Die Kaffeesatzleser sind unterwegs
Wie Newsjournalismus zunehmend von Horoskopie verdrängt wird. Und warum das Negative überwiegt. Ein kritischer Blick auf die Corona-Berichterstattung.
"Zwölf Ideen zur besseren Zukunft", titelte die Zeit in Ihrer ersten Ausgabe im neuen Jahr. Offenbar wollte sie die Düsternis der aktuellen Nachrichtenlage mit einem intellektuellen Wunschkonzertchen aufhellen. "Es geht um Gerechtigkeit und Liebe, um Natur und Demokratie", flötete der Untertitel. Also die großen wundersamen Dinge, über die viel nachgedacht und dabei die aktuelle Problemlage vergessen wird.
Seit es den Journalismus gibt, ist für die Newsmaker der Jahreswechsel die Ausnahme von der Regel: Sie dürfen über das Zukünftige spekulieren und als neunmalkluge Kaffeesatzleser die Spalten füllen. "Unsere Reaktion wagt wieder den Blick in die Glaskugel" verkündet die Krefelder Lokalausgabe der Westdeutschen Zeitung am ersten Wochentag des Jahres 2023, sie bringe jetzt "die ganz große Prognose". Zum Beispiel, dass bei der Haltestelle Rheinstraße das Glasdach "weiter undicht bleibt". Und dass sich an den "Zuständen" auf dem Theaterplatz nur "wenig ändern wird."
Ähnlich mutig prognostiziert die Wirtschaftsredaktion der Welt am Sonntag:
Auch 2023 wird zahlreiche Überraschungen bringen.
Im Vergleich voll brutal ist die prophetische Weitsicht des Berliner Kurier, der seine Leserschaft am 6. Januar warnt:
In Europa und den USA breitet sich eine neue, gefährliche Corona-Variante blitzschnell aus.
Natürlich heißt hier die Kassandra dieser schlimmen Prognose: Karl Lauterbach.
Okay, ich kann diese Delphi-Spiele zum Jahreswechsel grinsend wegstecken, ähnlich wie zum 1. April die "Aprilscherz" genannten Versuche, uns in den April zu schicken, auch wenn sie von Jahr zu Jahr blödsinniger werden.
Doch Probleme bereitet mir, dass sehr viele Journalistinnen und Journalisten irrtümlich meinen, dass praktisch jede Woche der Jahreswechsel stattfinde und sie darum unaufhörlich Geschichten erzählen, die es gar nicht gibt, weil sie sich erst in der Zukunft ereignen könnten – oder auch nicht.
Dabei geht es meist um Prozesse und Vorgänge, die zum Schaudern und Fürchten sein sollen. Wie der von den Journalisten geliebte Lauterbach, so spielen die Medien mit grauslichen Themen und Geschichten die Rolle der Kassandra, die Angst und Schrecken verkündet.
Ich rede hier nicht von dem für viele West-Regierungen unvorhergesehenen Angriffskrieg des Kremls gegen die Ukraine, auch nicht vom Klimawandel, der die Menschen im Süden mit Dürre und im Norden mit Eiseskälte in Panik versetzt.
Ich meine im Vergleich dazu eher harmlose Vorgänge, die sich bei uns in Deutschland ereignen, die von zahllosen Experten beobachtet und analysiert und für deren Beseitigung viele Milliarden Euro bereitgestellt wurden. Ich rede über die panikmachende Prophetie der Medien zum Komplex Corona-Pandemie.
Keine Frage, die Newsmedien haben dicht und intensiv über jeden Berliner Pups berichtet. Wir sahen die Videos mit den Leichenwagen in Bergamo, die Krankenwagen in Heinsberg und in Ischgl. Wir wussten sogleich, dass die Regierung Merkel die Schulen dichtmacht und uns in den Lockdown schickt. Dass Gesundheitsminister Spahn die Milliarden für Impfstoffe hat springen lassen; dass Ministerpräsident Söder 'ne Maske trägt und sich Kretschmann hat testen lassen.
Wir starren auf die Tabellen, die uns für die vergangenen 7 Tage die R-Zahlen in Rot, die Neuinfizierten in Blau und die Todesfälle in tiefem Schwarz präsentieren. Alles Nachrichten aus der jüngsten Vergangenheit.
Doch immer häufiger haben die Newsmedien ihre Spalten mit Berichten gefüllt, in denen die Verben "drohen", die Attribute "gefährlich", die Substantive "Risiko", "Angst" und "Gefahr" im Zentrum standen: Bezeichnungen, die nicht die Vergangenheit, sondern das Zukünftige betreffen und insofern zum Handwerk Horoskopierer gehören.
Blick in die Datenbanken: Fokus auf Gefahren
In den Datenbanken der archivierten Zeitungen (Print wie Online) kann man die Häufigkeit von Schlüsselwörtern, Phrasen und Sätzen ermitteln. Ich habe dies nur für das vergangene Jahr 2022 gemacht. Pro Erscheinungstag (Mo-Sa) machten tagtäglich rund fünf Tageszeitungen beim Thema Covid mit einer Schlagzeile auf, mit der vor Gefahren und drohenden Trends gewarnt wurde. Überschrift des Münchner Merkur vom 13. Dezember: "Corona-Hilfen: Rückzahlung droht". Genau dies ist das Muster in zahllosen Berichten.
Nehmen wir die bei Wiso/Genios gespeicherten rund 180 deutschen Tageszeitungen mit ihren Lokalausgaben. Sie publizierten im Laufe der rund 320 Erscheinungstage des Jahres 2022 zum Thema Covid-Pandemie 65.000 Berichte, in denen über drohende Gefahren geschrieben wurde: Dies sind pro Werktag rund 200 Zeitungstexte, die ihre Leserinnen und Leser auf künftige Gefahren einstimmten, die mit Corona verbunden seien.
Der Spitzenreiter ist Welt online: Umgerechnet auf Jahrestage wurden dort alle 24 Stunden knapp zehn solcher Schreckensszenarien veröffentlicht (zum Vergleich: Spiegel online brachte nur ein Fünftel davon). Die meisten Regionalblätter publizierten in ihren Ausgaben zwischen 400 und 500 solcher Droh-Szenarien, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung: in der taz erschienen 426 Texte, in denen drohende Gefahren genannt wurden, in der Börsen-Zeitung waren es 378, in der Welt (Print) sogar 559 Texte.
Natürlich haben die Journalisten diese Angstmacherei nicht frei erfunden; in vielen Texten werden selbst ernannte Kassandren zitiert. Und in vielen anderen Texten steht diese Angstmacherei in wissenschaftlichen Kontexten, wo das Wort "Gefahr" mitunter eine andere Bedeutung besitzt.
Doch dies sind keine überzeugenden Einwände. Schließlich sind es die Medienmacher selbst, die ihre Themen auswählen, die ihre Berichte redigieren und deren Aufmachung festlegen. Die Journalisten beharren ja darauf, die Gatekeeper der Medienöffentlichkeit zu sein, Social Media hin oder her. Also tragen sie die volle Verantwortung für die Öffentlichkeit, die sie herstellen.
Nun ist es zweifelsfrei so, dass Aussagen über drohende Gefahren nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft gelten. Und es ist ja auch so, dass die Menschen vom Schrecklichen mehr fasziniert sind als von der happy ending story.
Für die Faszination, die schlimme Nachrichten in den Social Media erzeugen, gibt es auch schon einen Namen: Doomscrolling, also süchtig nach schlechten Nachrichten, doppelt, wenn sie angekündigt werden: guter Stoff für Hysteriker.
Wie groß dann die Diskrepanz zwischen den Kassandrarufen und dem stattgehabten Geschehen tatsächlich ist, wissen wir heute im Rückblick auf die Corona-Pandemie. Kita- und Schulschließungen, Lockdown und zehn Tage Quarantäne: im Rückblick Maßnahmen, die aus einem Gefühl der Angst und Panik beschlossen wurden und von vielen Experten und Politikern nun für unsinnig erklärt werden.
Hinterher ist man natürlich klüger, und Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass der Newsjournalismus seine Hauptaufgabe vernachlässigt: genau zu berichten und tiefgehend zu recherchieren, was passiert ist. Lassen wir die Kirche im Dorf: Manchmal gelingt dies, wie Anfang Januar die Enthüllungen über den PCR-Testskandal des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn belegen, der offenbar mehrere Milliarden Euro verpulvert und Lobbyarbeit betrieben hat.
Aber solche Investigationen sind leider nur mehr die Ausnahme. Zur Regel geworden ist die journalismusfremde Prophetenrolle: so tun, als könne man in den Sternen lesen. Nicht nur fürs neue Jahr, sondern Woche für Woche. Beispielhaft die dickte Überschrift auf Titelseiten vieler Zeitungen der Funke-Mediengruppe am 3. Januar: "Wir werden 2023 einen Waffenstillstand haben". Endlich mal eine gute Nachricht zum Krieg in der Ukraine? Nee, keine Nachricht, sondern leider wieder nur Kaffeesatz-Geschwätz.
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