Die Globalisierung der immateriellen Produktion und ihre lokalen Konsequenzen

Seite 2: Globales Dorf oder Globale Stadt?

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Angesichts der Tatsache, daß die Technologieentwicklung zumindest der Möglichkeit nach Dimensionen unmittelbarer Vergesellschaftung enthält, ist die Frage naheliegend, ob die Technologieentwicklung zu "sinnlich-vernünftigen" (Robert Kurz) Gesamtlösungen beitragen kann, in denen die unübersehbaren Errungenschaften technisch-praktischer Art zu kompatiblen Lebensmodellen zusammengeführt werden; oder ob die immer rasanteren und kurzfristigeren technologischen und damit sozialen Umwälzungen zu einem endgültigen Auseinanderdriften des dynamischen Kerns gesellschaftlicher Entwicklung und der ausgegrenzten Randbereiche führen. Welche Lebensräume aber können durch die neuen Technologien entstehen? Die Frage, wie das Global Village aussieht und wo es liegt, impliziert eine weitere: Wer gehört dem Global Village an und wem wird es gehören? Wer wird die immensen Möglichkeiten der Vernetzung nutzen können? Wird es eine kleine Minderheit sein? Wird die 'Datenautobahn' auch genügend 'Zubringerstraßen' haben oder werden die bestehenden sozialen und regionalen Unterschiede im und durch den Zugang zur Technologie nicht auf eine ganz neue Art verewigt, als "information affluence" und "information poverty"?

Die Sachlage ist durchaus nicht einfach: Die fast schrankenlose Ausdehnung und Verflechtung der Märkte für viele Dienstleistungen bevorzugt natürlich die kapitalkräftigsten Anbieter - und Nachfrager. Dabei scheint gerade der Einsatz von Telekommunikation ein weiteres Mal regionale Unterschiede zu fördern und weit stärker als bisher die lokalen wirtschaftlichen Beziehungen zu bedrohen. Die "globale Stadt" (Saskia Sassen) greift direkt und ohne Umschweife in die stoffliche Reproduktion der peripheren Regionen ein, um etwa bei geänderten Gewinnerwartungen ihre Werkbänke an einen anderen Ort des Globus zu verlagern. Sie radikalisiert die Trennung von geistigen Potenzen und Produktionsstätten, indem sie diese auch räumlich trennt und mit Hilfe von Kommunikationstechnologien zusammenführt. Sie löst vorhandene gesellschaftliche Strukturen und die darin noch bestehenden Solidaritätsmomente auf und setzt eine totale Monadisierung und Atomisierung an ihre Stelle - eine negative Vergesellschaftung, hinter der sich eine beispiellose stoffliche Vergesellschaftung verbirgt.

Die sich entwickelnde Telekommunikations-Infrastruktur ist ein überragend städtisches Phänomen. Obwohl die meisten Diskussionen über neue Kommunikationstechnologien die Chancen für Dezentralisierung in den Vordergrund stellen, sind die großen Städte die Hubs der Informationstechnologie.

Mitchell Moss

Diese Tendenz zur 'globalen Stadt' ist selbstverstärkend. Nur durch die beständige Revolutionierung der Kommunikationstechnologien können die 'globalen Städte' überhaupt über nationale oder globale Märkte ihre Macht ausüben, weswegen sich genau an diesen Orten auch die Nachfrage nach solchen Technologien konzentriert. Der Löwenanteil der Kommunikation ist stadtintern. Nachfrage konzentriert sich in der Stadt - und will 'just in time' befriedigt werden.

Derselbe Konzentrationsprozeß hat natürlich auch seine dezentralisierende Kehrseite. Aktivitäten, die in der inneren Stadt, im zentralen Geschäftsbezirk, angesiedelt werden müssen, haben primär etwas mit den Außenbeziehungen von Organisationen zu tun. Dabei handelt es sich um die Zentren der Entscheidung, der Repräsentation, der Kommunikation nach außen. Paradoxerweise bringt gerade diese Zentralisation ihre eigenen Schranken mit sich, etwa exorbitante Immobilienpreise. Mit den Mitteln der Telekommunikation lassen sich daraufhin die primär nach innen gerichteten Aktivitäten von Organisationen (also Buchhaltung, zentrale Auftragsbearbeitung, interne Revision und Controlling etc.) auslagern, ins suburbane 'back office' etwa, das durch eine entwickelte urbane Telekommunikationsinfrastruktur an die Zentrale angebunden wird.

Obwohl dieser Auslagerungsprozeß nicht mit Dezentralisierung gleichgesetzt werden sollte, ist damit aber ein Prozeß in Gang gesetzt, der ein langfristig dezentralisierendes Potential enthält, quasi eine 'Zeitbombe'. Zunächst bestehen verschiedenste Gründe, diese Tendenz zur Dezentralisierung nicht allzusehr ausufern zu lassen. Sie sind einerseits technischer Natur (z.B. Ausfallssicherheit der Energieversorgung und der Datenwege, Verfügbarkeit von genügend hochentwickelter Telekommunikationsinfrastruktur), andererseits ökonomischer Natur (z.B. Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte). Doch wächst mit der informationstechnologischen Umstellung innerhalb von Organisationen ihr

Dezentralisierungspotential beständig an, und die Aktualisierung dieses Potentials könnte in dem Moment erfolgen, in dem die oben beschriebenen negativen Schranken zunehmend beseitigt - und freilich auch einige positive Bedingungen und Anforderungen neu geschaffen - worden sind.