forderte die Vernichtung der Aufrührer.

Die verbotenen Früchte am Stammbaum der Erkenntnis

Der "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" ist das wohl größte Rätsel der Genesis, und zudem ist er "im Orient gänzlich vorbildlos", wie van Schaik und Michel schreiben. Die Art der Frucht spielt für sie keine Rolle, auch in der Bibel bleibt dies unbestimmt. Plausibel erscheint die Feige, weil die Sünder gleich nach dem Genuss ihre Blöße mit Feigenblättern bedeckten. Erst im späten Mittelalter wird der Baum als Apfelbaum dargestellt. Konsens ist, dass es wohl "süße" Früchte gewesen sein müssen, mit denen die Schlange Eva und diese dann Adam verführte.

Die sexuelle Deutung lag immer auf der Hand, wurde aber von den führenden Bibelauslegern bestritten - das Elternpaar der Menschheit sollte zumindest im Paradies noch "rein" geblieben sein. Zudem sei der Rausschmiss der Verfehlung auf dem Fuß gefolgt, für Sex gar keine Zeit gewesen. Dante bezifferte (nach Flasch) die gesamte Verweildauer des Paares im Paradies auf sieben Stunden.

Allerdings verweist die Feige recht direkt auf die sexuelle Deutung, denn sie ist wegen ihrer Form von alters her Symbol der Vulva. Ihr lateinischer Name fica steckt als Wurzel noch in heutigen Vulgärwörtern für Koitus. Das bekannteste Symbol für Liebe, das Herz, geht auf die Form einer aufgeschnittenen Feige zurück.

Pikanterweise gibt es unter den christlichen Baumdarstellungen auch welche mit botanisch völlig inkorrekten Früchten. Am eindruckvollsten ist wohl das 800 Jahre alte Fresco eines Phallusbaums [7] in Massa Marittima in der Toskana. Mehrere Frauen pflücken die prallen Früchte in einen Korb. Eine direkte Paradiesdarstellung ist dies offenbar nicht, doch die Anklänge sind unübersehbar, zumal sogar eine Schlange am Fuß des Baumes erkennbar sein soll.

Steckt also im "Baum der Erkenntnis" - was hier behauptet sein soll - das Sinnbild der Zeugungserkenntnis? Die Erkenntnis der Vaterschaft muss wie gesagt für das Weltbild der frühen Menschen ähnlich umwälzend gewesen sein wie die Erkenntnis des Todes. Es wäre also nicht verwunderlich, sie auch in der Bibel zu finden.

Aber was hat es dann mit "Gut und Böse" auf sich? Gibt es denn eine "gute" und eine "böse" Zeugung?

Wenn man die christliche Kirche fragt, lautet die Antwort eindeutig Ja. Sie hat zumindest alles dafür getan, dass es diese Unterscheidung gibt. "Gut" ist nur die unbefleckte Empfängnis, weshalb Jesus kontaktlos vom Heiligen Geist gezeugt worden sein musste und Maria laut gültigem Dogma auch noch nach der Geburt Jungfrau blieb. Wohl keine Sünde, eher ein notwendiges Übel ist die eheliche Zeugung, die aber "ohne Begierde" zu erfolgen hätte, wie viele Kirchenväter postulierten. Jede andere Form von Sex, auch ehelicher ohne Zeugungsabsicht (deshalb das noch immer gültige Verbot von Kondom und Pille), sei Sünde.

Es bleibt aber die Frage nach dem Sinn solch rigider Sexualmoral, wo hat sie ihre Wurzeln? Sicherlich nicht in der persönlichen Philosophie oder Frustration früher Propheten. Van Schaik und Michel verweisen auf die mit der Sesshaftigkeit gewachsene Gefahr von Geschlechtskrankheiten, vor allem aber auf den neuen Besitzanspruch des Mannes.

Zum Privatbesitz des Patriarchen wird, neben Acker und Ernte, nun auch die Frau, die vor den Begehrlichkeiten Anderer verhüllt und weggeschlossen wird. Oder sie wird gezielt geschäftlich verwertet - verheiratet oder verkauft -, bis dahin muss sie natürlich möglichst "neuwertig" bleiben.

Voraussetzung für diese fatale Entwicklung ist wieder die Zeugungserkenntnis. Diese gestattet es dem Mann, sich selbst - in völliger Umkehrung der bisherigen Glaubensordnung - als Schöpfer neuen Lebens und die Frau als bloßes Werkzeug anzusehen. Und die Zeugungserkenntnis baut nun auch die Ahnenfolge völlig um. Genealogie war den Sippen immer wichtig und Stammbäume gab es sicherlich schon in prähistorischer Zeit.

In matrilinearen Sozialordnungen fehlten ihnen jedoch die Väter. Nun lassen sich die Ahnenfolgen entsprechend ergänzen. Das ist die Erkenntnis, die den Menschen am Übergang von der Wildbeuter- zur Ackerbaugesellschaft die Augen öffnet. Sie pflücken sie, bildlich gesprochen, vom (Stamm-)Baum, an dem nun nicht nur Feigen als Symbol der Mütter hängen, sondern auch Phalli.

Vaterrecht ersetzt Mutterrecht

Wenn es dabei geblieben wäre, hätten wir heute eine gerechtere Welt. Doch dem nun mit dem Wissen um die Zeugung ausgestatteten Adam genügte es nicht, gleichberechtigt mit Eva den Stammbaum der Menschheit zu begründen. Schon die nächsten Kapitel der Genesis machen das eindeutig klar: Wo Geschlechterfolgen aufgeführt werden, sind daraus die Frauen fast vollständig getilgt.

In ermüdend langen Aufzählungen werden dagegen akribisch die Söhne, deren Söhne und wieder deren Söhne namentlich genannt. Die Botschaft ist eindeutig: Für die Genealogie und damit auch die Erbfolge gelten nur die Männer. Das ist eine radikale Umkehr der früheren matrilinearen Geschlechterfolge, mit dramatischen Folgen. Paul Lafargue schreibt 1886:

Der Übergang der Abstammung von der Mutter auf den Vater bedeutet eine soziale Revolution; er beraubte die Frau ihrer Güter, ihrer durch das Alter und die Religion geheiligten Vorrechte. Diese Umwälzung ging nicht immer auf friedlichem Weg vor sich: Ihre Geschichte ist mit blutigen Lettern in eine Sage Griechenlands geschrieben, dessen größte Dichter daraus Dramen verfaßten.

Lafargue analysiert als Beispiel die "Orestie" von Aischylos. Die Trilogie spielt in einer Zeit der Blutrache, die auch innerhalb von Familien wütet. Klytaimnestra tötet mit Hilfe ihres Geliebten Aigisthos ihren Ehemann Agamemnon, weil der ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert hat, um den Trojanischen Krieg beginnen zu können. Iphigenies Bruder Orestes rächt seinen Vater, indem er sowohl Aigisthos als auch seine Mutter Klytaimnestra tötet.

Muttermord war in der alten, mutterrechtlichen Ordnung das schlimmste aller Verbrechen, deshalb fordern die Rachegöttinen (Erinnyen bzw. Eumeniden) Sühne. Doch in einer Art Gerichtsprozess, in den sich Apollon und Athene höchstpersönlich einmischen, wird Orestes freigesprochen. Apollon repräsentiert die neue vaterrechtliche Ordnung und Athene ist seine Kronzeugin, denn sie ist von keiner Mutter geboren, sondern dem Kopf von Gottvater Zeus entsprungen (in voller Kriegsrüstung übrigens). Vatermord wiegt nun schwerer als Muttermord und muss, auch gegen die Mutter, gesühnt werden. Aufschlussreich ist die Begründung Apollons:

Drauf sag ich also, mein gerechtes Wort vernimm:
Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin,
Sie hegt und trägt den eingesäten Samen nur;
Es zeugt der Vater, aber sie bewahrt das Pfand,
Dem Freund die Freundin, wenn ein Gott es nicht verletzt.
Mit sichrem Zeugnis will ich das bestätigen:
Denn Vater kann man ohne Mutter sein - Beweis
Ist dort die eigne Tochter des Olympiers Zeus,
Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg, …

Für die neue vaterrechtliche Ordnung existiert nun noch nicht einmal mehr eine Blutsverwandtschaft zwischen Mutter und Kind. Der Schnitt ist so radikal, dass Orestes der Sage nach später sogar seine Halbschwester mütterlicherseits (Erigone) heiraten durfte. Von nun an ist die Mutter nur das Gefäß, in dem der Samen des Mannes (in dem das Kind schon komplett als Homunkulus angelegt sein soll) bis zur Geburt heranreifen kann. Diese Ansicht hielt sich bis ins 19. Jahrhundert, die menschliche Eizelle wurde erst 1827 entdeckt.

Die Geburt der Verantwortung

Aus männlicher Sicht dürfte diese Entdeckung zu den Kränkungen zu zählen sein, die (laut Sigmund Freud) neben den Entdeckungen von Kopernikus (die Erde ist nicht Mittelpunkt der Welt), Darwin (der Mensch stammt "vom Affen" ab) und Freud selbst (der Mensch ist Sklave seines Unbewussten) an seiner Einzigartigkeit als "Krone der Schöpfung" knabbern. Schließlich konnte er sich durch eine andere Bibelgeschichte sogar ein wenig Gott ebenbürtig fühlen. 41 Tage nach der Kreuzigung erhielt Jesus per Himmelfahrt den Platz an seines Vaters Seite, was heute viele als "Vatertag" feiern.

Der Preis dafür war jedoch hoch: Es war der absolute Gehorsam des (nach Adam) zweiten Gottessohns bis in den Tod am Kreuz. Damit lesen sich diese Bibelstellen als höhst effektive Unterdrückungsmuster nicht nur gegen Frauen, sondern ebenso gegen Männer. Es geht um den blinden Gehorsam, den Eva und Adam verweigerten, den Jesus nachholte und damit "Erlösung" brachte.

Es geht um die völlige Unterwerfung unter einen "Gott", der für die jeweilige Ordnung steht, in erster Linie für eine Eigentumsordnung, deren Sinn der Vernunft nicht zugänglich ist – weil er eben unvernünftig ist. Aber die Gedanken des oder der Herren sind sowieso für die "Sterblichen" unergründlich.

Das galt und gilt für Feudalherren, die ihre Macht direkt göttlich legitimieren, bis zu Unternehmern, die ihre Entscheidungen aus unabänderlichen Marktgesetzen herleiten. Hier wirkt eine Untertanenideologie, die spätestens seit der bürgerlichen Revolution anachronistisch geworden ist und so gar nicht zum Ideal der Demokratie passt. Aber überlassen wir dieses Dilemma den Gläubigen, in denen es ja auch sehr differenzierte Strömungen und viele Reformbemühungen gibt.

Halten wir uns lieber an die vorwärtsweisende, die gute Seite der Zeugungserkenntnis: Mit ihr ist die Verantwortung in die Welt gekommen. Jahrhundertausende konnten sich die Menschen hinter Dämonen und Göttern, hinter dem Schicksal, dem Freud'schen Unbewussten und schließlich sogar den Hirnforschern verstecken, die angeblich bei neurologischen Experimenten keinen freien Willen entdecken konnten. All das ist widerlegt.

Die Zeugungserkenntnis zeigte den Menschen erstmals etwas, was sie zuvor nur den Göttern zustanden: Sie können selbst Schöpfer sein! Wo Freud nur Kränkungen fand, finden wir hier die erste Ehrung, die Erhebung des Menschen über seine tierische Natur.

Die Menschen lernten damit aber auch, dass sie für etwas verantwortlich sein können, was sie nicht gewollt haben und was auch noch zeitlich und räumlich weit entfernt ist. Eine auch heute noch schwierige und nicht allgemein verbreitete Denkleistung, wenn man nur die jahrzehntelange Leugnung des menschenverursachten Klimawandels nimmt. Die Menschen vor 10.000 Jahren machten den Anfang, und wir lernen immer noch.

Literatur

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht (1949)

Ricardo Coler: "Das Paradies ist weiblich. Eine faszinierende Reise ins Matriarchat" (2010)

Kurt Flasch: "Eva und Adam" (2004)

Erich Fromm: Die männliche Schöpfung (1933)

Paul Hengge: Die Bibel-Korrektur. Auch Adam hatte eine Mutter. (1979/1993)

Günter Dux: Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen Frau und Mann (1992)

Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät (2017)

Mark Twain: Prinz und Bettelknabe. Eine Erzählung für die reifere Jugend. (1881)

Stefan Hammerl: Der Phallusbaum (2018)

Paul Lafargue: Das Mutterrecht - Studie über die Entstehung der Familie (1886):


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6045420

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/eiszeit-erotik-archaeologen-entdecken-stein-phallus-a-366742.html
[2] https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/gen1.html
[3] https://www.wildnisschule-waldkauz.de/Artikel/Die%20ursprüngliche%20Wohlstandsgesellschaft.pdf
[4] https://wikiislam.net/wiki/72_Jungfrauen
[5] https://youtu.be/VvdEgkqei6c
[6] https://www.heise.de/tp/features/Geschlechterrollen-Alles-ist-fliessend-6010976.htm
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Phallus_tree