Die Homogenität der westlichen Kultur wird maßlos überschätzt
Über die Bedeutung des 11.9. für die USA, den amerikanischen Fundamentalismus, den Anti-Amerikanismus und die Lust am Stil
Ein mehrteiliges Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht, der an der Stanford University Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt und in die USA übergesiedelt ist, über Patriotismus und Sportfaszination, über universitäre Bildung und College-Sport, über die Idee des Westens und das Schurkenstaat-Image, das Amerika derzeit in aller Welt genießt.
Sprechen wir über Amerika und dem Bild, das sich die übrige Welt von ihm macht. Seit dem elften September scheint die Kontinuität demokratischer Prinzipien, von denen du anfangs gesprochen hast, bedroht. Viele Europäer haben bis heute nicht recht verstanden, was dieses Ereignis für das Land und folglich für die Welt bedeutet. Kannst du uns das etwas näher erläutern?
Sepp Gumbrecht: Warum traust du das ausgerechnet mir zu?
Weil du darüber geschrieben hast und du ein Spezialist für historische Daten und epochale Zäsuren bist.
Sepp Gumbrecht: Genau wie mein bewunderter Freund und Kollege René Girard meine ich auch, dass wir [noch] nicht wissen, was wir mit dem 11. September anfangen sollen. Klar ist nur, dass dieses Datum für die USA und ihre Bevölkerung ein wirklich unvergleichlicher Schock war, die erste gewaltsame Verletzung des nationalen Territoriums. Vergleichbar nur mit Pearl Harbour – aber eben weit dramatischer, denn Hawaii war damals noch kein amerikanischer Staat und gehört ohnehin nicht zum amerikanischen Kontinent. 9/11 hat das jahrhundertealte, quasi-strategische Sicherheitsgefühl der Nation aus dem Gleichgewicht gebracht – und vielleicht für immer zerstört. In der Reaktion darauf betonen viele Amerikaner wohl noch mehr als zuvor einen Hang zum bzw. einen Glauben an Fundamentalistisches, den es schon immer gegeben hat – und den man in Europas Wahrnehmung der Vereinigten Staaten wohl nie ernst genug genommen hatte.
Von fundamentalen Werten geleitete Außenpolitik
Gibt es einen tieferen Grund dafür? Warum hat man in Europa dieses „eigentliche“ Amerika aus der Wahrnehmung verdrängt und sich fast ausschließlich mit den liberalen Traditionen des sog. besseren Amerika befasst?
Sepp Gumbrecht: Historisch gesehen, denke ich, dass viele europäische Intellektuelle seit den 1920er Jahren so begeistert waren für die amerikanischen Typen der „lost generation“, für die Getrude Steins und Ernest Hemingways. Und weil die auch noch in Europa Zuflucht gesucht haben, hat man geglaubt, dass dies die typischen Amerikaner sind.
Hinzu kommt, das habe ich selbst erlebt und dafür bin ich dankbar, dass die so genannte „reeducation“ im besetzen Europa nach 1945 vor allem auf die Werte des amerikanischen Staates setzte, auf „citizenship“ – und dazu gehört die Religion ja nicht. Die Geschichte der reeducation zu schreiben, das wäre eine wichtige und notwendige Aufgabe für junge deutsche Historiker.
Könnten die Fehleinschätzungen eventuell auch daran liegen, dass man dieses „bessere“ Amerika für das europäischere hält und dies auf das ganze Amerika ausgeweitet hat? Über Clinton, der bei uns so beliebt ist und war, heißt es ja, dass er „wie ein Europäer denkt“?
Sepp Gumbrecht: Es hat damit zu tun, dass jene Amerikaner, die sich so sehen und wahrnehmen lassen, als seien sie Europäer, von Europäern tendenziell als die wahren und guten Amerikaner adoptiert werden. Clintons Talent liegt vielleicht darin, dass man überall in der Welt denken kann, es sei ein Typ wie das jeweils lokale „Du und Ich.“ Man kann das auch „Charme“ nennen – und darin lag sein großes politisches Talent. Ob er ein wirklich sehr bedeutender Präsident oder eher überdurchschnittliche Mittelklasse war, steht auf einem anderen Blatt.
Das hat er vermutlich mit Gorbatschow gemein. Liegt dieser Zug zum Fundamentalistischen, den mancher als den „Jacksonian“-Zweig amerikanischer Außenpolitik deutet, ausschließlich an 9/11 oder gibt es auch andere Ursachen, Gründe oder Motive, warum Amerika sich wieder mehr auf seine religiös-mythischen Wurzeln besinnt?
Sepp Gumbrecht: Ich habe keine rechte Antwort auf deine sehr berechtigte Frage. Denn ich bin mir nicht sicher, ob die amerikanische Außenpolitik [eine nationale „Innenpolitik“ gibt es kaum], jemals entschieden weniger von fundamentalen Wertprämissen geleitet war als heute. Es könnte durchaus sein, dass nur die Europäer da so eine Art von „Wende“ oder „Einschnitt“ entdecken, weil es mit einem Mal unmöglich geworden ist, an ihrem seit den 1920er Jahren entstandenen Bild von Europa festzuhalten. Aber natürlich hatte es auch etwas „Fundamentalistisches“, an der Seite Englands, Frankreichs und der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Man muss schon ein störrischer Marxist sein, um anzunehmen, diese Intervention sei ausschließlich wirtschaftlich motiviert gewesen. Und man muss schon ein Idiot sein, um zu leugnen, dass diese Intervention Europa sehr gut getan hat.
Vielleicht nicht unbedingt ökonomisch, aber geopolitisch. Immerhin hatte Hitler eine Art von „Monroe-Doktrin“ auch für das Deutsche Reich reklamiert, was Amerika niemals geduldet hätte.
Wieso soll die amerikanische Intervention im Zweiten Weltkrieg Europa und vor allem Deutschland nicht ökonomisch genutzt haben? Weil die USA auch profitierten? Das wäre dort wirklich Denken hinter dem Zaun des Sparkassen-Vereins: Wenn einer profitiert, dann muss der andere verlieren. So einfach funktionierte der Kapitalismus noch nie. Oder stellst du dir vor, dass Deutschland mit einer NS-Wirtschaft besser durch die Mitte des 20. Jahrhunderts gekommen wäre [ein ganz interessantes Szenario übrigens]? …
…das die Geschichte aber erledigt hat. Liefert dieser amerikanische Fundamentalismus nicht vielleicht auch ein Pendant zum islamistischen, sodass Al-Qaida-Terroristen zu den neuen Creek Indians werden?
Sepp Gumbrecht: Es ist schon faszinierend zu sehen, wie innerhalb dieses Showdowns der Fundamentalisten David „Al-Qaida“ den Goliath „Pentagon“ herausfordern kann; wie ein Video von Bin Laden eine kurze Atemlähmung über die Welt legt; wie islamische Fundamentalismen unsere amerikanischen Fundamentalismen erhärten. Andererseits sollten die Europäer sich nicht diese etwas zynisch-geschmäcklerische Rolle der neutralen [oder eher dem David „Bin Laden“ zugeneigten] Zuschauerrolle erlauben. Die unmittelbare Klarheit, dass die Werte und Lebensformen, welche Amerika zu verteidigen in Anspruch nimmt, den europäischen sehr nahe sind, diese Klarheit wird in Europa nicht selten in eigenartiger Weise verbrämt – und fast vergessen.
Grenzen der zumutbaren Belastungen
Der War on Terrorism scheint jetzt aber die lange Tradition der amerikanischen Demokratie (und nicht nur diese) zu gefährden. Mancher spricht schon von einem „Schurkenstaat“ und von „Lagerbildung“ und zählt auf, wie vieler Verbrechen sich das Land in den letzten Jahrzehnten schuldig gemacht hat. Was erlaubt der Kampf gegen Terrorismus?
Sepp Gumbrecht: Herausforderungen wie der Terrorismus konfrontieren Gesellschaften mit der Notwendigkeit, bis an die Grenze zumutbarer Belastungen und bis an die Grenzen des von ihren Verfassungen zugelassenen Handelns zu gehen. Die Frage ist, ob solche – positiv gesetzte – Grenzen in solchen Situationen überschritten werden. Das ist dem amerikanischen Staat innerhalb des amerikanischen Rechtssystems während der letzten Jahre mehrfach unterlaufen. Nie hätten Gefangene der amerikanischen Truppen erniedrigt oder gefoltert werden dürfen. Wenn man bestimmten Berichten aus Guantánamo traut, dann haben auch dort die Aufseher mehrfach die Selbstkontrolle verloren – vielleicht sogar mit Billigung ihrer Vorgesetzten. Und ich sage das, obwohl ich den Habitus der internationalen Medien kaum mehr ertragen kann, die über Amerika immer nur das Schlechteste wirklich glauben. Aber jedenfalls, aufgrund des wirklich Vorgefallenen ist das sich stellende Problem nicht mehr, ob je solches passiert ist – es ist leider passiert! – sondern, ob es zur regelmäßig tolerierten Gewohnheit wird. Und das sehe ich gewiss nicht.
Selbst prominente Unterhaltungsserien in den USA, wie die vierte Staffel von „24“, malen bereits ein kryptofaschistisches Amerika, das angesichts der terroristischen Bedrohung den Boden der Zivilisation verlassen hat.
Sepp Gumbrecht: Natürlich besteht diese Gefahr. Aber dass man in den Vereinigten Staaten eben darüber redet, dass es erfolgreiche Fernsehserien gibt, die solche Szenarien ausmalen, ist das nicht auch ein Symptom, das uns annehmen lassen sollte, die amerikanische Gesellschaft könnte mit dieser Schwierigkeit fertig werden? In Europa gibt es – leider – eine Lust und Leidenschaft, sich die USA wie ein großes Konzentrationslager vorzustellen, die mir den Atem raubt. Warum wollen so viele Europäer, dass die Vereinigten Staaten ein „Schurkenstaat“ sind? „Besorgnis“ ist nicht die Antwort – denn jede Korrektur solcher europäischen Horrorbilder im positiven Sinn – etwa: der Supreme Court begrenzt die Kontrollmöglichkeiten der Regierung – wird in Europa mit Skepsis, beinahe programmatischem Unglauben, ja ich glaube sogar: mit Enttäuschung aufgenommen.
Hast du darauf eine Antwort? Warum hassen so viele Leute Amerika? Dass jede Äußerung skeptisch aufgenommen, US-Flaggen verbrannt und mit Füßen getreten werden, liegt gewiss nicht nur an den Neocons, am Irak-Krieg und am „Go it alone“?
Sepp Gumbrecht: Zu sagen, dass die US-Regierung diesen Krieg „vom Zaun“ gebrochen habe, impliziert, dass im Irak Saddam Husseins [wovon anscheinend Kanzler Schröder ausging, weniger sein wohl besser informierter Geheimdienst] alles zum Besten stand, und dass Kriegsinitiativen jedenfalls und unter allen Bedingungen illegitim seien. Diesen Standpunkt kann man beziehen, aber er fordert seinen Preis. Zum Beispiel, so scheinen es die europäischen Intellektuellen und die meisten europäischen Politiker zu sehen, dass man warten muss und wird, bis der Iran Israel mit nuklearen Waffen angegriffen hat, bevor man militärisch etwas dagegen unternimmt. Oder auch – dass man auf diese ja sehr explizite Drohung von iranischer Seite, die wahrhaft keiner Interpretationen bedarf – mit der Gewährung wirtschaftlicher Privilegien reagiert, und dadurch die Drohung zur Erpressung macht und so honoriert.
Das hat natürlich damit zu tun, dass Europa – vereint oder in nationaler Vereinzelung mit wenigen Ausnahmen – kaum über nennenswerte militärische Instrumente verfügt. Amerika ist die einzige Nation, die einen Krieg führen kann, ohne mit der Unterstützung oder auch nur der Billigung der anderen rechnen zu müssen. Was freilich nicht bedeutet, dass Amerika im Irak-Krieg nicht besser gefahren wäre mit der Billigung und Unterstützung der anderen Länder oder den Krieg besser zu begründen.
Hat der wachsende Antiamerikanismus nicht auch mit dem zu tun, was Nietzsche als „Ressentiment“ bezeichnet, als Neid und Groll des Sklaven auf den Erfolg des Herrn?
Sepp Gumbrecht: Ja, die Nietzsche-Perspektive ist nicht von der Hand zu weisen. Man wollte in den zwanziger Jahren schon und dann wieder seit 1945 so wie die Amerikaner sein. Den Amerikanern nimmt man übel, dass genau das nicht gelungen ist. Es war ja auch immer ein gewisser Romantizismus á la Karl May im Spiel. Aber ein anderer Grund für die Verstimmung, ein Grund, der mich derzeit mehr interessiert, liegt wohl darin, dass man die „Homogenität der westlichen Kultur“ maßlos überschätzt, was dann dazu führt, dass beide Seiten – die amerikanische wie die europäische – der anderen Seite beständig vorwerfen, wie sie angeblich gemeinsame Prinzipien verrät.
Andererseits wird dieses Feindbild aber auch durch die Politik des Landes indirekt befördert, indem internationale Vereinbarungen torpediert oder die eigene Öffentlichkeit hinters Licht geführt wird.
Sepp Gumbrecht: Es ist nicht ganz die richtige Formulierung, wenn man sagt, „Amerika torpediere beständig internationale Vereinbarungen.“ Es gibt eine Reihe von multinationalen Vereinbarungen, denen sich Amerika nicht angeschlossen hat. Darin allein schon so eine Art „internationalen Rechtsbruch“ zu sehen, würde bedeuten, internationale Politik zu einer Sache der bindenden Mehrheitsbeschlüsse zu machen, was dann das Prinzip nationaler Autonomie aufhöbe. Wie sollte zum Beispiel Deutschland reagieren, wenn der UN-Sicherheitsrat mehrheitlich beschließt [um ein politisches Horror-Szenario zu entwerfen], den Staat Israel in einer Weise zu sanktionieren und zu limitieren, der für die Israelis lebensbedrohlich wäre. Wäre es ein Rechtsbruch, wenn sich Deutschland – nicht zuletzt aus historischen Gründen – an der Ausführung eines solchen Beschlusses nicht beteiligte?
Europa scheint darauf zu setzen, dass dem Antiamerikanismus der Zahn gezogen wird, sobald die Bush-Regierung verschwindet und das „andere Amerika“ wieder sichtbar wird.
Sepp Gumbrecht: Dieses „bessere Amerika“ gibt es nach wie vor. Ich erlebe es Tag für Tag, auch wenn es vom Mehltau eines verstärkten Fundamentalismus überzogen ist. Es wird sich wieder zeigen, wenn die europäischen Medien die offenbar sehr beliebte Schiene der Verhetzung verlassen.
Manche halten den Antiamerikanismus nur für einen Deckmantel des Antisemitismus. Habermas hat diese Abstammungslinie jüngst erst wieder aufgemacht.
Sepp Gumbrecht: Ich denke, es handelt sich primär um die seit mehr als einem Jahrhundert existierende Schwierigkeit der Europäer, sich in einer Welt zurechtzufinden, deren Zentrum nicht mehr Europa ist [es mag ja auch durchaus nicht mehr lange in Amerika liegen]. Darauf reagierte die Gründung der EU. Im Kontext eines prinzipiell so motivierten Antiamerikanismus ist dann gewiss auch latenter Antisemitismus hochgespült worden. Aber er ist kausal gesehen wohl sekundär. Sekundär und nicht weniger abscheulich. Es gehörte ja während des Irak-Kriegs zu den Gewissheiten des deutschen Durchschnitts-Intellektuellen, dass jener Krieg „nur zum Schutz Israels und wegen des Öls“ vom Zaun gebrochen war. Dass es aber prinzipiell verwerflich sei, einen Krieg zum Schutz Israels zu führen, das war für mich ein kaum maskierter, vor allen für Deutschland peinlicher Antisemitismus.
Unterschiedliche Wege in die Zukunft
Amerika galt für Europäer Jahrhunderte lang als Erfüllungsort eigener Wünsche und Sehnsüchte. Haben sie übersehen, dass Amerika einen anderen Weg in die Zukunft gewählt hat?
Sepp Gumbrecht: Natürlich „wählen“ Gesellschaften nicht wirklich „Wege in die Zukunft“ – nicht mal an Wahltagsabenden. Evident ist aber, dass Europa auf breit angelegte „Programme“ setzt, manchmal so, als lebten wir immer noch in der Zeit der sozialistischen Fünfjahrespläne, während in Amerika staatliche Planung innenpolitisch nicht-existent ist. Man verlässt sich, blind vielleicht, auf die sich akkumulierenden Effekte von individuellen Initiativen und ihrem geradezu darwinistischen Kampf. Außenpolitisch ist es hingegen genau umgekehrt: Da hat nicht nur das Amerika von George Bush imperiale Visionen [vielleicht gar nicht immer so verachtenswerte Visionen], während aus europäischer Perspektive anscheinend jedes außenpolitische Projekt als „imperialistisch“ abqualifiziert wird.
Ich meinte das viel grundsätzlicher. Es ist doch evident, dass Aufklärung und Moderne in Amerika andere Formen und Gestalten angenommen haben. Rationalismus und Säkularismus sind in Pennsylvania zu einer "Politik der Tugend" mutiert und religiös-metaphysisch unterfüttert worden.
Sepp Gumbrecht: Ja, die Ideen der Aufklärung haben sich in Amerika anders entwickelt als in den verschiedenen europäischen Kontexten und Nationen – und diese Divergenzen hat man fast ein Jahrhundert lang unterschätzt. Das hat wohl auch damit zu tun, dass diese Ideen in die amerikanische Revolution direkt implementiert wurden und seither [besser oder schlechter] den amerikanischen Staat definiert haben, während sie in Europa unter viel komplexeren nationalen, sozialen und kulturellen Bedingungen während des 19. und 20. Jahrhunderts durchzusetzen waren. Diese Umsetzung in Europa kam erst 1989 zum Abschluss.
So gesehen wäre der US-amerikanische Weg in die Moderne auch ein Zeugnis für die Raumgebundenheit von Ideen und Werten, Kulturen und Prinzipien, eine Frage und Tatsache, die der Diskurs der letzten Jahre immer dementiert oder ausgeklammert hat.
Sepp Gumbrecht: Ganz gewiss. Da sind wir uns endlich einmal einig. Und zwar „Raum“ nicht nur im Sinn einer Metapher für kulturelle Verschiedenheiten. Vielleicht hat die andere Tiefe, Distribution der Räume in Europa und in Amerika tatsächlich eine viel entscheidendere Rolle gespielt, als die heute noch irgendjemand durchdenken kann.
Asymmetrische Wahrnehmungen
Muss folglich nicht jede Kritik am „Amerikanismus“ zwangsläufig in eine Kritik an der Moderne münden, wie man an bekannten „Amerikafahrern“, an Max Weber, Werner Sombart, Jean Baudrillard oder jetzt Bernard-Henri Levy wieder beobachten kann. Selbst bei Tocqueville, dem man immer anderes bescheinigt, findet man bei genauerem Lesen höchst ambivalente Gefühle.
Sepp Gumbrecht: Na, Max Weber hat es wohl eher gut gefallen in Saint Louis …
Was ihn aber nicht davon abgehalten hat, hinterher abschätzig, ja sogar verächtlich über das Land zu reden.
Sepp Gumbrecht: Das ist wiederum so ein Habitus, der fast schon etwas Rührendes hat und sich bis heute fortsetzt. Fast jeder europäische Intellektuelle entdeckt irgendwann Amerika und hält diese Entdeckung dann für ein Ereignis welthistorischen Ranges. Baudrillard zum Beispiel ist der typische französische Intellektuelle, der ganz erschrocken war, dass Manhattan anders als das ihm vertraute Quartier Latin ist. Natürlich – Ambivalenz überwiegt insgesamt, wie übrigens auch bei den intelligenteren amerikanischen Europa-Beobachtern, bei Henry James etwa. Aber vielleicht ist das für jede Intellektuellen-Beobachtung notwendig und unvermeidlich.
Das ist ein gutes Stichwort. Spielt dieser Minderwertigkeitskomplex, den die großen amerikanischen Romanciers angesichts des Reichtums europäischer Kultur, Bildung und Lebensart erfasst, wirklich noch eine Rolle? Mein Eindruck ist, dass man Europa mittlerweile eher gleichgültig, ja fast mitleidig begegnet, es für irrelevant hält?
Sepp Gumbrecht: Auf Rumsfeld mag das zutreffen. Aber gewiss nicht auf die gegenwärtige Außenministerin, die mit Recht sehr stolz darauf ist, eine sehr respektable Brahms-Interpretin zu sein und Tolstoj im Original lesen zu können. Mir hat einmal ein sehr angesehener deutscher Theaterregisseur bei einer Diskussion des „Philosophischen Quartetts“ gesagt [und das klang ziemlich ernst], der einzige Beitrag Amerikas zur Weltkultur sei die Erfindung des Kaugummis. Ein Äquivalent dafür kann man sich im US-Fernsehen [dessen Niveau ansonsten deplorabel ist] kaum vorstellen – vor allem nicht in der Oprah Winfrey-Show, die ich übrigens für sehr gekonnt und in einem ernsthaften Sinn für sehr amerikanisch halte.
Liegt ein Grund für die Dauerkrise zwischen Alter und Neuer Welt einfach darin, dass der Durchschnittsamerikaner über Europa im Allgemeinen wenig oder gar nichts weiß, ihm Europa wie der Rest der Welt schnurzegal ist, während der gemeine Europäer glaubt, über Amerika sehr viel oder alles zu wissen?
Sepp Gumbrecht: Sicherlich ist das nicht der einzige Grund für die – komplexe – Verstimmung. Aber du beschreibst da sehr bündig und zutreffend eine zentrale Asymmetrie. Viele deutsche Kollegen, die mich in Stanford besuchen, klären mich – schon auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel – dankenswerterweise über alle Missverständnisse hinsichtlich meines Landes auf, denen ich bedauerlicherweise anheimgefallen bin.
Was antwortest du denen dann?
Sepp Gumbrecht: Ich konzentriere mich auf den Verkehr und lausche, man kann ja von deutschen Professoren immer etwas lernen. Zugleich mache ich mir im Kopf Notizen für die nächste Kolumne im „Merkur“, in denen die Kollegen dann fast alle vorkommen. Aber im Ernst: Was soll ein höflicher Gastgeber sagen? – Manchmal frage ich nach zwei oder drei Tagen, ob ihnen irgendetwas Unerwartetes aufgefallen ist. Und die Antworten hängen wohl vor allem davon ab, ob die Gäste mit den Reaktionen auf ihren Vortrag in Stanford zufrieden waren.
Medien-Mythen, die schwindelig machen
Harold Bloom hat jüngst Präsident Bush mit Kapitän Ahab verglichen, der im Irak seinen „weißen Wal“ gefunden hätte und damit das Land in die Selbstzerstörung führt. Und zwar auf Kosten eines anderen Amerikas, das er mit Walt Whitmans Poesie identifiziert und das er mit Energien der Selbstfindung und Selbsterhaltung kodifiziert.
Sepp Gumbrecht: Ich bewundere Harold Bloom sehr – einschließlich seines Hangs zur Hysterie [und das ist gar nicht ironisch gemeint, denn für viele große Künstler und Intellektuelle ist Hysterie eine Quelle ihrer Produktivität]. Nehmen wir mal an, Bush sei so ein Kapitän: Es bleibt ihm wohl auch dann nicht genügend Zeit, das Land in die vollkommene Selbstzerstörung zu reißen. Er kann ja auch nicht so absolut kommandieren und schalten wie ein Kapitän. Andererseits finde ich – bei aller poetischen und biografischen Bewunderung – diese von den guten Freunden Bloom und Rorty gepushte Identifizierung des „Amerikanischen“ mit Walt Whitman etwas einseitig. Ja, ein wunderbarer Poet und meinetwegen sogar Visionär. Aber es gibt auch die ganz anderen Charaktere in den Vereinigten Staaten, es gibt Muhammad Ali, es gab John Wayne und auch Henry Ford, und vor allem [auch das ist noch einmal ganz unironisch gesagt] die unvergleichliche Bildschirm-Präsenz, den unvergleichlichen Einfluss der großen Oprah Winfrey.
Gehen nicht auch diese Figuren, die du aufzählst, konform mit zentralen amerikanischen Mythen, dem Mythos des Selfmademan oder dem des Westeners, der von der heroischen und gewaltsamen Inbesitznahme rechtsfreien Raums erzählt. Was die Einschätzung stützen würde, dass die USA seit geraumer Zeit dabei sind, sich von einer Schriftkultur zu einer mythischen, hypermedialen Kultur zu entwickeln?
Sepp Gumbrecht: Wieder eine von diesen Medientheorie-Megathesen, die – aus mir unbegreiflichen Gründen – immer versuchen, das Komplexeste auf einen, den lautesten Begriff zu bringen. Zunächst bezweifle ich, dass die „Medien“, was immer man genau darunter verstehen will, im amerikanischen Alltag eine soviel größere Rolle spielen als im europäischen Alltag. Ich kenne nicht wenige Europäer, die sich [mit Recht wohl] spöttisch darüber äußern, wie altväterlich einige der Medientechnologien in meinem Land wirken [ich kenne das natürlich nur vom Hörensagen].
Also, wenn es denn eine Entwicklung hin zur mythisch-hypermedialen Kultur gibt [aber wie soll die aussehen?], dann ist das wohl eine „gesamt-westliche“ Entwicklung. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck – gestützt nur auf die Schulerfahrung meiner vier Kinder und auf die Kompetenzen und Präferenzen meiner Studenten in Stanford – dass Schreiben-Können und Klassiker-Lesen an den Schulen, wenigstens an vielen Schulen hier einen besonders hohen Stellenwert hat. Das gilt übrigens auch für die Wissenschaft. Man erwartet von einem Professor für Literatur in Stanford oder Yale durchaus [und viel selbstverständlicher als etwa in Deutschland], dass er überdurchschnittlich gut schreiben kann.
Mancher meint, in der Lehre des „preemptive war“ noch solche Anklänge an den Westernmythos herauszuhören: die Beschwörung des Gewaltakts vor der Einsetzung des Gesetzes. Verschränken sich an dieser zentralen Stelle der transatlantischen Kluft vielleicht sogar amerikanischer Mythos und evangelikaler Protestantismus?
Sepp Gumbrecht: Setzen wir da nicht alles mit allem gleich? Mir wird – begrifflich – ganz schwindlig bei dieser Frage. Ja, natürlich gibt es keinen Krieg ohne Gewalt – und natürlich kann man deshalb jeden Krieg mit den typischen Szenen des Westerns beschreiben. Aber was ist damit gewonnen, das zu tun?
Vielleicht die Beobachtung, dass in Amerika der Mythos viel lebendiger ist als in Europa, und dieser Mythos, wie die „Dialektik der Aufklärung“ lehrt, auch in Barbarei umschlagen kann.
Sepp Gumbrecht: Welchen Mythos meinst du? Den von der [gewaltsamen] Eroberung des Wilden Westens? Der Mythos als Mythos war wohl, meine ich, eher ein europäisches Produkt, während in Amerika Millionen von Einwanderern konfrontiert waren mit den Problemen des schieren Überlebens. Vielleicht ist es eher die von solchen Situationen geforderte Entschlossenheit und Bereitschaft zur Brutalität, die – in Spuren zumindest – in den Vereinigten Staaten überlebt hat.
Während Amerika über Jahrzehnte sein Selbstbild aus der Tatsache zog, dass es das wahrere und bessere Europa verkörperte, erschien Alteuropa dagegen als Ort der Korruption und moralischen Dekadenz. Braucht Amerika Europa überhaupt noch als kulturellen Fix- oder Bezugspunkt? Wenn ja, was könnte es von Europa noch lernen?
Sepp Gumbrecht: Warum sollte Amerika von Europa lernen wollen? Gewiss, das findet beständig unter Millionen von spezifischen Perspektiven statt, bedeutet aber nicht, dass man hier vom „Modell Europa“ reden wird, so wie die SPD der 1970er Jahre das „Modell Skandinavien“ auf ihre Banner geschrieben hatte. Der durchschnittliche Amerikaner denkt viel weniger über Europa nach als der durchschnittliche Europäer über Amerikaner. Zugleich ist es mein Eindruck, dass für die allermeisten Amerikaner Europa weiterhin als das Eldorado der Kultur und der Eleganz gilt – mehr als New York oder L.A. Und das ist – mal ganz abgesehen davon, ob es berechtigt ist oder nicht – doch ganz erfreulich.
Hochachtung vor der europäischen Kultur
Wechseln wir den Blick. Auch in Amerika gibt es eine tief sitzende Feindseligkeit gegenüber Europäern, die mit Minderwertigkeitskomplexen kaum zu erklären sind.
Sepp Gumbrecht: Ich spüre davon denkbar wenig – aber wahrscheinlich gibt es das trotzdem. Das Land ist ja sehr groß. Nur sollte man nicht jeden Unsinn, jede Teil-Pathologie sofort zum kontinentalen Trend hochrechnen. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite.
Beispielsweise beschimpft man sie als „whimps“, als „Euroweenies“ oder „EU-nuchen“, die ihr Geld lieber für teuren Wein, Urlaub und soziale Sicherheit ausgeben statt es in Verteidigung ihres Landes zu investieren.
Sepp Gumbrecht: Das mag sein. Aber es gibt auch die ganz rührende Bemühung der amerikanischen Mittelklasse, den allergrößten Respekt [zum Beispiel] vor der europäischen Weinkultur, der europäischen Mode und [ohnehin seit jeher] vor den europäischen Literaturen zu zeigen. Das „English Department“ in Stanford hat etwa fünfunddreißig Professoren, von denen zwischen fünfundzwanzig bis dreißig ausschließlich auf britische Literatur spezialisiert sind und sicher nicht mehr als fünf auf amerikanische Literatur. Könnte man sich Ähnliches in Deutschland oder in Frankreich vorstellen?
Sicher nicht, aber die amerikanische Kultur hat in dieser Hinsicht vielleicht auch nicht so viel zu bieten. Oder sollten sie über die Geschichte und Kultur des Kaugummis nachdenken? – Empfindest du Europäer, vor allem was das Auftreten vieler seiner Intellektuellen und Entscheidungsträger angeht, manchmal auch als unheimlich überheblich, anmaßend, undankbar und selbstgerecht, wie viele Kolumnisten in der Washington Post oder NYT?
Sepp Gumbrecht: Auch das lässt sich nicht pauschalisieren. Schröder hat gewiss auf viele Amerikaner wie ein überheblicher Arroganzpinsel gewirkt. Viele Leute haben hingegen bemerkt, dass Joschka Fischer – bei aller außenpolitischen Einigkeit mit seinem Kanzler – andere, gelassenere Töne anzuschlagen wusste [und deswegen ist er ungemein populär unter gebildeten Amerikanern]. Mein Punkt ist, dass es auf dem Bildschirm meiner Erfahrungen und Lektüren zu viele europäische Intellektuelle gibt, die glauben [wie du vorhin sagtest], sich in und mit Amerika besser auszukennen als die Amerikaner. Frau Merkel scheint nicht zu ihnen zu gehören, und das hat einen zunächst einmal wohltuenden Eindruck hier gemacht.
Vielleicht hat Europa angesichts der blutigen Erfahrungen, die es im letzten Jahrhundert gemacht hat, auch die moralische Verpflichtung, Amerika vor weiteren militärischen Abenteuern abzuhalten?
Sepp Gumbrecht: Verpflichtung vor wem? Vor Gott? Das wäre eine sehr amerikanische Sicht – aber die meisten Amerikaner glauben ja, dass der seine schützende und segnende Hand ohnehin vor allem über ihrem/unserem Land hält und haben so kaum Bedarf für Moral made in Europe. Ich sage dies zugleich ironisch und im Ernst. Wirklich und ein letztes Mal: diese Denkfigur, dass Europa eine besondere moralische Berufung daraus ableitet, die Welt während des 20. Jahrhunderts in zwei Weltkriege gestürzt zu haben, halte ich für eine der bemerkenswertesten Paradoxien unserer Gegenwart.
Standarisierter Hedonismus für die Mittelklasse
Der Westen als solcher existiert nicht. Du hast vorgeschlagen, von zwei verschiedenen Kulturen auszugehen. Was würde dadurch leichter, einfacher, praktischer?
Sepp Gumbrecht: Mit meinem Vorschlag wollte ich vorhin nicht behaupten, dass die Kulturen „in Wirklichkeit“ unterschiedlich und nicht ähnlich wären. Die Idee folgt eher jenen praktischen und manchmal paradoxalen Verschreibungen, die wir aus bestimmten Formen der Psychotherapie kennen.
Gut, aber was würde einfacher und leichter dadurch?
Sepp Gumbrecht: Wenn man von einer Verschiedenheit der europäischen und der amerikanischen Kultur ausgeht, macht man sich vor allem resistenter gegen Enttäuschungen. Man muss dann nicht mehr jede Divergenzbeobachtung als einen Skandal ansehen, der sofort Vorwürfe auslöst. Warum lassen die Europäer den Amerikanern nicht ihre mit dem Wachsen der Bankkonten verknüpfte Frömmigkeit – vielleicht fühlen sich amerikanische Zeitungsleser dann auch nicht mehr provoziert von den Exzessen des Sozialstaats. Warum müssen europäische Sportsfans beständig darauf bestehen, dass Baseball, dessen Regeln sie gar nicht kennen, langweilig ist, während amerikanische Machos den Fußball als einen typischen Frauensport verachten? Es gibt bestimmte, bis heute wirksame Ausgangswerte und Weltsichten. Diese haben sich zum Teil divergierend entwickelt. So dass die europäische und die amerikanische Kultur nicht selten Probleme miteinander haben und an wechselseitigen Verstimmungen leiden.
Während des Jahres bist du häufig für mehrere Wochen in Europa auf Vortragsreisen. Wie „anders“ oder „fremd“ präsentiert sich der Kontinent seit deiner Übersiedelung in die USA? Ist es noch das Europa, das du kennst oder in dem du groß geworden bist? Zumal sich sein Zentrum durch den Big Bang nach Osten bzw. Südosten verschiebt.
Sepp Gumbrecht: Europa ist gewiss nicht unerkennbar für mich geworden. Die aus meiner Sicht markantesten Veränderungen sind zum ersten eine Verunsicherung der verschiedenen Nationalgefühle – in der einen wie in der anderen Richtung. Es könnte sein, dass sich Deutsche und Spanier etwa heute erstaunlich europäisch [und weniger deutsch und spanisch als früher] fühlen, während die Dänen vielleicht in ihrer Selbstwahrnehmung dänischer geworden sind als vor zehn Jahren.
Vor allem aber habe ich den Eindruck, dass ein bestimmter Typ von standardisiertem Hedonismus für breite Kreise der Mittelklassen in Europa [und wer ist schon nicht Mittelklasse in diesen Ländern?] zum Zentrum des Lebens geworden ist. Die richtige Temperatur des Weins, der perfekt geschnittene Carpaccio und [einmal im Leben] die Bayreuther Festspiele sind ausschlaggebend für das Selbstwertgefühl – mehr als die tägliche „Brotarbeit“ oder gar das Studium der Kinder. Das sind eher Komponenten des Lebens geworden, die man als „stressig“ erlebt.
Merkwürdigerweise hat Asien viel weniger Probleme mit Amerika als Europa.
Sepp Gumbrecht: Das liegt wohl daran, dass diese Kulturen [die asiatischen und die amerikanische] wirklich grundverschieden sind, so dass es jene eigenartige Bruder-Eifersucht über die richtige Verwirklichung [etwa] der Aufklärungstradition nicht geben kann wie zwischen Europa und Amerika. Vielleicht auch deshalb, das wäre die interessantere These, weil sich zwischen Asien und Amerika der eigentliche Showdown des 21. Jahrhunderts vorbereitet.
Nostalgisch gefärbte Sympathien für Fidel
Du kommst auch sehr viel in Südamerika herum. Seit der Wahl von Hugo Chavez ist auch dieser Teil des Kontinents wieder in Bewegung. In vielen Staaten (Bolivien, Chile) kommen Personen an die Macht, die vor Jahren noch amerikanische Putschgerüchte ausgelöst hätten. Die Saat, die einst Fidel Castro gesät hat, könnte, ironischerweise nach dessen Abgang, aufgehen. Wie beobachtest du das Ganze. Gibt es eine „südamerikanische Drift“, und welche Chance hat sie?
Sepp Gumbrecht: Macht- oder wirtschaftspolitisch gesehen spielt Südamerika, ein Kontinent, dessen Mentalitäten ich liebe und dessen Kulturen ich bewundere, seit langem schon gar keine Rolle. Sobald ein Land dort nicht mehr gänzlich insolvent ist, siehe Argentinien, kommt die dort immer sehr vollmundige Rhetorik der Politiker zum Tragen und wird für bare Münze genommen. Fidel Castro ist heute eigentlich nur noch deshalb ein Problem für die USA, weil nach seinem Tod die Vereinigten Staaten in jedem Fall für „schuldig“ erklärt und zur Verantwortung gezogen werden. Denn sollten sie intervenieren und so Hunderttausende vor dem Verhungern bewahren, dann wird eben das Faktum der „Intervention“ kritisiert werden. Falls sie aber nicht intervenieren, dann wird man ihnen die Verweigerung humanitärer Hilfe vorwerfen. Im Prinzip ist das ja jetzt schon der Fall.
Es gehört zu den unauslöschlichen Merkmalen in der Seele meiner Generation [und ich spiele hier ganz bewusst auf das Sakrament der Priesterweihe an], dass man sich irgendeine Sympathie für die Gestalt von Fidel bewahrt. Und ich gestehe ein, dass das auch auf mich zutrifft. Aber diese nostalgisch gefärbte Sympathie muss ja nun nicht gleich auf Chavez ausgedehnt werden – den seine südamerikanischen Kollegen, glaube ich, nur deshalb etwas hofieren, weil das [ziemlich risikolos] den antiamerikanischen Potenzträumen ihrer Wähler entgegenkommt.
Die für meine Generation ideologisch fast vernichtende Wirklichkeit ist aber, dass die Misere Kubas, die Versorgungsengpässe, die Ärztinnen, die sich in der Straßenprostitution den Lebensunterhalt verdienen, die jungen Männer, die unter Lebensgefahr auf Fischerbooten nach Miami überzusetzen versuchen, weil sie von einer Baseballkarriere in Amerika träumen – uns als eine unüberbietbar traurige Wirklichkeit herausfordert, als der sichtbare Beweis für das unleugbare Scheitern aller – ja als Versprechen wunderbaren – sozialistischen Träume und Utopien. Von diesem Schmerz wird uns niemand erlösen. Nicht einmal Fidel durch den schon so lange anstehenden Schlaganfall.
Neues Alexandrinertum
Lass uns zum Schluss wenigstens in Ansätzen auf die modischen Attitüden des Geistes in den Kulturwissenschaften eingehen. Die 1980er waren eine große Domäne der Geisteswissenschaften. Systemsoziologie und Diskurstheorie, Dekonstruktivismus und Medienarchäologie hießen die Renner. Nach dem Theorierausch scheint mit dem Tod der großen Stars der Szene normal science eingekehrt zu sein. Was bleibt von dieser Theoriedynamik, vom Hoffen auf eine Grand Theory nach ihrem Kältetod?
Sepp Gumbrecht: Leben wir wirklich in der Zeit eines „theoretischen Kältetods“? – Jede Generation hat für einen Moment so ein Gefühl, wenn der Kurs der Theorien, mit denen sie aufgewachsen sind, unaufhaltsam zu fallen beginnt. Das war ja zum Beispiel genau der Eindruck, der uns vor fast dreißig Jahren bewogen hat, mit jenen Dubrovnik-Kolloquien zu beginnen. Was ist heute anders? – Zuerst einmal, möchte ich wenigstens für Europa behaupten, speziell für Deutschland, dass Unternehmungen wie unser Gespräch zum Beispiel offenbar ein viel größeres Publikum finden, als dies noch 1980 denkbar gewesen wäre. Natürlich hat das vor allem medientechnische Gründe – aber immerhin.
Dann gibt es, mit einem eher etwas verquasten, mehr existentialistischen als programmatischen Ton, denk an Agamben oder Zizek [im Vergleich zu Adorno und Althusser], doch weiterhin auch den „polit-kritischen Intellektuellen.“ Sicher, große theoretische Systeme, wie Luhmanns Systemtheorie oder etwas monomanische intellektuelle Stile wie die Dekonstruktion faszinieren uns heute weniger als vor zehn oder fünfzehn Jahren. Vielleicht hat sich da endlich bewahrheitet, was wir doch schon damals beständig im Mund führten – eine Ent-Totalisierung, ein Ende der großen Theorie-Erzählungen.
Aber so zu tun, als sei nun alles zum Kältetod gekommen – wie lächerlich ist das? Es erinnert mich daran, wie bis ins 20. Jahrhundert jede Vätergeneration ein nostalgisches Verhältnis zu der Militärromantik ihrer eigenen Jugend hatte. Sedan, das war noch eine echte Schlacht, während es in Verdun nur noch um die Quantität des „Materials“ ging – Derridas Debatte mit Searle, das war noch der wirkliche Geist. Natürlich kommt darin auch die Angst meiner Generation zum Ausdruck, intellektuell Verantwortung für die Gegenwart zu übernehmen. Denn wir, die baby boomers, die Alt-Achtundsechziger, sind ja die eine Generation, die sich dazu verdammt hat, wie Peter Pan, nie erwachsen werden zu dürfen. Darum muss ich Jeans und T-Shirts zu hochformellen akademischen Vorträgen tragen. Aber im Gegensatz zu vielen meiner Generations-„Genossen“ [!] nehme ich die Herausforderung an, dass wir – dass ich – nun eben „dran“ sind. Wenn wir keine intellektuellen Bücher von Belang schreiben, dann haben wir unseren Moment, unsere Gegenwart versäumt. Das mag sehr wohl der Fall sein – aber dafür gäbe es keine Entschuldigung. Entweder haben meine Bücher aus den letzten zehn Jahren einen intellektuellen Rang oder sie sind nichts wert. Und wenn weder meine Bücher noch meine Seminare einen solchen Rang gehabt haben, dann war ich selbst nicht einmal mein bescheidenes Gehalt wert.
Viele der intellektuell Schärfsten unter den heute Fünfundzwanzig- oder Dreißigjährigen sind ja zu absoluten Klassiker-Spezialisten geworden – zu Kant-Lesern, die man mit keinen Kant-Zitat überraschen oder gar verunsichern kann. Ich hab das neulich einmal das „neue Alexandrinertum“ genannt – und zwar eher mit [teilweise neidvoller] Bewunderung. Aber vielleicht sollten wir baby boomers der Geisteswissenschaften dieses Alexandrinertum als Symptom unseres Scheiterns ernst nehmen. Wenn wir bessere, faszinierendere, provozierende Bücher geschrieben hätten, dann wären die uns Nachfolgenden nicht zu jener Klassiker-Bewunderung verpflichtet worden. Aber selbst das würde ja nicht bedeuten, dass neue intensive Lektüre der Klassiker irgendetwas mit „Kältetod“ zu tun hat.
Ich werde in den nächsten Wochen mit Studenten und Kollegen Sartres „L’Etre et le Néant“ zum zweiten Mal in meinem Leben lesen. Bestimmt gibt es da heiße Diskussionen – und weil ich immer Partei für die intellektuelle Gegenwart gegen die Vergangenheit ergreifen möchte: bessere Diskussionen als die über Derrida und de Man.
Also kein Antihumanismus mehr, keine Stil- und Formfragen, dafür hin zu den Dingen, die den Menschen wirklich angehen?
Sepp Gumbrecht: Der Antihumanismus hat, und das sollte man nicht vergessen, seine Zeit gehabt und durchaus eine respektable Wirkung entfaltet. Kaum jemand gebraucht doch heute die vollmundig-humanistischen Begriffe der Aufklärung so selbstgefällig-naiv wie noch vor fünfzehn Jahren. Dass in unserem [“post-anti-humanistischen“] Kontext „Stil- und Formfragen“ eine geringere Rolle als früher spielen sollen, leuchtet mir nicht ein. Im Gegenteil. Geschmack und Stil spielen eine viel größere Rolle als jemals zuvor. Vielleicht hat man nur wieder entdeckt, dass Stil und Form zu den Dingen gehören, die uns wirklich angehen, weil sie unser Leben schöner oder stumpfer machen.
Vermeiden, sich auf eine These einzuschießen
Sind wir dabei, wieder „antimodern“ zu werden und die moderne „Subjektkultur“ durch „Präsenzkulturen“ zu ersetzen?
Sepp Gumbrecht: Ich denke, wir sollten die fruchtlose Alternative „modern“ vs. „antimodern“ aufgeben, die wohl ein Überbleibsel aus der Zeit der unendlichen Diskussionen über „modern vs. postmodern“ ist.
Nein, ich bin nicht der Meinung, dass wir gezwungen sind oder uns entschieden haben, „antimodern“ zu sein. Wir haben nur das Gefängnis jener „modernen“ philosophischen Tradition endlich wieder durchbrochen, die uns vormachen wollte, dass es außerhalb der Sprache nichts Interessantes oder gar für uns Relevantes zu denken gäbe. Was „Präsenzkulturen“ und „Subjektkulturen“ angeht, so sollen dies [im Sinne der Weberschen Idealtypen] Begriffe sein, die als Analyse- und Kontrastierungs-Instrumente zu gebrauchen sind, nicht als vollmundige Beschreibungen der Wirklichkeit. Aber wenn ich für einen Moment auf diesen Teil der Frage eingehe: Natürlich glaube ich, dass unser Alltag immer „subjektkultureller“ wird und dass eben deshalb gewisse Reaktionen [aber eher Reaktionen der Freizeit] in Richtung auf „Präsenzkultur“ auszumachen sind.
Eine wunderschönes Beispiel für Paradoxie, an der sich ein Lumaniac abarbeiten sollte Dennoch: Kann uns, wie Heidegger an seinem Lebensabend gemeint hat, „nur noch ein Gott retten?“
Sepp Gumbrecht: Ich habe nie wirklich verstanden, was Heidegger an dieser berühmten Stelle des posthumen SPIEGEL-Interviews wohl sagen wollte. Ich vermute [ohne das beweisen zu können], es ging ihm um die Intuition, dass in unserer Zeit [vor allem durch die moderne Technologie im Status des vermittelnden Mediums] die intensivste Chance zur Selbst-Entbergung des Seins besteht seit der antiken griechischen Kultur. Aber diese Selbst-Entbergung wird sich nur ereignen, wenn es Menschen gibt, die bereit sind, das sich entbergende Sein „in die Acht zu nehmen“ und zu „umarmen.“ Das genau, meint Heidegger, versäumen wir derzeit noch [jedenfalls: zu seiner Lebenszeit und vielleicht für immer], weil „wir Menschen der Gegenwart“ besessen sind von einer ausschließlich instrumentalen Verwendung unserer Technologien. Wir geben eben deshalb der Selbst-Entbergung des Seins in den Technologien keine Chance. Nur ein Gott, meint Heidegger also wohl, könnte uns Menschen der Gegenwart helfen, diese unserer Gegenwart im Rahmen der Seinsgeschichte zugewiesene Rolle besser auszufüllen, Katalysatoren für die Selbst-Entbergung des Seins zu werden. So etwa könnte man, meine ich, den Hintergrund und Kontext des berühmten Zitats beschreiben.
Sollte meine Deutung zutreffen, dann hat das mit Politik zunächst einmal wenig zu tun – und in diesem Sinn hielte ich denn auch einen Satz wie „nur ein Gott kann uns noch helfen“ für viel zu dramatisch für die Beschreibung unserer politischen Gegenwart. Denn um sagen zu können, ob unsere Situation tatsächlich so hoffnungslos ist, müsste man sie zunächst einmal in ihrer ganzen Komplexität – und eben mit Geduld – analysieren. Stattdessen heischen wir alle nach der einen, Pointen trächtigen – und schon deshalb fast notwendig unterkomplexen - These.
Heißt das dann auch: zurück zu den Griechen, wie es Heidegger, Kittler und du vormachen, wenn ich dein „Sportbuch“ zu Rate ziehe?
Sepp Gumbrecht: Ich bin wohl nicht besonders „graeco-phil.“ In meinem Buch über den Sport nehme ich diesen Faden nur auf, weil man das einfach erwartet von jemandem, der sich mit der Geschichte des Sports auseinandersetzt. Aber ich schreibe ja ebensoviel oder mehr über Gladiatorenspiele in Rom oder Boxen in London während des späten 18. Jahrhunderts.
Einer der ganz großen Graecophilen unserer Zeit ist tatsächlich Friedrich Kittler. Der gerade erschienene erste Band seines sich als monumental abzeichnenden Griechenland-Werks liegt neben mir. Die Frage ist, ob sich jeder Intellektuelle „seinen“ historischen und kulturellen Projektionsrahmen suchen darf und soll – oder ob dem antiken Griechenland ein begründbarer Vorrang zukommt. Kittler würde eine solche Sonderstellung Griechenlands – mit Heidegger und vielen guten Gründen dazu – gewiss und emphatisch bejahen. Für mich, das ist viel unschärfer, reicht eigentlich jede Vorstellung von Welten, in denen das Leben raumbewusster war, ruhiger [nicht zufällig heißt die Überschrift des letzten Kapitels in meinem Buch über Präsenz „to be quiet for a moment“], konzentrierter auf die Dinge der Welt und die physische Gegenwart und Berührbarkeit der anderen.
Die Welt des schnellen und fragmentierten Austauschens ist eher die Welt der nächsten Generation. Und ich wäre dann ein Troubadour der Langsamkeit – was auch insofern Sinn macht, als die Provence des 12. Jahrhunderts schon immer mein Äquivalent für Friedrich Kittlers Griechenland gewesen ist. Womit wir wieder in Europa wären.