Die Globalisierung hat Recht
Das "Kursbuch" diskutiert die "Neuen Rechtsordnungen" im Kleinen und Großen
Anwaltskanzleien werden dieser Tage frequentiert wie einst der Beichtstuhl. Ein Paradigmenwechsel, der sich auf die Menschen- und Völkerrechte nicht gerade vorteilhaft ausgewirkt hat. Sie werden durch vermeintlich höhere Rechtsziele ersetzt - die neuen Rechtsordnungen bleiben indes weitgehend unbekannt.
Erin Brokovich (Julia Roberts) kennt das Leben nur aus der Verliererperspektive. Sie hat viel zu viele Probleme und als sie dann auch noch zu allem Überfluss Opfer eines Autounfalls wird, lernt sie den durchschnittlichen Anwalt Ed Masry (Albert Finney) kennen, der ihr einen gewinnbringenden Ausgang ihres Verfahrens in Aussicht stellt. Während Brokovichs exzentrische Art vor Gericht eine finanzielle Vergütung ihres Unfalls verhindert, hat sie in Masrys Kanzlei damit Erfolg: Sie gibt sich zunächst als seine Angestellte aus, bekommt diese Stelle auch prompt und leitet in Folge eine Klage gegen einen Konzern ein, der mit der hochgiftigen Chemikalie Chrom 6 das örtliche Wasser verunreinigt und damit eine Unzahl von Leben auf dem Gewissen hat.
Soderberghs mittlerweile vier Jahre altes Filmmärchen ist in vielerlei Hinsicht symptomatisch für die heutige Zeit. Das Grundgesetzbuch stellt nicht mehr eine psychologische Last dar für das Individuum. Es gilt nicht mehr das angsteinflössende Über-Ich, das man besser kennen sollte, um sich nicht schuldig zu machen. Nein, das Grundgesetzbuch gilt als ein Werkzeugkasten der Selbstermächtigung. Es ist der Quellcode der Freiheit. Man nimmt sich das Recht. Besteht darauf und erkämpft es sich. Das Recht des Stärkeren, dass das Recht desjenigen ist, der juristisches Wissen für seine Interessen zu instrumentalisieren weiß.
Dieser Paradigmenwechsel spiegelt sich im gesellschaftlichen Alltag wider: Man nimmt heute, statt geistlichen, juristischen Beistand in Anspruch. Um sich zu wappnen und um fit zu sein im täglichen Kampf gegen Nachbarn, Verkäufer und Autoren, die unsere Privatsphäre beflecken. Neu daran ist vor allem auch das: Die rechtliche Auseinandersetzung findet nicht mehr zwischen dem Individuum und einer Institution statt. Sie ist jetzt auch Duell-Situation: Mann gegen Mann.
Das Kino, die ausgelagerte Seele der Zivilgesellschaft, erzählt von dieser Entwicklung in farbenfrohen Filmen, deren Protagonisten Anwälte sind. Hippe, coole, durchsetzungsfähige, ehrgeizige Anwälte, die, neben dem Manager, das Rollenmodell des leistungsorientierten Subjekts im Neo-Liberalismus vielleicht am prägnantesten verkörpern. Immer öfter sind sie die Helden im Mainstream-Kino. "JFK", "Henry", "Zivilprozess", "Red Corner" und "Aus Mangel an Beweisen" sind nur einige Filmtitel, auf einer langen Liste des Anwaltfilm-Booms, von dem auch das Fernsehen nicht ausgeschlossen geblieben ist: "Matlock", "L.A. Law", "The Practise", "Edel und Starck", "Die Verschwörer", "Ein Fall für zwei" und last but not least "Ally Mc Beal", die das Image des Anwalts in letzter Zeit kanonisch geprägt hat als ein Rollenmodell für Yuppies, Karrieristen und Lifestyle-Avantgardisten.
Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist, dass eine lange Tradition heute nach wie vor Bestand hat: Sie zeigt den Anwalt als Zweifler, als gewissenhaften Moralisten, der seine Illusionen ablegen muss und scheitert an einem System, das sich als korrupt entpuppt. Von Filmen aus der Nachkriegszeit bis hin zu Produktionen wie "Spurwechsel", "Der Obrist und die Tänzerin" aber auch "The Devil's Advocat": Die Helden im Nadelstreifen-Anzug müssen an den Rändern des Rechtssystems erkennen, dass die Werte, für die sie sich einsetzen, allen voran Gerechtigkeit, letzten Endes Seifenblasen sind. Die Konjunktur dieses Musters sagt über die Popularität des Anwalts auch dahingehend etwas aus: Je stärker er die Unzulänglichkeiten des Rechtssystems zur Schau stellt, desto erfolgreicher kreiert er die Nachfrage nach entsprechend wirksamen juristischen Produkten.
Lücken und Anpassungen
Unzulänglich wirkt das Rechtsystem und das macht die Lektüre von dem Kursbuch 155 "Rechtsordnungen" deutlich, vor allem im Zuge der Globalisierung. Immer wieder stehen territoriale Grenzen sowie nationalstaatliche Konzeptionen und damit last but not least der Rechtsstaat zur Disposition. Ein Beispiel wäre China, wo in den letzten Jahren mehr als 700 neue nationale Gesetze erlassen worden sind. Ein Fortschritt, der von der britischen Economist Intelligence Unit in ihrer jüngsten China-Risiko-Einschätzung gelobt wird. Im gleichen Atemzug wird jedoch auch eine scharfe Warnung an alle ausländischen Unternehmen ausgesprochen: Sie seien gut beraten, "das voreingenommene und politisch kontrollierte" Gerichtswesen zu umschiffen.
Während staatliche Rechtssysteme (teils auch unter Druck) den Standards der Globalisierung angepasst werden, um kompatibel zu werden, tun sich Lücken im System auf, so genannte rechtsfreie Räume, die nicht selten auch bewusst konstruiert werden. Guantanamo ist dafür nur ein Beispiel. Das "frühere Jugoslawien" wäre ein anderes Exempel für Rechtskonstruktionen, die Territorien und Subjekte im juristischen Vakuum suspendieren. Wie Dunja Melcic konstatiert, ist bereits diese Bezeichnung ein Verschleierungstitel gewesen, "der sich besonders gut mit den anderen Verschleierungsbezeichnungen wie "Bürgerkrieg", "ethnischer Konflikt" oder gelehrten Vokabeln wie "neue asymmetrische Kriege" paart. "Alle diese Bezeichnungen", so Melcic, "stellen eine besonders perfide Methode dar, den Angegriffenen die nationale Souveränität und damit das Recht zur Selbstverteidigung mittelbar anzuerkennen."
Rechtsfreie Räume entstehen aber auch gerade im Zuge jener wirtschaftlichen Expansion, die die rechtsstaatliche Kompatibilität einfordert. Angesichts dieser dualen Entwicklung beobachtet Klaus Günther, Professor für Rechtstheorie in Frankfurt, wie das Recht zu einer Ware wird und der Anwalt zum Rechtsunternehmer. Mit Blick auf den Einfluss von Konzern-großen Anwaltsfirmen wie Wildman, Harrold, Allen & Dixon sowie Sullivan & Cromwell auf die globale Wirtschaft hält Günther fest:
Je mehr ein bestimmtes Angebot nachgefragt wird, desto mehr werden die rechtlichen Verhältnisse für die Gestaltung und Abwicklung transnationaler Verträge von dem mit diesem Angebot verkauften Recht bestimmt, was die Nachfrage wiederum erhöht. So können einige wenige Anwaltsfirmen sich eine beherrschende Stellung auf dem globalen Rechtsmarkt schaffen und die globale Rechtsentwicklung steuern.
Kursbuch 155: Neue Rechtsordnungen. Rowohlt, März 2004. 192 Seiten. 8 Euro.