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Die Erfindung des Terrorismus

Carola Dietze über die Entstehung des alten, neuen und islamischen Terrors

In ihrem Buch Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858-1866 [1] schildert die Historikerin Carola Dietze [2] wie sich dieses Phänomen im 19. Jahrhundert binnen weniger Jahre etablierte. Aus welchen Gründen kam es dazu? Telepolis fragte dazu die Autorin.

Frau Dietze, inwiefern handelt es sich beim Terrorismus um eine Erfindung?
Carola Dietze: Es gibt nicht nur technische, sondern auch kulturelle, soziale und psychologische Erfindungen. Dieser Gedanke findet sich vor allem bei Soziologen, deren Konzepte auf der philosophischen Anthropologie aufbauen, oder auch bei dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons. Die Überlegung geht dahin, dass nicht nur technische Erfindungen das Leben der Menschheit und ihre Geschichte verändert haben, sondern auch kulturelle Erfindungen wie etwa Mythos, Kunst und Religion, soziale Erfindungen wie etwa Eigentum und Erbschaft oder psychologische Erfindungen wie die Askese, der Rausch und die Traumdeutung. All diese Konzepte oder Praktiken hat es nicht von Anbeginn der Geschichte an gegeben, sondern sie sind irgendwann einmal erfunden worden.
Wie passt hier der Terrorismus in das Konzept?
Carola Dietze: Der Terrorismus ist eine soziale Erfindung, das heißt, es gab Personen, die als erste erkannt und begriffen haben, wie man die Wirkung von spektakulären Gewalttaten mit Hilfe der Massenmedien verstärken kann, um einen psychologischen Effekt bei einem Publikum zu erreichen, der dann wiederum politische Folgen zeitigen soll.
Sie schreiben, der Terrorismus sei ein Produkt der Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts. Gab es in der Antike und im Mittelalter nicht auch politisch motivierte Attentate und was unterscheidet diese von dem von Ihnen untersuchten Terrorismus?
Carola Dietze: In der Tat gab es in der Antike, im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit den politischen Mord und politisch motivierte Attentate. Den politischen Mord unterscheidet aber vom terroristischen Attentat, dass beim politischen Mord die instrumentelle Dimension im Vordergrund steht - im Gegensatz zur symbolischen Dimension: Beim politischen Mord geht es primär darum, eine bestimmte Person aus dem Weg zu räumen, und nicht darum, über diese Gewalttat eine Aussage an ein Publikum zu kommunizieren.
Solche politischen Morde gab es soweit wir in der Geschichte zurückblicken können, und es gibt sie natürlich auch weiterhin. Beispiele hierfür wären die Hitler-Attentate: Stauffenberg oder Elser ging es darum, Hitler als Person aus dem Weg zu räumen, und nicht darum, mit Hilfe dieses Attentats eine Botschaft an bestimmte Kreise eines Publikums zu vermitteln.

"Mediale Voraussetzungen"

Unter welchen Bedingungen konnte dieser Terrorismus entstehen und warum verbreitete er sich vor allem in Europa, den USA und Russland?
Carola Dietze: Es gibt verschiedene Voraussetzungen dafür, dass der Terrorismus genau zu dieser Zeit im Kommunikationsraum Europa, Russland und USA entstehen konnte: Zum einen gibt es ideologische Gründe, wie etwa die Entstehung bestimmter Ideale der Aufklärung und Ideen religiöser Reformbewegungen, die in der Amerikanischen und Französischen Revolution manifest geworden sind. Dabei handelt es sich vor allen Dingen um die Ideale der persönlichen und politischen Freiheit, also die Emanzipation aus Sklaverei und Leibeigenschaft und die Idee der Nation.
Außerdem gibt es politische und soziale Voraussetzungen für die Entstehung des Terrorismus: Dabei handelt es sich um soziale Bewegungen, die genau für diese Ziele - also Emanzipation und Nation - schon lange gefochten und hierfür verschiedene Methoden, wie etwa Aufstände und kollektive Gewalt ausprobiert hatten, damit aber immer wieder gescheitert waren oder ihr Ziel nicht in einem ausreichenden Ausmaß erreichen konnten.
Darüber hinaus gab es mediale Voraussetzungen, die im Bereich Transport und Kommunikation liegen: Es muss eine ausreichende Dichte von Zeitungen geben, die auch überregionale Nachrichten verbreiten und eine ausreichend große Leserschaft, die zum einen des Lesens kundig ist und sich zum anderen überhaupt für solche Nachrichten interessiert, damit sich bei einem Publikum im gewünschten Maße eine psychologische Wirkung - vor allem Angst oder Unterstützungsbereitschaft - einstellen kann, die wiederum die Voraussetzung für politische Reaktionen ist.
Wie wichtig waren die Medien für die Entstehung des Terrorismus?
Carola Dietze: Die Medien waren in zweierlei Hinsicht ganz entscheidend: Zum einen waren sie wichtig dafür, dass Nachrichten von der symbolischen und besonders spektakulären Tat an ein Publikum vermittelt werden konnten, welches sich für solche Taten interessierte und von dem die Terroristen erwarteten, dass es in einem bestimmten Sinne auf die Tat reagieren würde.
Zum anderen waren Medien entscheidend, weil über sie die Idee von der terroristischen Taktik weitervermittelt wurde und Aktivisten in anderen Ländern und Kontinenten erreichte, die diese Taktik verstanden und sich zum Vorbild nahmen. Damit kam ein transnationaler Lernprozess in Gang, der insgesamt den Terrorismus hervorbrachte.
Können Sie bei den Attentaten ähnliche Motive ausmachen?
Carola Dietze: Ja, die ersten terroristischen Gewaltakte hatten ganz ähnliche Motive. Sie zielten auf die Durchsetzung der bereits genannten Ideale der Aufklärung und der religiösen Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts, die bereits in der Amerikanischen und der Französischen Revolution wichtig waren. Es ging also zunächst um die Durchsetzung von politischer und persönlicher Freiheit, konkret: um Nationsbildung sowie um die Emanzipation aus Sklaverei und Leibeigenschaft und die Verleihung politischer und sozialer Rechte an die soeben emanzipierten Menschen.
Sehr bald kam es jedoch auch schon zur ersten gegenrevolutionären terroristischen Gewalttat, in der es um die Verhinderung der weiteren Durchsetzung genau dieser Ziele ging, im ersten Fall konkret um die Verhinderung der Verleihung politischer und sozialer Rechte an die gerade erst emanzipierten Sklaven in den USA.

Attentat auf Napoleon III. wurde zum Präzedenzfall für die terroristische Logik

Sie untersuchen in Ihrem Buch zur Entstehung des Terrorismus eine relativ kurze Zeitspanne von 1856 bis 1866. Wie konnte sich binnen dieser acht Jahre die terroristische Handlungslogik etablieren?
Carola Dietze: Durch den schon angesprochenen transnationalen seriell-kollektiven Lernprozess. Dieser Lernprozess begann mit der eigentlich sehr unwahrscheinlichen Kooperation eines Opfers mit seinem Attentäter: Das war die Kooperation des französischen Kaisers Napoleon III. mit dem italienischen Revolutionär Felice Orsini.
Orsini beging mitten in Paris ein äußerst spektakuläres Attentat auf Napoleon III., das eine Revolution in Frankreich auslösen sollte, von der er annahm, dass sie in der Folge auf die italienischen Staaten und ganz Europa überspringen werde - ähnlich wie dies 1830/31 und 1848/49 geschehen war. Mit Hilfe dieser Revolution, so hofften Orsini und seine Mitverschwörer, würde man endlich die auf dem Wiener Kongress etablierte Ordnung der absolutistischen Staatenwelt abschütteln und Italien als eine demokratische Nation errichten können.
Das Attentat misslang jedoch insofern, als Napoleon III. es überlebte, die Pariser Polizei Orsini und seine Mitverschwörer noch in der gleichen Nacht festnehmen und ins Gefängnis stecken konnte, und die Bevölkerung in Frankreich ruhig blieb. Wären die Attentäter damals wie üblich vor Gericht gestellt und hingerichtet worden, wäre ihre Tat nicht zum Auslöser für den seriell-kollektiven Lernprozess geworden, der die Taktik des Terrorismus hervorbrachte. Nachdem der erste Schock vorbei war, entschied sich jedoch Napoleon III. völlig unerwartet, Orsini und seine Tat zur Legitimation einer militärischen Intervention in Italien zu benutzen. Deshalb gab er Orsini alle Mittel an die Hand, sich vor Gericht positiv zu präsentieren und in Szene zu setzen und seine Motive für die Gewalttat zu erklären.
Diese Erklärungen wurden dann auch noch in der offiziellen französischen Presse veröffentlicht und von Zeitungen in den meisten Ländern Europas sowie auch in Russland und den USA übernommen. Das führte dazu, dass Orsini von vielen Menschen in Italien, Frankreich und Großbritannien als Held und Märtyrer gefeiert wurde.
Dieser Fall wurde eine Art Präzedenzfall: Andere Aktivisten in anderen Ländern, die in den Zeitungen von Orsinis Anschlag lasen, verstanden das Prinzip, erkannten also, wie die terroristische Logik funktioniert, ahmten die Taktik mit mehr oder weniger Erfolg nach und entwickelten sie dabei weiter. Der erste, der als Aktivist das Potential dieser Taktik erkannte, war John Brown in den USA, der für die Emanzipation der Sklaven in den Südstaaten eintrat.

"Die beiden Erfinder Orsini und Brown waren mit der von ihnen eingesetzten Gewalt letztlich erfolgreich"

Was hat der Terrorismus in diesen Jahren politisch und sozial verändert?
Carola Dietze: Nun, Orsinis Attentat stieß einen politischen Prozess an, der über die militärische Intervention Napoleons III. und einige weitere Schritte Anfang 1861 tatsächlich zur Vereinigung der italienischen Staaten und zur Bildung einer italienischen Nation führte. Dies war genau das Ziel, für das Orsini sein Leben lang gekämpft hatte, nur dass dieses Italien zunächst keine Republik wurde, sondern eine Monarchie blieb. Der Gewaltakt von John Brown in den USA war ein entscheidender Schritt hin zum Amerikanischen Bürgerkrieg, der tatsächlich zur Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten führte, die John Brown angestrebt hatte.
Die Ermordung Abraham Lincolns durch John Wilkes Booth
Von daher kann man sagen, dass diese beiden "Erfinder" mit der von ihnen eingesetzten Gewalt letztlich erfolgreich waren. Für die ersten Nachahmer von Orsini und Brown ist dies dagegen nicht so leicht festzustellen. Bei der Tat von Oskar Wilhelm Becker lässt sich nur spekulieren, ob sie politische Auswirkungen hatte und - wenn ja - welche. Eventuell trug sein terroristisches Attentat dazu bei, dass sich Wilhelm I. entschied, Bismarck zu berufen.
In den USA hat das Attentat auf Lincoln und dessen Tod den Verlauf der Rekonstruktion der Südstaaten ganz entscheidend verändert, und zwar vermutlich wirklich - wie von Booth intendiert - zum Nachteil der emanzipierten Sklaven. Allerdings ist es schwer zu sagen, wie die Rekonstruktion genau unter einem Präsidenten Lincoln verlaufen wäre.
Und in Russland führte das Attentat von Karakozov zum Abbruch der Reformen, die Alexander II. gerade durchführte und die Karakozov - was die Situation der ehemaligen Leibeigenen betraf - nicht weit genug gegangen waren.

"Der islamistische Terrorismus ist auf ganzer Linie anti-westlich"

Nach dem Ende des Kalten Krieges sah es für einen kurzen historischen Moment so aus, als hätte sich der Terrorismus verabschiedet. Spätestens seit 9/11 ist klar, dass dies eine Illusion war. Können Sie Unterschiede zwischen dem von Ihnen analysierten Terrorismus und dem des politischen Islam ausmachen?
Carola Dietze: Bei der Beantwortung dieser Frage möchte ich lieber mit den Gemeinsamkeiten anfangen, denn der Terrorismus des politischen Islam wird typischerweise dem politisch säkularen Terrorismus gegenübergestellt, wie man ihn in Europa zuletzt von der RAF, der IRA oder der ETA her kannte.
Ich möchte diese Gegenüberstellung ein Stück weit in Frage stellen, weil man zeigen kann, dass es sich bei beiden Arten von Terrorismus vielfach um ein Amalgam religiöser und politischer Motive handelt. Insofern unterscheidet sich der islamistische Terrorismus vor allem durch seine politischen Ziele von dem Terrorismus, den ich für das 19. Jahrhundert untersucht habe und den man in Europa bis in die Achtziger Jahre kannte: Der islamistische Terrorismus ist auf ganzer Linie anti-westlich.
Er wendet sich gegen den Nationalstaat und gegen die Ziele der Aufklärung, ähnelt aber wiederum dem europäischen Terrorismus insofern, als es sich auch bei dieser Form von Terrorismus um eine Infragestellung politischer Legitimität handelt, die aber global in Bezug auf den gesamten Westen gedacht werden muss.
Liegt nicht ein weiterer Unterschied bei den Attentaten des Islam darin, dass es sich in der Regel um Selbstmordattentate handelt, wobei die Ausführenden davon ausgehen, durch ihre Handlung ins Paradies zu kommen?
Carola Dietze: Davon gehen eher die Ausführenden als die Organisatoren dieses Terrorismus aus. Insofern muss man noch miteinbeziehen, dass es hier veränderte organisatorische Strukturen gibt, nämlich eine politische Führung, die die Attentäter heranzieht. Dabei werden die Attentäter mit ganz unterschiedlichen Motiven überzeugt und gewonnen. In der Analyse lohnt es sich hier, sich auf die politisch maßgeblichen Personen zu konzentrieren, wie ich dies auch für das 19. Jahrhundert getan habe.
Können Sie einschätzen, ob beim islamistischen Terrorismus die Religion [3] tatsächlich eine wesentliche Rolle spielt oder ist diese ein soziales und politisches Chiffre?
Carola Dietze: Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich auf die Forschungen von Mark Sedgwick zurück greifen. Er hat die ägyptische Muslimbrüderschaft untersucht, aus der einige Köpfe hervorgegangen sind, die für die Entstehung des islamistischen Terrorismus entscheidend waren: Für einige dieser Führungsfiguren zeigt Sedgwick nun, dass sie die Religion klar für ihre politischen Ziele instrumentalisierten. Personen, die innerhalb der Muslimbrüderschaft zeitweise auf den Terrorismus gesetzt haben, haben also ganz bewusst die Religion als Motivation für breitere Bevölkerungsgruppen herangezogen, um sie zu radikalisieren.

"Fehlen einer funktionierenden globalen politischen Ordnung"

Wie ordnen Sie die islamistische Renaissance des Terrorismus in die bisherige Terrorismusgeschichte ein?
Carola Dietze: Diese Renaissance ist leider eine logische Folge der historischen Entwicklung im Mittleren und Nahen Osten im 20. Jahrhundert, wo nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches die Kolonialregierungen und später auch die Versuche eigener Regierungen, moderne Wege zu gehen - man denke an Nassers Version des Sozialismus -, für die breite Bevölkerung insgesamt zu wenig Verbesserungen gebracht haben. Deshalb haben diese Wege für viele Menschen dort an Überzeugungskraft verloren.
Hinzu kommt, dass den Interventionen der westlichen Welt im Nahen und Mittleren Osten in den Augen der Bevölkerung dort die politische Legitimation fehlte oder aber angesichts der Durchführung dieser Interventionen immer mehr abhanden kam, sowie das Fehlen einer funktionierenden globalen politischen Ordnung, die außerhalb der westlichen Länder mehrheitlich als legitim anerkannt wird.
Vor diesem politischen Hintergrund ist meines Erachtens die momentan stattfindende Entwicklung des politischen Islam zu interpretieren.

Lesen Sie dazu auch den in Telepolis erschienenen Literaturklassiker von Gilbert Keith Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war - ein Albtraum [4]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3463060

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.his-online.de/verlag/9010/programm/detailseite/publikationen/die-erfindung-des-terrorismus-in-europa-russland-und-den-usa-1858-1866/?sms_his_publikationen%5BbackPID%5D=1264&cHash=6d277b86a9264cf4490767397d9ee58b
[2] http://www.uni-giessen.de/fbz/fb04/institute/geschichte/neuere_geschichte/personen/dietze-carola
[3] https://www.heise.de/tp/features/Nazis-CIA-und-der-islamische-Fundamentalismus-3388799.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-Mann-der-Donnerstag-war-ein-Albtraum-3362458.html