Die Evolution des Wissens

Plädoyer für das Menschenrecht auf Information

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Personen sind unvorhersehbar in ihrem Verhalten - sie sind “frei". Sie können vor allem durch unerwartete Güte beschämen und für sich einnehmen. Noch nie ist das für alle gute Verhalten global leichter realisierbar gewesen als heute mit der Erfindung des Internets.Selbst die Gesamtheit aller Länder könnte es kaum mehr verhindern, dass ein Wohltäter dieses Geschenk macht und realisiert. Denn das Internet ist schon da. Aber warum wird das kostenlose Internet nicht realisiert?

Evolution ist nach allgemeiner Ansicht etwa Unvorhersehbares. Wer noch nie in seinem Leben einen Elefanten gesehen hat, wird nicht glauben, dass es so etwas gibt. Bei jeder Evolution steht fest, dass “mindestens" die “Hälfte" aller hervorgebrachten Erscheinungen unvorhersehbar ist. Der Rest ist allerdings - wie Darwin erkannte - streng gesetzesmäßig. Die zuständige biologische Teilwissenschaft ist die deduktive Biologie. Sie sagt diejenigen Eigenschaften biologischer Systeme voraus, die unabhängig davon, ob man ihnen schon einmal im Leben begegnet ist oder nicht, existieren. Dazu gehört neben der ungerichteten Variabilität (Mutationsfähigkeit) der Arten, die Darwin beschrieb, zum Beispiel auch ein “universelles Immunsystem" im Einzelorganismus. Sobald man das zugibt, hat man sich allerdings sofort ein Problem eingehandelt, wie Niels Jerne erkannte. Denn wenn auch noch nie dagewesene Moleküle eines in den Körper eindringenden Parasiten als “fremd" erkannt werden sollen, durch bereits vorhandene auf sie passende molekulare Konfigurationen, beißt sich die Katze in den Schwanz: Die Wächtermoleküle müssen ja selbst beliebige molekulare Konfigurationen aufweisen... Zum Glück gibt es einen Ausweg (sonst gäbe es uns nicht mehr). Er besteht darin, dass nicht jeder Fremdstoff angegriffen wird, sondern nur solcher, dessen Konzentration genügend rasch ansteigt.

Eine dritte vorhersehbare Eigenschaft der Biologie (nach Mutabilität und Immunität) sind Fortbewegungsstrategien, die das Aufsuchen von überlebensförderlichen und das Vermeiden von überlebensfeindlichen Orten ermöglichen. Sie müssen in besonderen Steuerapparaten implementiert sein. Die so vorhersehbaren “Gehirne" sind mit wirklichen so wenig verwandt wie Fledermausflügel mit Vogelflügeln oder Tintenfischaugen mit Säugetieraugen. Dennoch kann man von dem einen viel über das andere lernen. Die Vorhersage evolutiver Errungenschaften ist in der Biologie offenbar in einem weit höheren Umfang möglich, als oft angenommen wird.

Aber Evolution des Wissens? Wissen ist ja keine biologische Sache, sondern eine menschliche oder genauer persönliche. Dass es auch nichtmenschliche Personen gibt oder geben kann, tut hier nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass Personen unvorhersehbar sind in ihrem Verhalten - sie sind "frei". Sie können vor allem durch unerwartete Güte besch"men und für sich einnehmen. Noch nie ist das für alle gute Verhalten global leichter realisierbar gewesen. Wir denken hier an die Einrichtung der "zweiten Post". Es gibt bisher noch keine Lehrstühle für Postgeschichte als Teil der Managementwissenschaft, aber Rowland Hill, der die Briefmarke erfand, damit nicht mehr der Empfänger, sondern der Absender die Postgebühren bezahlen musste, hätte um ein Haar schon einen Schritt weiter gedacht - mit gravierenden Folgen für die Evolution des Wissens. Gemeint ist der Gedanke einer kostenlosen Post, die er schon hätte einrichten können. Die Kosten wären nicht höher gewesen als bei anderen sozialen Einrichtungen, vom Straßennetz ganz zu schweigen.

Heute ist so etwas Ähnliches beinahe aus Versehen passiert - mit der Erfindung des Internets. Doch eben nur beinahe. Das kostenlose Internet, das es noch nicht gibt, kann die von Rowland Hill verpasste Chance realisieren. Damals vor 200 Jahren hätte vielleicht niemand gemerkt, was für eine Veränderung die Einführung des Menschenrechts auf kostenlose Information in optimaler Form auf dem Planeten bewirken würde, und alle hätten es zugelassen, dass eine Privatfirma oder ein Miniland wie Liechtenstein diesen selbstlosen globalen Dienst einrichtet. Heute ist die Lage noch ermutigender. Selbst die Gesamtheit aller Länder könnte es kaum mehr verhindern, dass ein Wohltäter dieses Geschenk macht und realisiert. Denn das Internet ist schon da und auf ihm das "Papier", auf dem alle schreiben können, wie Tim Berners Lee sich ausdrückte. Es gibt also schon die vielen, vielen Rohrpostschläuche, die dazu benötigt werden, egal ob verkabelt oder drahtlos. Wohltäter sind bekanntlich immun gegen Einwände, denn einem geschenkten Gaul hat noch niemand ins Maul geschaut.

Die "Gefahr des Geschenks" ist damit unser Thema. Das Geschenk der zweiten Post ist das eigentliche Thema der Wissens-Futurologie. Die Details der Wissenszunahme im einzelnen können danach ausgearbeitet werden. Es ist etwa so, wie die Erfindung des Buches wichtiger war als andere Teilerfindungen. Das überall vorhandene Buch war eine Wundererfindung. Das hier zur Debatte stehende "Geschenk" würde alle jungen Menschen zugute kommen, die wie der junge Albert Einstein wissen wollen (selbst wenn sie damit nur Geld verdienen wollen). Einstein erkannte bekanntlich mit 12 Jahren, dass die Gemeinschaft die Kinder und Erwachsenen belügt, da die Behauptungen der Religionen sich in verschiedenen Kulturen widersprechen. Die Unerklärbarkeit des subjektiven Erlebens und des Jetzt behalten aber ihren Herausforderungscharakter (und bestätigen im Nachhinein die subjektive Gutartigkeit der bestehenden Weltanschauungen). Er zog daraus zu Recht den Schluß, dass der einzelne selbst an der Evolution des Wissens mitbauen kann als seine wichtigste Aufgabe von religiösem Rang.

Doch schnell zurück zur Gefahrenseite. Die Einbindung aller Personen, die wollen, in einen Kreis von sich gegenseitig Beschenkenden (durch Wissensarbeit), ist in der Tat für niemanden eine Gefahr. Wir sind es auf der Verwaltungsebene ja seit Jahrtausenden gewohnt, Sicherheit, Schulen, Straßen und Nachrichtenwesen kostenlos zu erhalten. Die alten Römer und Chinesen wussten bereits, dass Dienst am Bürger diesen für die Gemeinschaft wertvoller macht. Wenn heute die Briefpost und das Uniklinikum um die Ecke privatisiert werden, ist das ein verordnetes Zurückfahren von Gemeinschaftsleistungen, das die Effizienz der Gemeinschaft fahrlässig verschlechtert. Dasselbe gilt für die geplante Reduzierung der Studentenzahlen auf die Hälfte (von 120.000 auf 60.000 in Berlin), um die bereits erfolgte Abschaffung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in der eigenen Wohnung nicht extra zu erwähnen. Zum Glück hält nicht überall in Europa die Bevölkerung die Abschaffung der Demokratie für ein hinnehmbares Übel. Was ist der Grund für die Wiederkehr der alten Krankheit?

Die Evolution des Wissens ist vielleicht der Grund. Die Evolution des Wissens wird als Bedrohung für Europa empfunden. Seitdem der kalte Krieg gegen eine Supermacht beendet ist, ist die Wissensmehrung kein Element des Rüstungswettlaufs mehr. Im Gegenteil, der heute befürchtete neue Gegner ist waffenlos, wenn man von der Tatsache absieht, dass er die Kraft der Jugend besitzt. In Europa sind im Jahr 2000 über 50 Prozent der Bürger über 50 Jahre alt; in der dritten Welt sind über 50 Prozent unter 20 Jahre alt. Die Fortführung der Wissenschaft kommt heute erkennbar der Jugend - der Zukunft - zugute. Die Festung Europa hat sich gegen die Jugend zusammengeschlossen.

Das ist doch Unsinn? Selbstverständlich. Künstlicher Wissensverzicht war noch nie ein Mittel, die Zukunft zu kontrollieren. Öffnung ist das einzige Mittel, um sie zu gestalten. Wissenschaft treiben heisst, sich öffnen. Eine freie Gesellschaft verschenkt sich an alle, sie gibt allen die Brust. Buddha, der Hiob des Ostens, zeigte als einer der ersten, wie effizient der Mut des Vertrauens ist. Wer hätte zum Beispiel vor 100 Jahren geglaubt, dass in einer Massengesellschaft jeder einmal dieselben Rechte auf der Straße bekommen würde - ohne dass "verantwortungsfähige" Großgrundbesitzer gegenüber gewöhnlichen Dienstleuten bevorzugt wären. Mit dem Fortschritt des Wissens war es schon immer so. Je besser es allen geht, desto mehr profitiert auch der Privilegierte.

Wir waren beim Stichwort "Gefahr" stehen geblieben. Niemand kann, wie erw"hnt, heute daran gehindert werden, sofort einen Informationsdienst für alle einzurichten, um das Menschenrecht auf Information zu realisieren. Die zweite Post kostet etwa ein Hundertstel des Bildungsbudgets eines kleinen Staates. Doch die Unkosten kämen indirekt mehr als wieder herein. Die Geschenkidee ist die lukrativste Art der Zukunftseroberung. Das hätte sogar der weltabgewandte Buddha gesagt. Zum ersten Mal kann sich ein Land einen Platz in der Zukunft kaufen - durch Schenken. Die Heimatstadt aller Menschen im Internet einzurichten, macht das betreffende Land oder die betreffende Firma zum Heimatland und zur Mutter aller Menschen. Buddha war bisher die Mutter aller Menschen (wie er von sich sagte). Nun kann jeder es werden - durch Mitmachen. Einen Club der die Zukunft mütterlich adoptierenden M"nner und Frauen und Kinder zu gründen, ist heute möglich. Ungeheuer viel Arbeit und ungeheuer viele Arbeitsplätze warten auf ihre Einrichtung - durch Lampsacus. Der "pädagogische Eros" war früher auf Wissenschaftler beschränkt. Es sollte ein Genuss ganz eigener Art sein, den Jüngeren zu dienen und von ihnen mit Dankbarkeit und Verehrung belohnt zu werden. Am Sterbebett des Mathematikers Kolmogorov in Moskau saßen vor einigen Jahren rund um die Uhr seine Schüler. Woher diese Liebe? Er war ihr Lehrer.

Lehrer sind nicht Befehlsempfänger oder Lehrplan-Transformatoren. Sie sind Schenkende - wie der Postbote. In manchen Ländern ist das Schenken derzeit leichter als in anderen. Die Evolution des Wissens ist dieselbe, egal welches Land oder welche Firma sich ihrer annimmt. Aber schnell sollte es gehen im Interesse der Wartenden. Nichts macht größere Freude, als schenken zu dürfen, sagte der Pelikan. Die Sonne des Guten ist eine Erfindung Platons, wie der pädagogische Eros und die platonische Liebe.

Aha, werden Sie vielleicht sagen, das ist genau der schwache Punkt. Fehlen da nicht ein paar Hormone? Ist es nicht gesund, das Risiko einzugehen, nicht von der Jugend der Zukunft geliebt und als Heimatland gefeiert zu werden? Sollte gar die Einrichtung von Lampsacus prophylaktisch unter Strafe gestellt werden? Sollen die noch verbleibenden Ressourcen der wenigen Menschen weißer Hautfarbe (in Afrika liebevoll Engerlinge genannt) allein ihren Kindern und den von ihnen geduldeten Gastarbeitern zugute kommen? Die Erde ist zu klein für 6 Milliarden Grizzlybären, sagen die Ökologen und meinen jugendliche Menschen.

Obwohl es nicht stimmt, dass zuviel Nettigkeit manche Hormone unbenutzt lässt, muss man sich klarmachen, dass es sehr viele Menschen gibt, die aus gutem Grund nicht glauben wollen, es sei möglich, etwas Gutes zu erschaffen, gut zu sein und das Böse zu verhindern. Es war nie ein größerer persönlicher Mut erforderlich als der, anderen, die leidvolle Erfahrungen vorweisen können, zu zeigen, dass es doch möglich ist, ohne die "gerechte Weitergabe" derselben auszukommen. Denn jede Generation kommt wieder mit zum Schenken und Empfangen bereitem Herzen zur Welt. Der Enthusiasmus, den die Mehrung des Wissens und des Schenkens erfordert, kommt jedoch aus einem noch größeren Mut. "Wenn Du Buddha triffst, bring ihn um", soll er herausfordernd selbst gesagt haben. Duval war ein aus einem Heim ausgerissenes Waisenkind, das auf einem Feld einen sterbenden Priester fand. Der hatte nichts besseres zu tun, als das Kind schnell zu seinem Nachfolger zu machen. Duval schrieb dann als Erwachsener so betörende Songs wie “Der Himmel ist rot, es wird schönes Wetter - im Menschen rührt sich ein neues Herz" oder “Wenn ich ganz allein gehe wie ein Großer liebe ich es, deine Schritte hinter mir zu hören". Er ist nach 40 Jahren ebenso unvergessen wie sein Lehrer.

Im Augenblick, wo ein einziger merkt, dass das Gute und das Wissen noch mehr Spaß machen als die angeblich so notwendige Gewalt, hat eine Kettenreaktion begonnen. Das ist die besondere Autokatalyse, die der Evolution des Wissens zugrunde liegt. Sie erinnert an die erste Autokatalyse, die nach Darwin die Evolution des Lebens einläutete. Ist es erlaubt, schamvoll hinzuzufügen, dass der Spaß mit Geld und Arbeitsplätzen gepflastert ist? Denn nichts rentiert sich ja so wie das Gute. Früher bewies das die Bibel. Heute beweisen es die Versicherungen. Vielleicht finden Sie, lieber Leser, den Beweis für morgen. Lampsacus als Versicherung? Ohne Ihr Engagement wird es - vielleicht - keine Evolution des Wissens geben.