Die Grundlagen des (Betriebs-)Systems
Band 2 von Neal Stephensons Barock-Triologie "The Confusion" erscheint im September auf Deutsch, Anlass für einen Blick auf den 3. Band: "The System of the World"
Neal Stephenson, der durch seine Bücher "Snow Crash", "Diamond Age" und "Cryptonomicon" bekannt wurde, hat Wort gehalten. Innerhalb eines Jahres legte der (Science-Fiction)-Autor alle 3 Bände seines Barock-Zyklus vor, je Buch um die 900 Seiten stark. Das war im Jahr 2004. Während wir in Deutschland nun auf die Übersetzung des zweiten Teils, "The Confusion" (im Original 816 Seiten, Verlag William Morrow/HarperCollins) hoffen dürfen, den der Manhatten Verlag für den September 2006 angekündigt hat, ist dieser Tage in den USA der 3. Band "The System of the Word" (892 Seiten, Verlag William Morrow/HarperCollins) bereits als Taschenbuch erschienen.
Über die ersten beiden Bände, Quicksilver und "Confusion" haben wir an dieser Stelle schon berichtet (Die "Science Fiction" der Vergangenheit), so dass Telepolis-Leser einigermaßen auf dem aktuellen Stand der Dinge sind. Doch wie geht es weiter?
Rekapitulieren wir nochmals kurz: "The Confusion" endet, nach einer bewegt wilden Piratenreise um die Erdkugel, mit der Ankunft Jack Shaoftes, dem König der Vagabunden und einem der Protagonisten, in seiner Heimatstadt London im Oktober 1702. Und er sagt niemand geringerem als Isaac Newton, dem Begründer der modernen Physik und oberstem Münzvorsteher der Britischen Krone, den Kampf an.
"The System of the Word" beginnt 12 Jahre später, exakt am 15. Januar 1714 mit der Ankunft von Daniel Waterhouse, Puritaner, Naturwissenschaftler, Erfinder, Kryptograph, Mitglied der Royal Society und Freund von Newton und Leibniz, in England und endet am Freitag, den 29. Oktober 1714, in London. Von wenigen Ausnahmen abgesehen spielen sich auch alle Ereignisse direkt in London oder drumherum ab. Stephenson nimmt damit den Faden, den er in "Quicksilver" mit der Heimrufung Daniels aus Amerika gesponnen hat, um den Wissenschaftsstreit zwischen Leibniz und Newton zu schlichten, wieder auf und führt in "The System of the World" alle Handlungsstränge und Personen, die er in "Confusion" über die Welt verteilt, zusammen.
Nicht von ungefähr hat Stephenson dafür das Jahr 1714 gewählt. Nach dem Tod von Königin Anna besteigt der deutsche Kurfürst von Hannover als Georg I. den englischen Thron und mit ihm wird seine charismatische Schwiegertochter Caroline von Ansbach zur Prinzessin von Wales und 13 Jahre später zur Königin von England. Sie war es auch, die Daniel mit nachdrücklichen Bitten und einem "Versorgungsangebot" für Daniels Familie, überbracht durch Enoch Root, dazu bewegte, sein selbstgewähltes Exil in Amerika aufzugeben und sich auf den Weg nach England zu machen. Noch einmal erlebt Daniel, nun schon ein älterer, jedoch rüstiger Mann, ganz ähnlich wie im Winter des Jahres 1688/89, in dem Wilhelm von Oranien durch die "Glorreiche Revolution" als Wilhelm III. den Thron bestieg und damit das protestantische und freiheitliche Verfassungsleben Englands einläutete, ein Jahr der grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, in deren Mühlen er unweigerlich immer tiefer hineinschlittert.
Kaum in London angekommen, entrinnt er nur knapp einem Attentat, wobei offen bleibt, ob es ihm oder vielleicht doch Isaac Newton galt. Ob es der Bau von Daniels merkwürdigen Maschine ist, die aus Wasser Energie, sprich Strom macht, seine Verwicklung in die Ränke um den sagenhaften Schatz von Salomons Gold, also Gold aus dem sich wieder Gold gewinnen lässt, oder um seine Bemühungen Jack Shaftoe, den Vagabunden, der zu Jack, dem Münzer, geworden ist, habhaft zu werden - Daniel Waterhouse muss mehr als einmal um seinen Kopf fürchten. In all dem Wirrwarr, in dem auch Eliza, die Gräfin von Zeur und Herzogin von Qwghlm, wieder eine tragende Rolle spielt - nicht nur als eine der Investorinnen in Daniels Maschine -, geht es in erster Linie doch immer um die Macht und die Währungen, die diese Macht aufrecht erhalten und garantieren: Gold, Geld (1694 wurde die Bank von England gegründet), der Handel, Informationen und so manch anderes.
Dass sich an diesem Geschäft, das wir auch Politik nennen dürfen, bis heute nicht viel geändert hat, ist einerseits eine Binsenweisheit. Anderseits ist es faszinierend zu sehen und zu lesen, wie bereits vor 300 Jahren die Grundlagen für unser modernes Handels- und Wirtschaftssystem gelegt wurden - und dass sich daran, genau besehen, bis heute wenig geändert hat. Damit schlägt Neal Stephenson den Bogen zu seinem 1999 erschienen SF-Buch "Cryptonomicon" (The Course of the Empire Takes its Way), denn dort treffen wir nicht nur auf die Nachkommen der Protagonisten aus dem Barock-Zyklus, sondern es geht immer noch um den sagenhaften Goldschatz.
Auch wenn Stephenson 1999 wohl noch nicht ernsthaft mit dem Gedanken spielte, "Cryptonomicon" eine zeitlich vorgesetzte Fortsetzung folgen zu lassen, hat er es schon mal vornehm angedeutet. Rudolf von Hacklheber zu Bobby Shaftoe: "Enoch und ich sind uns niemals begegnet. Aber es gab gewisse alte Familienverbindungen ... Diese Verbindungen ergäben eine ellenlange Geschichte. Ich müsste praktisch ein Buch darüber schreiben." So kam es dann auch. Enoch der Rote, alters- und zeitlos unterwegs, der schon die Schlüsselfigur in "Cryptonomicon" abgab und getrost als altes Ego von Stephenson bezeichnet werden darf, verknüpft durch die Eröffnungsszene in "Quicksilver" den Barock-Zyklus mit "Cryptonomicon". Im "System of the World" hält er sich vornehm zurück, was nicht bedeutet, dass er keine Rolle spielt. Welche Winkelzüge und welch listiges Taktieren schließlich dazu führen, dass sehr wohl ein Kopf in der Schlinge landet, auch wenn es nicht der von Daniel ist, wird der geneigte Leser selbst herausfinden.
Im Gegensatz zu "The Confusion", das Stephenson mit einem Paukenschlag eröffnet und die Handlung auf allen Ebenen vorantreibt, braucht das fast 900 Seiten starke "The System of the World" schon mal gut 400 Seiten Anlauf, um so richtig loszulegen. Nicht, dass es an Handlung oder Wirrnissen mangeln würde, im Gegenteil. Jack Shaftoe zum Beispiel brilliert in einer wunderbar undurchsichtigen Doppelrolle, doch die Faszination der Dichte, besonders zum Ende hin, die uns regelrecht in das Buch hineinsaugt, stellt sich erst in der zweiten Hälfte ein. Über die wir hier, fairerweise, nicht allzuviel preisgeben. Nur so viel sei gesagt: Wer sich auf die Reise durch den fast 3000 Seiten starken Barock-Zyklus begibt, wird auch in "The System of the World" immer wieder wunderbar überrascht und mit einem fabelhaften Epilog, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet, belohnt.
Wer Orientierung im Personen-, Namens-, Orts- und Zeit-Dschungel der Saga sucht, dem sein das dazugehörige Metaweb empfohlen. Dort finden sich inzwischen über 1000 Artikel, eingebettet in die freie Web-Enzyklopädie Wikipedia, die sich mit den Personen, Charakteren, Hintergründen, Vorlagen und Orten beschäftigten, die im Barock-Zyklus eine Rolle spielen.