Die Entzauberung des Scheins
Zur Ästhetik der virtuellen Realität
'Virtuelle Realität' ist der Titel für unterschiedlichste Formen computergenerierter Nachbildungen der Wirklichkeit - von textbasierten virtuellen Gemeinschaften der MUDs und MOOs des Internet bis hin zu multimedialen Enviroments aus den High-End Rechnern der Studios Hollywoods. Die radikalste Version der virtuellen Realität ist die anstehende Erzeugung einer digitalen Simulation dreidimensionaler Räumlichkeit im globalen Computernetz, kurz: der Cyberspace. Ihn auszubauen, ist eines der gemeinschaftlichen Ziele einer großen Koalition von privaten Computeranwendern und der Soft- sowie Hardwareindustrie; die Resultate vom eigenen Rechner oder von öffentlichen Terminals aus zu betreten, ist en vogue schon, bevor es sich lohnt. Proportional zu der Kapazität des Rechners, welcher die Simulation erzeugt, nimmt unsere Fähigkeit ab, sie als Simulation überhaupt noch wahrzunehmen. Darin gründet die Faszination der virtuellen Welten. Der Schein der Simulation, keine zu sein, hat den Mythos begründet, sie sei mehr als bloße Illusion eine ganz eigene und ganz wirkliche Welt; kein Teil der empirischen, sondern eine dieser irgendwie parallel liegende, kybernetische Nebenwelt im digitalen Raum: eben die virtuelle Realität. Doch - was heißt eigentlich: 'Virtuelle Realität'?
Über/Setzung
Der Terminus 'Virtuelle Realität' - virtual reality, denn (natürlich) geht der deutsche Begriff auf ein englisches Original zurück - ist wörtlich zu übersetzen als Wirklichkeit, die wirklich eine werden kann, auch wenn sie es noch nicht ist; eine mögliche Wirklichkeit. Macht es Sinn, danach zu suchen? Ist eine wörtliche Übersetzung überhaupt möglich? Haben wir es nicht bei jeder Übersetzung mit nur einer von mehreren möglichen Deutungen zu tun? Gibt es mithin nicht schon im Bereich der Sprache mehr als eine Wirklichkeit? Und ist jede Übersetzung nicht immer schon auch ein Über-Setzen in eine fremde, andere Wirklichkeit, eine andere Möglichkeit zu sein? Und ist dann auf gewisse Weise auch nichts anderes, als die Übersetzung in den kybernetischen Raum?
Reise in fremde Welten
Die Reise in die virtuelle Welt des Cyberspace ist eine Übersetzung, in der der Reisende, der Übersetzer, scheinbar gänzlich in die andere Welt übergeht, eintaucht, sich auflöst im Fremden. Darin besteht eine Pointe der Reise in den Cyberspace - daß wir uns vermeintlich in eine völlig andere Welt, eine radikal verschiedene Dimension der Wirklichkeit mit gänzlich neuen Regeln begeben, ohne uns zu entfernen, ohne uns überhaupt zu bewegen. Denn schließlich bleibt der Körper der Cybernauten außerhalb des Speichers der Netzwelt, bleibt seine Interaktion mit den Gesetzen der kybernetischen Dimensionen - zumindest im gegenwärtigen Stadium der technischen Entwicklung - auf kurze Bewegungen der Augen und des Körpers beschränkt. Die vollständige Immersion in die Datenfluten des Cyberspace ist - zumindest derzeit - so vollständig nicht. Im Reich der Algorithmen ist der Körper ein mathematisches Konstrukt, Sinnlichkeit Simulation.
Die abstrakte Simulation menschlicher Körper hat zweifellos ihren eigenen Reiz; sie ist gleichwohl ein bloßes Nebenprodukt der Übersetzung in die virtuelle Dimension. Entscheidender als jede Simulation realer Körper ist die temporäre Substitution der leiblich-konkreten durch eine geistig-abstrakte Existenzweise. Der multimedial aufgerüstete PC ist mehr als das Werkzeug seines Benutzers eine Extension seines Selbst. Als Pilot eines quasi-lichtschnell operierenden Hochgeschwindigkeitsprozessors, digital gespeichert auf Siliziumbasis, wird der Cybernaut zum ätherischen Lichtwesen. Diese Transformation gibt einer alten Sehnsucht der Menschheit neue Nahrung. Endlich, so beschwört es die von Esther Dyson, George Gilder, Alvin Toffler und anderen im Sommer 1994 verfaßte und mittlerweile bereits legendäre Magna Charta für das Zeitalter des Wissens, "(gewinnen) die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge".
"Unsere Welt", so John Perry Barlow in seiner Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, ist überall und nirgends; und sie ist nicht dort, wo Körper leben. (...) Es gibt im Cyberspace keine Materie." Die Beschwörung dieser Geisterwelt dient ihren Propheten vor allem zur Abwehr politischer und staatlicher Interventionen in die vermeintlich freie Sphäre des Internet. Sie ist aber nicht nur ein Dokument des radikalen Liberalismus, sondern vor allem ein ein Element des Mythos Internet - und voller philosophischer und metaphysischer Implikationen. Die Ablösung vom Körper erscheint als Erlösung von dessen vergänglicher Schwäche und flüchtiger Materialität; eine Erlösung, die selber zwar nur für die kurze Weile des Aufenthalts im Cyberspace hält, die dabei jedoch den Schein erweckt, als würde die Entscheidung über die Begrenztheit und Vergänglichkeit unserer Existenzform neu eröffnet und in unsere eigene Verfügbarkeit überführt. Mit der Öffnung in den Cyberspace ist ein Riß im Raum entstanden. Durch ihn leuchtet eine Verheißung. Die Übersetzung in die virtuelle Realität des Computers verspricht nicht weniger als die Überwindung der Differenz von Sein und Nicht-Sein.
Die mögliche Welt und die Welt des Möglichen
Dieses Versprechen einzulösen, ist selbstverständlich nicht möglich - zumindest nicht: wirklich möglich. Aber eben das ist ja der Vorteil einer bloß möglichen Wirklichkeit, wie sie die virtuelle Realität darstellt - daß sie nicht nur das Unwirkliche künstlich zu realisieren, sondern auch das Unmögliche wirklichkeitsgetreu zu simulieren vermag. Allerdings bleibt selbst die täuschendste Simulation der Wirklichkeit ihre Imitation, und wird dadurch weder wirklich - noch, so sollte man meinen, möglich. Doch können wir da so sicher sein? Was wissen wir schon über das Mögliche? Und wo ist es zu Ende?
Die Verwirklichung der virtuellen Realität ist, folgt man seinen Propheten, ein Beleg für die erworbene Fähigkeit des Menschen, in den evolutionären Prozeß der eigenen Spezies kontrollierend einzugreifen und qualitative Veränderungen herbeizuführen, denn, so das entsprechende Argument, der Cyberspace erlaubt es uns, jene spezifische Art und Weise der biologisch determinierten Wahrnehmung von und Bewegung in den Grenzen des Raum-Zeit-Kontinuums, welche unsere Lebensform von anderen Lebensformen unterscheidet, entscheidend zu modifizieren. Schließlich ermöglicht es uns die mathematische Simulation zum Beispiel mühelos zu fliegen, durch Wände nicht nur zu sehen, sondern zu gehen, aber auch, unsere somatische Identität abzustreifen und in beliebige fremde Körper zu schlüpfen. So ist die virtuelle Realität offenbar mehr als ein abstraktes Gedankenexperiment (denn die kann man gemeinhin nicht betreten. Wer eintaucht in den virtuellen Raum, der betritt zwar nicht unbedingt die beste aller möglichen - aber er gewinnt, so scheint es, alle möglichen Welten.
Der, und sei es künstlichen, Realisierung von Erlebnis- und Erfahrungswelten, die wir für unmöglich halten, haftet etwas Magisches an. Die Unterhaltungsindustrie hat das verstanden und für ihre Zwecke dienlich gemacht. Doch hinter jedem Zauber steckt eine rationale Erklärung - und wer das übersieht, macht aus dem magischen schnell ein mystisches Erlebnis.
Soviel allerdings können wir festhalten: Für die Dauer des Aufenthalts in den virtuellen Welten des Cyberspace wird dem Menschen die Möglichkeit einer ebenso innovativen wie inhumanen (im Sinne von: gattungsunspezifischen) Bewegung innerhalb der schlechthin wirklichkeitskonstitutiven Dimensionen von Zeit und Raum eröffnet. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, ob der Prozeß, der damit in Gang gesetzt ist, die Voraussetzung dafür schafft, die virtuelle Realität nicht nur als experimentelles Modell einer Welt alternativer Wahrnehmungs- und Kommunikationsweisen - sondern tatsächlich als alternative Dimension zur Wirklichkeit selbst anzuerkennen? Dies ist die Frage nach dem ontologischen Status der virtuellen Realität und dem Existenzmodus ihrer Bewohner. So beliebig es im simulierten Raum wird, was etwas ist, so unklar bleibt, wie etwas ist: als (echtes, weil wirkliches) Seiendes - oder (aufgehoben in der Scheinwelt der Simulation) als Nicht-Sein.
virtual reality - the very idea
Natürlich ist es die Anerkennung als eine Alternative zu der Wirklichkeit, die wir kennen, welche die virtuelle Realität für sich reklamiert. Genau das macht ihren besonderen Reiz aus. Mehr zu sein, als eine partielle Abweichung ins bloß Imaginäre - das ist jener Mythos, den ihr Begriff bereits suggeriert. Was durch den spezifischen Gebrauch des Prädikats des Virtuellen im Bereich der digitalen Technologien noch verstärkt wird:
Im Computerjargon wird der Terminus 'virtuell' immer schon verwendet, um auf Ersetzungsfunktionen zu verweisen. So bezeichnet zum Beispiel 'virtual memory' [virtueller Speicher] den Gebrauch eines Bereichs der Festplatte als etwas anderes, in diesem Fall als 'random access memory' [Arbeitsspeicher]. 'Virtual reality' ist ein weit gefährlicherer Begriff, weil er suggeriert, daß die Wirklichkeit sich vervielfältigen oder unterschiedliche Formen annehmen könnte
Mark Poster
Über Posters Einschätzung der Gefahr der virtuellen Realität läßt sich wohl streiten; auf seine Gründe komme ich gleich zurück. Seine Konsequenz allerdings scheint zunächst schlüssig: Von virtueller Realität kann nur reden, wer unterstellt, es gebe mehrere (zumindest: zwei) Realitäten, die sich dann je anders, zum Beispiel als 'virtuell', prädizieren ließen.
So what, könnte man sagen: was soll's. Die Tatsache allein, daß es möglicherweise mehr als nur eine Realität gibt bzw. daß die Realität mehr als nur einen Ausdruck hat, bietet kaum einen gerechtfertigten Anlaß zur Besorgnis. Der stellt sich erst ein, wenn eine weitere Annahme sich als richtig erweist - wenn nämlich die unterschiedlichen Realitätsweisen als gegensätzliche verstanden werden müßten in dem Sinne, daß sie zueinander in einem Verhältnis kritischer Konkurrenz stehen: und die eine die andere zu beeinflussen, verändern oder gar zu verdrängen (in-) tendiert. Nur aus dieser Perspektive eines ausschließenden Konkurrenzverhältnisses ist es plausibel, daß die eine - die virtuelle Realität - den Bewohnern der Anderen - der echten Wirklichkeit - als Bedrohung, als Gefahr erscheint, wie nicht nur Poster meint.
Die Virtualität zielt nur auf die Prostitution, auf die Auslöschung des Wirklichen durch sein Double
Jean Baudrillard
Eine ausführliche Beschreibung der vermeintlich bereits erfolgten Auslöschung der Realität hat Baudrillard jüngst vorgelegt in seinem Buch über Das perfekte Verbrechen - weswegen er die virtuelle denn auch gern als viruelle Realität bezeichnet. Erst hier, wo die Diskussion des ontologischen Status der virtuellen Welten mit dem Blick auf ihre vermeintlich konkurrierende Relation zur wirklichen Welt zusammentrifft, haben wir den Kern der Debatte um das Phänomen der künstlich genererierten Räume des Cyberspace erreicht - jenes thematische Zentrum, um das sich die polemischen Konstruktionen von Kritikern und Apologeten gleichermaßen gruppieren.
Es gibt - strengenommen - keine 'Virtuelle Realität'. Um dies zu verstehen, müssen wir kurz rekapitulieren. Von virtueller Realität, soviel haben wir bereits festgestellt, kann nur reden, wer unterstellt, es gebe mehr als eine Realität - die sich dann je anders, zum Beispiel als 'virtuell', prädizieren ließen. Um eine Realität im Sinne des skizzierten Konkurrenzverhältnisses als eine bloß virtuelle zu bestimmen, muß man offensichtlich davon ausgehen, daß es eine ursprünglichere Wirklichkeit gibt, zu der jene erst hinzutritt, um ihr dann möglicherweise die Vorherrschaft streitig zu machen. Wer virtuelle Realität sagt, unterstellt damit zugleich - gewollt oder ungewollt -, es gebe eine einzige eigentliche und wahre Wirklichkeit. Das ist falsch. Ebenso absurd ist freilich auch das Gegenteil: die (für Parmenides am Ende zwingende) Annahme, wie sie beispielsweise Baudrillard wiederholt mit der Unterstellung, wir führten längst schon ein Schein-Leben "im endgültigen Nihilismus", in dem es "kein Jenseits der Simulakren" mehr gibt. (Wer vermag, wenn das so ist, es zu erkennen - ohne nach dem Modell der klassischen contradictio in adjecto seine Kriterien dem Jenseits zu entnehmen, das es nicht länger geben soll?)
Ein Grund des Irrtums dürfte in beiden Fällen der irreführende Wunsch nach einer Welt der klaren Grenzen und strikten Differenzierungen sein, der Wunsch nach einer ordnenden Struktur der sauberen Dichotomien. Materie versus Immaterialien, Leib versus Seele, real versus virtuell, Sein versus Schein: die Erblast des Parmenides. An der Illusion solcher dualistischer Ordnungsprinzipien festzuhalten aber ist eine wesentliche Bedingung dafür, die digitale Welt der Computersimulationen und die Realität außerhalb der Speicher gegeneinander überhaupt erst ausspielen zu können - sei es, um diese zu retten, oder um jene zu feiern.
Es gibt keine 'virtuelle Realität', weil es 'die eigentliche Wirklichkeit' nicht gibt, gegen die jene sich abgrenzen müßte. Das eben bedeutet nichts anderes, als daß sich das Virtuelle zumindest nicht auf dem Weg einer kategorischen Abgrenzung gegen das Reale verstehen läßt. Damit aber führt die Beschäftigung mit dem ontologischen Status des Cyberspace dazu, bereits die Frage nach seinem Sein oder Nicht-Sein anders zu verstehen - nicht als Suche nach einer abschließenden Antwort, sondern als Aufforderung, sie als Frage anzunehmen. Die Pointe ist die Betonung. Hamlet: "Sein? - oder: Nicht-Sein? - das ist die Frage".
Die Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein anzunehmen heißt, die Spannung, die in ihr steckt, auszuhalten. Dies von ihren Besuchern zu verlangen, ist das vielleicht entscheidende Potential, durch welches die virtuelle Realität wenn schon nicht zum ontologischen Paradigmenwechsel (wie der amerikanische Philosoph Michael Heim unterstellt), so doch zu einer ontologischen Herausforderung werden kann. Der Weg, der sich an dieser Stelle öffnet, ist gekennzeichnet durch eine gewisse Unentschiedenheit - mehr noch, durch eine entschiedene Verteidigung der Unentscheidbarkeit solch vertrackter Probleme wie 'Sein' oder 'Wahrheit' oder 'Wirklichkeit' ... .
Nach der erfolgreichen 'Abschaffung der wahren Welt' (Nietzsche) bleibt uns als Ausgangspunkt für die weiteren Bestimmungen der virtuellen Realität die Einsicht, daß die Realität tatsächlich relativ ist. Mit der endgültigen Relativierung der Realität ist das Bild einer einheitlichen Wirklichkeit allerdings irreparabel zerbrochen. In seinen Scherben spiegelt sich die Pluralisierung und Diversifikation der Wirklichkeit - die wir ja längst als conditio sine qua non der Rede von der virtuellen Realität anerkannt haben. Dieser Prozeß der Vervielfältigung der Realität ist jedoch keineswegs notwendigerweise als ein Prozeß ihrer Entwertung zu verstehen, wie ihn Jean-François Lyotard beschreibt, wenn er behauptet, daß "mit der Moderne [...] im Zusammenhang mit der Erfindung anderer Wirklichkeiten stets die Entdeckung einher[geht], wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist."
Die Relativierung der Realität zu einer Wirklichkeit neben anderen bedeutet nicht, daß das, was ist, verschwindet - wie es Lyotard im Anschluß (und wohl durchaus im Sinne auch von Poster, Baudrillard und so manchem anderen) formuliert - sie erlaubt es vielmehr, das, was ist, als das, was es ist, besser (nuancierter, detaillierter, differenzierter) zu beschreiben.
Der Prozeß, mit dem diese Einsicht sich schließlich durchsetzt, beginnt freilich nicht erst mit Nietzsche. Er setzt bereits beispielsweise ein mit der Entdeckung, vielleicht sollte man besser sagen: der Erfindung der Zentralperspektive durch die Malerei der Renaissance. Mit ihrer neu entwickelten illusionistischen Technik ist es dieser Malerei schließlich nicht nur gelungen, auf einer zweidimensionalen Bildfläche dreidimensionale Raumeffekte wirklichkeitsnah nachzubilden. Sie hat zugleich ein erstes Verständnis für die Tatsache geweckt, daß sich die Wirklichkeit immer erst vom Standpunkt ihres Betrachters aus erschließt - und mit dessen Bewegung verschiebt. Den theoretischen Zusammenhang von Wahrnehmungswandel und Erkenntnis hat Immanuel Kants kopernikanische Wende später dann philosophisch reflektiert mit der These, wonach wir die Welt nie erkennen, wie sie an sich ist, sondern immer, wie sie uns erscheint.
Statt des Verlusts der einen Wahrheit in einer Welt des bloßen Scheins stellt die Perspektivität der Wahrnehmung der Realität sich als Bedingung dafür dar, überhaupt etwas wahr-zunehmen.
Aus einer neuen Perspektive sehen wir nicht einfach die Welt anders - wir sehen eine andere Welt. Daß die Kunst, deren wissenschaftlichster Epoche wir nicht nur wichtiges Anschauungsmaterial, sondern vielleicht den entscheidenden Anstoß zu dieser Einsicht verdanken, eine bestimmte Art der Wahrnehmung nicht nur erfordert, sondern hervorbringt, bedeutet schließlich nichts anderes, als daß die Sichtweise, die sie der Wirklichkeit gegenüber einzunehmen vorschlägt, eine eigene Welt erschafft: Die Kunst ist, wie Wissenschaft oder Sprache, eine 'Weise der Welterzeugung' (Nelson Goodman), die allerdings, anders als die sprachliche und wissenschaftliche, nur als eine künstlerische funktioniert. Die Welt der Kunst wird so zu einem Modell, an dem sich ablesen läßt, wie die Auflösung der Vorstellung von der einen wahren Welt zu einem genaueren Verständnis der Wirklichkeit führen kann.
Das für unseren Kontext Entscheidende der künstlerischen Weise der Welterzeugung ist dabei die Tatsache, daß sie vor einer Verwechslung mit der Realität gefeit ist. Hat die perspektivische Bildgestaltung der Renaissance das Bewußtsein der Pluralität der Wirklichkeit mit begründet, so hat die Entwicklung der Kunst seither mit ihrer zunehmenden Emanzipation vom Paradigma der Abbildung - der Zuweisung der Nachahmung der visuell-wahrnehmbaren Realität als oberster Aufgabe der bildenden Kunst - die Einsicht in die Differenz vermittelt, welche ästhetische und nichtästhetische Dimensionen der Wirklichkeit trennt.
Der Vorteil, der sich für uns an dieser Stelle daraus ergibt, die ästhetische Realität als ästhetische zu beschreiben, besteht darin, daß wir nun die künstlerische Weise der Welterzeugung und die künstliche Welt des Cyberspace zueinander in Beziehung setzen können. Was sie nämlich eint, die ästhetische und die virtuelle Realität, ist die Tatsache, daß sie beide eine Welt darstellen, deren Koordinaten sich nicht sinnvoll auf Referenzobjekte innerhalb unserer Alltagswelt ausrichten lassen - eine Welt, die kein Außen hat. Diese fehlende Referentialität nun ist dasjenige, was die künstlerische Weise der Welterzeugung von anderen Formen der Realitätsbildung spezifisch unterscheidet. Aus der Perspektive dieser spezifischen Differenz stellen die telematischen Räume der virtuellen Realitäten dann allerdings tatsächlich nur einen Sonderfall innerhalb der Reihen der ästhetischen Welten der abstrakten Imagination dar - und eben keine Verdopplung der Realität zu einer alternativen Wirklichkeit. Indem wir die Frage nach der ontologischen Würde der virtuellen Realität durch den Hinweis auf ihren ästhetischen Status beantworten, lösen wir den Cyberspace aus dem Konkurrenzverhältnis zur Wirklichkeit - und ermöglichen es zugleich, seine Stellung innerhalb der Wirklichkeit neu zu bestimmen.
Die Verschiebung
Wer den Cyberspace als Medium zur Weltaneignung verwendet, gewinnt die Möglichkeit, sich der Wirklichkeit aus bislang unbekannten Wahrnehmungsperspektiven zu nähern, aber natürlich auch die Möglichkeit, aus der Wirklichkeit in immer neue digitale Phantasiewelten zu flüchten. Die Bestimmung der virtuellen Realität als einer weiteren Dimension der ästhetischen Ordnung führt damit zugleich unübersehbar zurück zum griechischen Ursprung unserer Ästhetik - zur Aisthesis, zur Wahrnehmung; durchaus im Sinne der Wahr-Nehmung: Ein ästhetischer Raum ist der Cyberspace als aisthetischer.
In ständiger Veränderung, Entwicklung und Erweiterung, ohne feste Basis oder konstante Grenzen erfüllt der Cyberspace dabei im Grunde keines der Kriterien, die ihn als einen Raum - im Sinne einer klar bestimmten lokalen Struktur, eines stabilen Ortes - zu benennen rechtfertigte. Stets in Bewegung, ändert die virtuelle Realität mit jedem Bild, das wir in sie einspeisen, jedem Satz, den wir in ihr äußern, ihre Gestalt. Sie ist kein Ort, kein Topos; die virtuelle Realität läßt sich besser verstehen, so Phillipe Quéau, als "ein Ensemble von Verschiebungen" - Verschiebungen von Raum und Zeit, sinnlichen Wahrnehmungs- und logischen Vorstellungswelten; ja, sogar der persönlichen Identität: zumindest in dem Sinn, als die Übersetzung in den Cyberspace statt zur Ablösung des Geistes vom Körper (und damit zu jenem enthusiastisch als endgültig beschworenen Sieg über die Materie) zur Erfahrung einer temporären Zäsur innerhalb des Selbst führen kann, weil der Cybernaut in seinem als mathematische Simulation in das Innere der Welt der Rechner verschobenen Körper ja seinen natürlichen Körper zwar draußen gelassen, aber eben keineswegs abgestreift hat - und spätestens dessen (d.h., seine) leiblichen Bedürfnisse den Reisenden mit der eigenen Doppelexistenz (die keine ist) konfrontieren (wodurch sein Körper der verläßlichste Garant der faktischen Unhintergehbarkeit der Realität und Unteilbarkeit des Ichs bleibt).
Kein Ort mit klar umrissenen Grenzen und sicher bestimmbaren Koordinaten, sondern ein rhizomartig wucherndes Labyrinth der permanenten Verschiebung: Die virtuelle Realität führt auf ihre Weise den Traum der Eindeutigkeit von Wissen, Wahrnehmung und Erfahrung ad absurdum und illustriert damit noch einmal plastisch das Scheitern einiger der allzu schlichten Grundannahmen des abendländischen Denkens. Noch einmal - das bedeutet allerdings zugleich, daß, was die virtuelle Realität nicht nur verspricht sondern auch einhält, nur einholt, was wir auf eine andere Art und Weise bereits kennen.
U-Topos
Wenn die Begehung der terra incognita der virtuellen Welt am Ende die Sicht auf bereits bekannte Erkenntnisse freigibt, so wird das den Apologeten des Cyberspace kaum gefallen - den Cyberfreaks und Datendandys, die auf der radikalen Neuheit und Fremdheit ihrer elektronischen Spielwiesen bestehen. Freilich vermag heute auch noch keiner zu beurteilen, welche innovativen Erkenntnispotentiale in den unerforschten Tiefen der kybernetischen Welten noch verborgen liegen mögen, wenngleich die Effizienz der bereits realisierten praktischen Anwendungen etwa in den Bereichen von Architektur und Medizin, wissenschaftlicher und militärischer Forschung und Ausbildung oder der Unterhaltungsindustrie die Richtung ihrer zukünftigen Entwicklungen nur allzu absehbar macht.
Die entscheidende Originalität der virtuellen Realität wird dabei allerdings kaum im perfektionierten Ausbau traditioneller Anwendungen, als vielmehr in den ästhetischen (lies: aisthetischen) Erfahrungen zu suchen sein, die erst sie ermöglicht - und den Konsequenzen, die diese möglicherweise erzwingen. Ich möchte an diese Prognose eine (vorerst) letzte Antwort auf die Frage nach dem 'Eigentlichen', dem Wesen der virtuellen Realität anschließen: Richtig verstanden und eingesetzt, eröffnet die virtuelle Realität - spielerisch, als ein Modell - denjenigen Möglichkeitsraum, den der Möglichkeitssinn als selbstregulierende Strategie evolutionärer Entwicklung benötigt; einen Raum zur experimentellen Evaluierung von möglichen, im Sinne von: realisierbaren, zukünftigen Welten.
Der Cyberspace ist kein Ort, kein Topos - er ist ein U-Topos. Seine virtuellen Welten halten durch die Eröffnung der Perspektive auf neue Weisen der Wahrnehmung und auf neue Arten gelingender Kommunikation die innovative, irritierende Kraft des utopischen Denkens am Leben. Dieses ortlose, u-topische Denken meint zwar das Ganz Andere - aber doch nur als Veränderung des Jetzt und Hier. Es ist die Möglichkeit der Veränderung des Status quo, die das feststellende 'Es ist' des Seins auflädt mit einem irreduziblen Überschuß an (Noch-)Nicht-Sein. In ihrer offensiven Unentscheidbarkeit den Fragen von Sein und Nichts, Wirklichkeit und Schein gegenüber läßt sich über die permanent sich wandelnde, verändernde Welt der virtuellen Realität als ein Spiegelbild der Veränderbarkeit auch der nicht-virtuellen Wirklichkeit reden.
Exit to reality
Der beste Weg, über virtuelle Realität zu reden, ist freilich der, nicht über virtuelle Realität zu reden. Nehmen wir die Feststellung ernst, daß im Cyberspace trotz anderslautender Beschwörungen und Befürchtungen eben keine alternative Wirklichkeit entsteht - und reden statt von einer entstehenden aisthetischen Dimension künstlicher Bilder, die es zu begehen, von Räumen, die es zu bauen und Welten, die es zu erkunden gibt. Konsequenterweise aber ist es dann das Allerbeste, gar nicht über virtuelle Realität zu reden - sondern die Möglichkeiten, die das Virtuelle verspricht, zumindest probehalber zu realisieren.
Eine ausführliche Version des vorliegenden Essays erscheint in Kürze in: S.Münker und A.Roesler (ed.), Mythos Internet, Suhrkamp.